Vor 30 Jahren, am 16. Juli 1985, ist Heinrich Böll gestorben. Der Literaturnobelpreisträger war eine moralische Instanz in der bundesrepublikanischen Geschichte, ein Menschenfreund, ein unerbittlicher Kämpfer für Menschenrechte, ein stiller Retter so mancher Dissidenten aus der damaligen „Welt des Bösen“, des Warschauer Pakts. Und vor allem war er ein großer Erzähler, dessen Geschichten und Romane nichts an Aktualität eingebüßt haben, weil sie verlässliche Zeugen sind für das gesellschaftliche Empfinden, für die Empörungen, für jene Lebenswelten, die er uns in 40 Jahren Nachkriegsdeutschland vor Augen geführt hat.
Gerade letzteres wird heute gern vergessen. Der „gute Heinrich“, der Moralist aus dem Rheinland, das ist es, was man ihm zubilligen will. Der, der sich mit der katholischen Kirche angelegt hat, der „Bild“ und Springer angeprangert hat, der als angeblicher RAF-Sympathisant von den konservativen Medien und der politischen Rechten angegiftet wurde, der, der den Aufstand gegen Nachrüstung mobilisiert hat und zu einer Symbolfigur der Friedensbewegung wurde.
Aber Schriftsteller, Dichter, einer, der wegen seines literarischen Werks 1972 den Nobelpreis erhielt? Die Großfürsten der Kritik – Reich-Ranicki allen voran – waren in der Beurteilung von Heinrich Böll immer auf Achter-Bahn-Kurs. Himmelhochjauchzend zwischendrin – und am Ende der Verriss: Dieser Böll hat den Lesern nichts mehr zu sagen.
Ein Riese an sprachlichem Können
Zu sagen hat Heinrich Böll nur denen nichts, die ihn nicht lesen, die die Zuckerbäckerei jüngerer deutscher Literatur zur Richtschnur gemacht haben und für das Maß aller Dinge halten.
Zitiert sei an dieser Stelle, was der damalige „Zeit“-Feuilleton-Ressortleiter Ulrich Greiner bei der Präsentation der Böll-Gesamtausgabe 2010 über das damals zur Mode gewordene Böll-Bashing sagte: „Wer heute Bölls Romane unvoreingenommen liest, der kann das in der literarischen Szene vorherrschende Urteil nur absurd finden – dieses Verdikt, Böll habe es zwar gut gemeint, sei aber formal und sprachlich eher minderbemittelt gewesen. Man muss sich nur vor Augen führen, was in den vergangenen zehn Jahren an deutscher Literatur nicht nur gedruckt, sondern auch gelobt und ausgezeichnet worden ist, um festzustellen, dass dort ein rechtschaffen gradliniges Erzählen vorherrschend ist, ein wackerer, erfahrungsarmer Naturalismus. Verglichen damit ist Böll ein Riese an formalem und sprachlichem Können.“
Wie wahr. Wer noch einmal oder erstmals seine großen Romane von „Billard um halbzehn“ über „Ansichten eines Clowns“, „Gruppenbild mit Dame“, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ bis hin zu „Frauen vor Flusslandschaft“ nachliest, spürt, was er heute an Relevanz, an der Kunst des Erzählens vermisst: Intimes Sezieren der bundesrepublikanischen Gesellschaft, liebevolle, nie hasserfüllte Beschreibung von Charakteren, punktgenaues Ironisieren des vermeintlich Arrivierten. Böll zu lesen macht Freude. Er kritisiert, ohne sich jemals zu erheben, ohne seine Protagonisten zu verteufeln. Auch als Autor bleibt er ein Menschenfreund.
Einsatz für ungezählte Verfolgte
Heinrich Böll war ein großer Deutscher, einer, der sich mit persönlicher Bescheidenheit und öffentlicher Wut um die Gesellschaft verdient gemacht hat. Nicht von ungefähr trafen sich mit Böll, dem Literaturnobelpreisträger von 1972, und Willy Brandt, dem Friedensnobelpreisträger von 1972, zwei Menschen, die sich dem „Mehr Demokratie wagen“ in der Nachkriegsgesellschaft verschrieben haben. Brandt und Böll waren ein literarisch-politisches Gespann, das sich heftigen Attacken einer konservativen Gesellschaft erwehren musste und sich in diesem Kampf – wie die beidseitige Korrespondenz belegt – Mut gemacht hat.
Böll und Brandt waren in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Vordenker, bei denen der eine den „Wandel durch Annäherung“ zum Osten postuliert und der andere diese Annäherung durch unermüdlichen Einsatz für ungezählte Verfolgte in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei gelebt und mit Leben gefüllt hat. Sie waren Gleichgesinnte, die ihre Stimme auch im Kampf gegen das Nord-Süd-Gefälle erhoben.
Nein, Heinrich Böll war und ist mehr als der „gute Heinrich“ – wobei in dieser Charakterisierung immer das Wörtchen „naiv“ mitschwingt. Er war gut, sehr gut sogar. Aber kein „guter Heinrich“, sondern ein unverzichtbarer Aufklärer für Generationen im Nachkriegsdeutschland.
Wie großartig, wie gesellschaftlich wichtig wäre es, wenn es für die Leser von heute noch einmal so einen Heinrich gäbe. Einen, über den Joachim Kaiser, damals hoch angesehener Literaturkritiker der „Süddeutschen Zeitung“, zu dessen Tod geschrieben hat: „Heinrich Böll haben wir geliebt. Um ihn war nicht nur Lauterkeit. Wenn es noch im 20. Jahrhundert Heilige gäbe, dann müssten sie so aussehen wie Heinrich Böll, dessen Tode nun ganz Deutschland und die Welt betrauert.“
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