Dzogaz Mejra ging im Juli vor sechs Jahren einen schweren Gang. Sie beerdigte zwei ihrer drei Söhne, die vor 20 Jahren bei dem Massaker von Srebrenica ums Leben kamen. Mehr als 500 weitere Opfer, die aus Massengräbern geborgen wurden, fanden zur gleichen Zeit dort ihre letzte Ruhe. Wie seither jedes Jahr an diesem Tag. An jedem 11. Juli gehen die Mütter von Srebrenica nach Potocari, um an die furchtbaren Ereignisse von damals zu erinnern, an den größten Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
In der Schutzzone der Vereinten Nationen glaubten die Menschen sich sicher vor den Angriffen der serbischen Armee unter der Führung von Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Doch das niederländische Blauhelmcorps, bei dem Zehntausende Zuflucht suchten, überließ die Verzweifelten ihrem Schicksal.
Bis heute werden die Überreste von weiteren 10 000 Vätern, Söhnen, Brüdern und Ehemännern in den ungezählten und teils wohl noch unentdeckten Massengräbern der umliegenden Wälder gesucht, und bis heute ist die Identität tausender Toter ungeklärt.
Die Frauen von Srebrenica haben jahrelang mit den Behörden der Republica Srpska (RS), des serbischen Teilstaats in Bosnien-Herzegowina, um diesen Friedhof gekämpft. Sie wollten ihrer Toten dort gedenken, wo sie sie damals verloren. Die Armee der bosnischen Serben trennte alle Männer im wehrfähigen Alter, aber auch Greise und Kleinkinder von ihren Familien und schaffte sie fort.
Die Ungewissheit über das Schicksal der Deportierten lastete schwer auf den Frauen, die aus Srebrenica vertrieben wurden. Viele strandeten in Tuzla und gründeten dort Selbsthilfe-Initiativen. „Wahrheit und Gerechtigkeit” sind ihre zentralen Anliegen bis heute. Sie wollen, dass die Gräber gefunden, die Toten identifiziert und die Täter bestraft werden. Über die Vergewaltigungen, die sie erlitten haben, über die schweren seelischen Erkrankungen und die vielen Selbstmorde von Frauen sprechen sie wenig.
Die Toten erhalten ihren Namen zurück
In Hochregalen lagern tausende Leichensäcke, gefüllt mit Knochen, von denen niemand weiß, zu wem sie einmal gehörten. Die Internationale Kommission für vermisste Personen (ICMP) in Bosnien erforscht ihre Herkunft. Moderne DNA-Analysen dienen der Identifizierung. Das in Bosnien nach dem Krieg entwickelte Verfahren wird inzwischen weltweit eingesetzt, um Toten ihren Namen wiederzugeben, auch bei Katastrophen wie dem Tsunami und dem Hurrikan Katrina. „Die Angehörigen wollen Gewissheit haben, sie wollen ihre Toten begraben und endlich um sie trauern können”, sagt Cheryl Katzmarzyk, die in Lukavac das „Reassociation Center” der ICMP leitet. Ihre Aufgabe ist es, aus einzelnen Knochen – Schenkeln, Armen, Rippen, Kiefern, Schädeln – menschliche Skelette zusammenzufügen.
Angehörige geben ihre Blutproben ab
Während des Bosnien-Krieges von 1992 bis 1995 verscharrte die bosnisch-serbische Armee ihre Opfer in Massengräbern. Aus Angst vor Entdeckung hoben die Täter viele der Gräber selbst wieder aus und schafften die menschlichen Überreste an andere Orte. „Wir haben primäre, sekundäre und sogar tertiäre Massengräber”, erläutert die Wissenschaftlerin. Teile eines einzigen Skeletts können von vier oder fünf verschiedenen Fundstellen stammen. Die Arbeit in Lukavac ist eine Art Puzzle, das der Vorbereitung der DNA-Analysen dient.
Kleidungsstücke, die in den Gräbern gefunden wurden, reichten für eine sichere Feststellung der Identität nicht aus. Nach der langen Belagerung trugen viele der Opfer Jacken, Hosen und Schuhe aus internationalen Spenden, die in großer Zahl identische Textilien lieferten; mehrere Mütter erkannten oft ein und das gleiche Fundstuck als das wieder, das ihr vermisster Sohn getragen hatte.
Über 28 000 Vermisste
Die DNA-Untersuchung ermöglicht größere Gewissheit. Eltern und Geschwister, die sich auf der Suche nach einem Vermissten an die ICMP in Sarajevo wenden, geben dort ihre Blutprobe ab. Aus dem Gebiet des früheren Jugoslawien sowie aus dem europäischen Ausland, in das viele Menschen während der Kriegsjahre flüchteten, liegen den Labors 87 106 Blutproben vor, die 28 772 Vermisste betreffen. Sie werden mit den 29 403 DNA-Profilen abgeglichen, die aus den Knochen gewonnen wurden.
Stimmen die Erbgutuntersuchungen der Knochen zu mindestens 99,95 Prozent mit den DNA-Profilen der Blutproben überein, meldet die Kommission den Angehörigen die erfolgreiche Identifizierung. Erst dann erhalten die Hinterbliebenen einen Totenschein und können Rentenzahlungen beantragen.
580 Waisen in Srebrenica
Advija Ibrahimovic, die elf Jahre alt war, als sie im Krieg nach der Mutter auch ihren Vater verlor, erhielt auf diese Weise die Bestätigung vom Tod ihres Vaters. „Man hat seine Arme und seinen Brustkorb gefunden”, erzählt sie, die eine der 580 Waisen von Srebrenica ist. Um ihre Ausbildung sorgt sich eine Stiftung, die sich auch um die 6010 Kinder kümmerte, die in Srebrenica zu Halbwaisen wurden.
Viele Angehörige warten auf weitere Funde, ehe sie sich zur Beisetzung entschließen. „Wir schließen einen Fall nicht, solange noch Knochen fehlen”, sagt die Sprecherin der ICPM. Seit Beginn der Arbeit im Jahr 2000 hat die Kommission von den mehr als 28 000 Vermissten nahezu die Hälfte ermittelt. Wann die Arbeit beendet sein wird? „Das kann niemand sagen. Da gibt es keine Erfahrung, und wir erhalten von Flüchtlingen, die in den Ferien aus dem Ausland kommen, immer noch neue Vermisstenmeldungen.”
Die Wunden des Bosnien-Krieges schmerzen noch. 20 Jahre nach dem Dayton-Abkommen gilt die bittere Erkenntnis: Frieden braucht mehr als die Abwesenheit von Krieg. Die blutige Vergangenheit liegt noch nah für die Menschen in Bosnien-Herzegowina. Opfer und Täter begegnen einander im Alltag, auf der Straße, beim Einkaufen. „Verzeihen kann ich nicht, das werde ich nie können”, sagt eine der Mütter von Srebrenica, die vor 20 Jahren ihren Mann verlor. „Aber ich will auch nicht ein Leben lang hassen.”
In Bosnien-Herzegowina leben die drei Volksgruppen, die sich in den Balkankriegen erbittert bekämpften, unter einem Dach. Serben, Kroaten und Bosniaken suchen, wenn alles gut geht, eine gemeinsame Zukunft. Ihre Vergangenheit verdrängen sie.
Tunnel-Museum als Mahnmal
Verlassene Wohnhäuser, Einschusslöcher in Fassaden, Schilder, die vor Minen warnen: Vielerorts in Sarajevo und Umgebung begegnen einem Hinweise auf den Krieg, der vor 20 Jahren mit dem Abkommen von Dayton beendet wurde. Die Spuren werden nach und nach beseitigt. Die Opfer kämpfen um Gedenkstätten wie die für das Massaker von Srebrenica; vereinzelt erinnern Mahntafeln an die Schrecken. Das „Tunnel-Museum“ in Sarajevo entstand in privater Initiative.
Ein enger, 800 Meter langer Tunnel stellte während der mehr als dreijährigen serbischen Belagerung der bosnischen Hauptstadt die einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Heute erinnert ein kleines Museum an das Bauwerk, das 300 000 Menschen in Sarajevo das Überleben sicherte.
Edis Kolar ist mit Eifer bei der Sache, wenn Touristen sein Elternhaus besuchen. Die Hauswände von Einschusslöchern übersät, ein Holzverschlag vor dem Eingang, dahinter führt eine kleine Treppe in den Ausstellungsraum. Hier, wo Edis seine Kindheit verbracht hat, betreibt er heute das „Tunnel-Museum” – „ein Mahnmal dafür, dass das, was wir erlebt haben, nie wieder passiert”.
Die Grabung begann im Januar 1993. Von zwei Seiten her, von Butmir und Dobrinja, arbeiteten die Männer mit Schaufel und Spitzhacke unter der Erde einander entgegen, erst drei bis vier Stunden täglich, später in drei Schichten rund um die Uhr. Stolz berichtet Edis Kolar von dem Tag des Durchbruchs, von der Präzision des Treffens; bis heute überwältigt ihn die Freude über die Lebensader, die der Tunnel für seine hungernde Stadt bedeutete. Nahrungsmittel, Medikamente, jede Menge Waffen und Munition: „Alles, was passte, kam durch den Tunnel herein”. In der ersten Nacht wurden zwölf Tonnen militärischer Güter in die Stadt befördert.
Durchschnittlich einen Meter breit und 1,50 Meter hoch, ließ der Tunnel eine aufrechte Haltung nicht zu. Soldaten und Freiwillige, darunter viele Kinder, trugen auf dem Rücken oder mit bloßen Händen durch die Dunkelheit, was in Sarajevo ersehnt wurde. Sie verlegten Schienen und fertigten kleine Karren, die je 300 Kilogramm Lasten befördern konnten. Eine Pipeline ermöglichte den Transport von Treibstoff; für das zwölf Megawatt Starkstromkabel dankt Edis Kolar noch heute der deutschen Regierung.
4000 Menschen nutzten nach seiner Schilderung den Tunnel täglich. Zweimal trafen Granaten wartende Zivilisten am Tunneleingang. Ohne den Tunnel, davon ist Kolar überzeugt, wäre Sarajevo untergegangen. „Er bewahrte die Stadt vor der kompletten Belagerung durch die Serben. Er rettete 300 000 Menschen vor den serbischen Todeslagern.”
Bildquelle: Wikipedia, Emir Kotromanić, CC BY-SA 3.0