Es ist das größte Problem, dem sich Deutschland gegenübersieht. Bis Ende des Jahres werden rund 450.000 Flüchtlinge hierzulande erwartet, 450.000 Menschen, die einen Asylantrag stellen werden. Städte und Gemeinden stöhnen, weil sie nicht wissen, wo sie die leidgeprüften Ausländer unterbringen sollen. Es ist ja nicht nur, aber sicher auch eine Frage des Geldes, darüber hinaus fehlen überall Wohnungen. Da diese nicht in der Eile gebaut werden können, müssen Kasernen herhalten, oder Zeltstädte, Turnhallen. Es werden Task-Force-Gruppen gebildet, um die Arbeit zu koordinieren, das klingt vielleicht gut, aber löst nicht viel, es finden Gipfel statt wie gerade in Stuttgart. Aber auch danach ist man nicht entscheidend schlauer. Die Polizei muss Einrichtungen schützen, weil Rechtsradikale gegen Ausländer hetzen und Brandsätze gegen entsprechende Gebäude werfen. Gleichzeitig, das gehört auch zum deutschen Bild dazu, gibt es eine Welle der Hilfsbereitschaft in der Republik, viele wollen anpacken, andere spenden Geld und Sachwerte.
Die Länder rufen den Bund um Hilfe an, weil ihnen die Mittel fehlen, der Bund winkt ab, weil er angeblich schon genug bezahlt. Innenpolitisch wird das Thema nicht selten ausgeschlachtet, vor allem die CSU und ihr Vorsitzender Seehofer machen Stimmung gegen Ausländer, weil sie angeblich massenhaft das Asylrecht missbrauchen. Tatsächlich kommen Tausende und Abertausende von Flüchtlingen aus den so genannten sicheren Herkunftsländern des Balkan, sie kommen nach Deutschland, weil sie sich hier ein besseres Leben versprechen, für sich und ihre Kinder. Die meisten von ihnen sind arme Teufel, die schon zu Hause nicht viel hatten und denen irgendwer in Albanien oder Serbien erzählt hat, in Deutschland reiche es, einfach Asyl zu rufen und dann werde alles gut. Wird es aber nicht, denn 99 Prozent der Bewerber vom Balkan werden wieder in ihre Heimat abgeschoben. Aber gleichwohl haben sie ein Recht, dass man sie menschlich behandelt und sie haben ein Recht auf Prüfung ihres Asylantrags. Dauer: sieben Monate.
Bemühungen um Einwanderungsgesetz seit Mitte der 90er Jahre
Das Flüchtlings-Problem mag in seinem Ausmaß die handelnden Personen überrascht haben, aber es fiel nicht vom Himmel. Schon vor Jahren hatte man das Thema auf die politische Agenda geholt. Es war die frühere Bundestags-Präsidentin Rita Süssmuth, unter Helmut Kohl ein paar Jahre Familienministerin, die schon 1994 für ein Einwanderungsgesetz mit einer Quote plädiert hatte und die zusätzlich ein neues Staatsbürgerschaftsrecht forderte. Man frage Wolfgang Schäuble, den heutigen Bundesfinanzminister, warum er seine CDU-Parteifreundin Rita Süssmuth damals mit den Worten in die Schranken wies: „Dafür ist in der Unions-Fraktion kein Platz.“
Aber so war das damals. Für den Kanzler Helmut Kohl war Deutschland kein Einwanderungsland. Und das änderte sich über Jahre in der Union nicht. Bemühungen der rot-grünen Regierung unter dem Kanzler Gerhard Schröder, eine doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland einzuführen, den so genannten Doppel-Pass, unterlief die Union 1999, in dem sie den Landtagswahlkampf in Hessen mit diesem Thema derart befeuerte, dass die Menschen zu den Ständen mit Unterschriften-Listen drängten und fragten: „Wo kann man gegen Ausländer unterschreiben?“ Nicht wahr, Roland Koch, der gewann auch mit dieser Kampagne die Hessen-Wahl.
Im Jahre 2000 bildete die Regierung Schröder auf Anregung von Bundesinnenminister Otto Schily eine Kommission „Zuwanderung“ mit den Vorsitzenden Rita Süssmuth und Hans-Jochen Vogel, den früheren Partei- und Fraktionschef der SPD. Der überparteilichen Kommission gehörten 21 Personen aus Industrie und Handwerk, Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker an. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat wesentliche Teile dieser Kommissionsarbeit gerade noch einmal veröffentlicht. Es finden sich alle Vorschläge, über die heute angesichts des Ansturms vieler Flüchtlinge nach Deutschland diskutiert wird. Quotenregelung, Regelung für die Einwanderung von Arbeitskräften, ein Punktesystem mit den nötigen Kriterien wie Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Qualifikation, Deutschkenntnisse, Sonderpunkte für beruflich qualifizierte Ehepartner und für Kinder und vieles andere mehr auch für jugendliche Flüchtlinge, denen man eine Ausbildung verschaffen wollte. Asylverfahren sollten entlastet werden. Bundestag und Bundesrat sollten über die jährliche Einwanderungsquote entscheiden, ein Zuwanderungsrat sollte Empfehlungen geben. Denn, so die Prognose der Kommission, 2010 spätestens würde ein Mangel an qualifizieren Arbeitskräften herrschen.“ Das klingt alles sehr aktuell. Es wurde aber nicht Gesetz, weil die Union einen entsprechenden Gesetzentwurf, von Schily vorgelegt, scheitern ließ.
Union verhinderte 2002 rot-grünes Einwanderungsgesetz
Mancher Fernsehzuschauer wird sich an die merkwürdige Bundesrats-Sitzung noch erinnern. Am 22. März 2002 fand sie statt. Alles hing von Brandenburg ab, das von einer großen Koalition regiert wurde. Ministerpräsident Stolpe (SPD) stimmte für das Gesetz, sein Vertreter von der CDU, Jörg Schönbohm votierte mit Nein. Aber da jedes Land nur eine Stimme hat, wertete Bundesratspräsident Wowereit (SPD, Berlin) das als Zustimmung. Es kam zu einem Eklat. Das Bundesverfassungsgericht entschied Mitte Dezember desselben Jahren, die Stimmen Brandenburgs zählten nicht. Damit war das Gesetz gescheitert. Die Strategie der Union gegen das rot-grüne Gesetz war unter den Unions-Ministerpräsidenten abgestimmt, wie später zugegeben wurde. Es war schlicht und einfach eine Art Sonthofen-Strategie, die nichts anderes im Sinn hatte, als dieses Vorhaben scheitern zu lassen. Die Köpfe dieser Strategie waren Edmund Stoiber, der einstige Strauß-Schüler, und Roland Koch, der Hessen-Regierungschef, der schon die doppelte Staatsbürgerschaft hatte an die Wand fahren lassen.
Damit war ein modernes Einwanderungsgesetz verhindert worden. Aber ob es wirklich nur um die Verhinderung des Gesetzes ging oder darum, Rot-Grün eine Niederlage zu verpassen? Man darf nicht vergessen, dass Stoiber ein paar Monate später der Herausforderer von Gerhard Schröder wurde und nur knapp, sehr knapp unterlag. Man darf auch vermuten, dass Rita Süssmuth, die man einst wegen ihrer Beliebtheit „Lovely Rita“ genannt hatte, für nicht wenige führende Unions-Politiker ein rotes Tuch geworden war. Koch war ein Freund von Helmut Kohl und Kohl hatte mit Süssmuth gebrochen, er hielt sie für eine Verräterin, für Verschwörer wie Späth und Geißler (zitiert nach Heribert Schwan: Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle).
Später, im Juni diesen Jahres, wurde Rita Süssmuth, inzwischen 78 Jahre alt, für ihre unvollendete Arbeit, wenn man so will, nachträglich geehrt. Die Bertelsmann-Stiftung verlieh ihr den Reinhard-Mohn-Preis, der Wegbereiterin einer modernen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Ihr Fazit klingt optimistisch: „Immerhin sind wir vom gequälten Zuwanderungsland zum notwendig offenen Einwanderungsland geworden.“ Nur die Regeln dazu fehlen noch. Nachzulesen in der Kommissions-Arbeit von Süssmuth und Vogel. „Zuwanderung gestalten, Integration fördern.“
Heute hat das Thema die Union erreicht. Ihr Generalsekretär Peter Tauber ist für ein Gesetz, Innenminister Thomas de Maiziere dagegen, die SPD war immer schon dafür. Auch die Kanzlerin Angela Merkel, die sich wie immer gern bedeckt hält, soll Sympathien für eine gesetzliche Regelung hegen. Die große Koalition kann sich auf die Vorarbeit der Kommission (siehe oben) stützen.