Mag sein, dass Uwe Karsten Heye für dramatische Familienschicksale im letzten Jahrhundert besonders sensibilisiert ist, weil er diese Dramatik in der eigenen Familie erlebt und in der Erzählung „Vom Glück nur ein Schatten“ mit großem Erfolg beschrieben hat. Diese Beschäftigung und das Glück, den Blick in viele unveröffentlichte Dokumente werfen zu dürfen, mögen ihn animiert haben, die Geschichte der Familie Benjamin zu erzählen. Das ist ein Verdienst, weil Heye damit den Blick frei gibt über den großen und bekannten Philosophen Walter Benjamin hinaus zu seiner Familie und die Geschichte nicht enden lässt mit dem Selbstmord Walters auf der Flucht vor den Nazis 1940 im spanischen Grenzort Portbou. Vielmehr bleibt Heye der Familiengeschichte bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts, bis ins vereinte Deutschland auf der Spur.
Den längsten Blick wirft er dabei auf Hilde Benjamin, die in den 20er Jahren den sozial engagierten kommunistischen Arzt Georg Benjamin heiratete und sich als Juristin mit ihm politisch engagierte. Georg kam 1942 im Lager Mauthausen ums Leben: ob er von KZ-Schergen in einen Starkstromzaun getrieben wurde oder ob er sich verzweifelt darin selbst umbrachte, ist ungeklärt.
Sicher aber waren es die Erfahrungen mit der Grausamkeit, der Menschenverachtung, der Ausrottung durch die Nazis, die Hilde Benjamin als DDR-Justizministerin die juristische Aufarbeitung der Nazizeit forcieren ließen – weit konsequenter und frühzeitiger als in der Bundesrepublik, in der der erste Prozess gegen Auschwitz-Täter bis zu den 60er Jahren auf sich warten ließ. Dass sie dabei für viele DDR-Bürger als „rote Hilde“ zum Schrecken, für das Establishment der Bundesrepublik zur Hassfigur wurde, ist nach Heye auch dieser Konsequenz geschuldet.
Uwe Karsten Heye entwickelt, nicht kühl berichtend, sondern teilweise einfühlsam, emotional erzählend, wie sich die Benjamins aus einem behütet, eher unpolitischem Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfernen, sich der sozialen Herausforderungen des Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg annehmen, die „Wut des entrechteten Proletariats verstehen“ lernen und später eben wegen ihrer Abkehr vom Bürgertum zum Kommunismus hin Opfer und Verfolgte des Hitlerregimes werden.
Nicht immer mag man den Einschätzungen des Autors folgen, aber es ist ein großes Verdienst, dass er die Dramatik, die Brüche dieser Familie Benjamin aufgezeigt hat. Es ist die Geschichte einer deutschen Familie, die sich nach dem Krieg eben nicht im Westen, sondern im anderen Teil Deutschlands vollendete. Sicherlich keine Sonderheit, aber eine, für die in der westdeutschen Erzählung der Nachkriegszeit kein Platz war, weil die Bundesrepublik der Ort sein musste, an dem sich das Schicksal zum Besseren wenden durfte.
Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins: Eine deutsche Familie. Aufbau Verlag, 361 Seiten, 22.99 €