Weltweit sind mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Ihr Ziel ist leben. Sie fliehen vor Gewalt und Verfolgung, Elend und Perspektivlosigkeit. Sie verlassen ihre Heimat, ihre Angehörigen, ihre vertraute Umgebung und lassen alles zurück auf dem Weg in die Ungewissheit. Wie viel Verzweiflung muss da sein, aber auch wie viel Mut und Hoffnung.
Die Vereinten Nationen begehen den 20. Juni als internationalen Gedenktag für Flüchtlinge, um auf deren Schicksal hinzuweisen. „Überall auf der Welt fliehen Familien vor Gewalt. Die Zahlen sind gewaltig, aber wir dürfen nicht vergessen, dass diese Menschen Mütter und Väter, Töchter und Söhne sind, Menschen wie Du und ich – bevor der Krieg sie zur Flucht gezwungen hat“, sagt Flüchtlingshochkommissar António Guterres. „Am Weltflüchtlingstag sollten sich alle daran erinnern, was uns verbindet: unsere gemeinsame Menschlichkeit.“
Menschlichkeit mahnt auch der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen an. Kofi Annan rief auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart zu einer humanen Flüchtlingspolitik auf. Die Zuwanderungsfrage sei nicht einfach mit höheren Zäunen oder einer Politik der Abschottung zu beantworten, sagte der Friedensnobelpreisträger. Er lobte Deutschlands bisherige Bereitschaft, Migranten aufzunehmen, die vor Gewalt und Armut geflohen seien, und sagte: „Ich bitte Sie dringend, diesen Weg der Menschlichkeit weiterzugehen.“
Prädikat „Menschlichkeit“ als zynisch
Die Wortwahl lässt aufhorchen. In der Flüchtlingsarbeit in Deutschland engagierte Gruppen empfinden das Prädikat „Menschlichkeit“ als zynisch. Die rigorose Abschiebepraxis, die Zustände in den Abschiebehaftanstalten, die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, die Kettenduldungen, die Schutzlosigkeit von so genannten Illegalen, die langwierigen Asylverfahren, die leichtfertige Definition sicherer Drittstaaten, Beschäftigungsverbote und Zugangshürden vor Sprachkursen zeichnen ein Bild der Abwehr. Wenn Kofi Annan dennoch von Humanität spricht, kann das aus seiner Sicht nur bedeuten, dass es andernorts noch schlimmer zugeht.
Das Klima in Deutschland ist noch immer feindselig. Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind an der Tagesordnung, Rechtsextremisten schüren den Fremdenhass, Populisten treiben ihr Unwesen mit den Ängsten der Bevölkerung. Doch das Klima wandelt sich. Der demografische Wandel verändert den Blick. Neuzugänge werden auch als Chance betrachtet. Gemeinsam setzen sich die
evangelischen Kirchen in NRW und die Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen dafür ein, dass Asylsuchende und geduldete Ausländer einen schnellen und effektiven Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen.
Wirtschaftliche Sicherheit sei für die soziale Integration und die jeweils eigene Lebensplanung unabdingbar, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Überdies würde damit nicht nur einer Stigmatisierung vorgebeugt, sondern auch die Sozialkassen würden spürbar entlastet. Geduldete Personen sollen ab dem Zeitpunkt ihrer Duldung eine Arbeitserlaubnis erhalten, jüngere und minderjährige Flüchtlinge einen besseren Zugang zu Bildung und Ausbildung in Deutschland, die so genannte Vorrangprüfung bei Asylsuchenden und Geduldeten solle entfallen.
Initiativen in den Städten nehmen zu
In den Städten bilden sich immer mehr Initiativen zur Förderung der Integration, gründen Patenprojekte und Runde Tische, um praktische Hilfestellung zu geben und das Ankommen zu erleichtern. Wo sich die Kommunen an der Grenze ihrer Möglichkeiten sehen und finanziell hoffnungslos überfordert fühlen, setzt die Zivilgesellschaft tatsächlich ein Signal der Menschlichkeit.
Das Schicksal der Ertrinkenden im Mittelmeer hat zu viele über Jahre kalt gelassen, jetzt rüttelt es die Menschen auf. Die Europäische Union hat sich nach und nach zu einer Festung entwickelt und unternimmt größte Anstrengungen zur Abschottung ihres Territoriums. Grenzsoldaten überwachen die Außengrenzen rund um die Uhr. Mit Hubschraubern und Schnellbooten, Radartürmen, Nachtsichtgeräten und Wärmebildkameras spüren sie illegale Grenzgänger auf und wehren sie ab. Daraus schlagen professionelle Fluchthelfer Profit. Flüchtlinge begeben sich in die Hände von „Schleppern“ und damit auch in höchste Lebensgefahr. Jährlich sterben vor den Toren Europas tausende Männer, Frauen und Kinder. Sie erfrieren beim Versuch, Grenzflüsse zu durchschwimmen, kommen im griechisch-türkischen Minenfeld um, ersticken im Lkw-Container oder ertrinken im Mittelmeer.
Glockenschläge zum Gedenken an ertrunkene Flüchtlinge
Im Erzbistum Köln sollen am Vorabend des Weltflüchtlingstags die Totenglocken läuten. 230 Kirchen werden die Glocken je hundertmal schlagen, kündigte der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki an, und so der rund 23.000 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge gedenken.
Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, hat für Flüchtlinge legale Reisewege von Afrika nach Europa gefordert. „Mit Hilfe zeitlich begrenzt gültiger Reisedokumente muss für die Asylsuchenden eine legale Überfahrt in Sicherheit gewährleistet werden“, sagte die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen vor Journalisten in Dortmund. Nur durch solche humanitären Korridore, nicht aber durch militärische Aktionen könne Schleppern und Menschenhändlern ihr kriminelles Handwerk gelegt werden. Eine „Politik der unterlassenen Hilfeleistung“ dürfe es nicht mehr geben. Zu lange hätten die Verantwortlichen in den EU-Staaten auf die abschreckende Wirkung der tödlichen Gefahr einer Fahrt über das Meer gesetzt. Aber „weniger Rettungsmaßnahmen haben nicht weniger Flüchtlinge zur Folge, sondern mehr Tote. Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden.“
Die Präses begrüßte das Ziel der Europäischen Kommission, Flüchtlinge in den europäischen Staaten nach Maßstäben wie Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft zu verteilen. Noch besser wäre es nach ihrer Überzeugung allerdings, die Flüchtlinge selbst entscheiden zu lassen, in welchem Land sie Zuflucht suchen. Die aufnehmenden Länder müssten dann ihre Kosten von den anderen ersetzt bekommen: „Denn es ist besser, Geld hin- und herzuschicken als Menschen.“
Gabriel fordert humanitäre Visa
Für ein grundlegendes Umdenken in der Flüchtlingspolitik spricht sich inzwischen auch die SPD aus. Ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel erklärte auf einer Konferenz seiner Partei in Berlin, man brauche mehr legale Einreisewege für Asylbewerber. Dazu gehörten auch humanitäre Visa für Menschen in Konfliktregionen.
Die Flüchtlinge, die nach Europa gelangen, stellen gemessen an der weltweiten Not nur einen Bruchteil der Gesamtproblematik dar. Die weitaus meisten Menschen, die vor Verfolgung, Folter, Vergewaltigung, Krieg und Bürgerkrieg, drohender Todesstrafe oder Zerstörung der Existenzgrundlage fliehen, suchen möglichst nahe Orte der Zuflucht. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) berichtet, von den über 50 Millionen Flüchtlingen weltweit seien mehr als 34 Millionen innerhalb ihres Landes auf der Flucht. Neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern. Jeder zweite Flüchtling ist ein Kind.
Zumeist sind gewaltsame Konflikte wie aktuell im Kongo, im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik die Ursache. Allein der Krieg in Syrien hat laut UNHCR innerhalb kürzester Zeit 2,5 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten gezwungen und 6,5 Millionen Menschen im Land selbst vertrieben. „Wir sehen hier die enormen Kosten nicht enden wollender Kriege sowie fehlgeschlagener Bemühungen, Konflikte zu lösen oder zu verhindern“, beklagt UN-Flüchtlingskommissar António Guterres und fordert: „Die internationale Staatengemeinschaft muss ihre Differenzen ausräumen und Lösungen finden für die Konflikte der Gegenwart.“
Ein Blick auf die Asylbewerberzahlen verdeutlicht den Zusammenhang: 2014 wurden nach Schätzungen des UNHCR 866.000 Erstasylanträge gestellt. Dies bedeutet eine Steigerung von 45 Prozent gegenüber 2013, als 596.000 Anträge gezählt wurden. Die weitaus meisten Asylbewerber kommen aus Syrien, Irak und Afghanistan. In Deutschland wurden 173.000 Asylanträge gestellt, ein Viertel davon von Syrern. In der Türkei kamen die meisten der 87.800 Asylanträge von Irakern. Außerdem waren dort Ende 2014 über 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge registriert. In Schweden suchten 75.100 Menschen überwiegend aus Syrien und Eritrea Asyl, in Italien ebensoviele zumeist aus Mali, Nigeria und Gambia. In den USA beantragten 121.000 Menschen Asyl, in Russland rund 265.400. Zugleich stieg die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die in einem der 44 Industriestaaten Asylanträge stellten von 1400 im Jahr 2013 auf 15.700 im vergangenen Jahr.
Bildquelle: UNHCR/J. Björgvinsson
Ja, die Politik sollte ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen überdenken.
Seit einigen Wochen gebe ich im Rahmen einer privaten Initiative Deutschunterricht für Flüchtlinge aus 4 verschiedenen Ländern. Für alle diese Länder hat das Auswärtige Amt Reisewarnungen veröffentlicht.
Diese Menschen suchen einfach einen Ort des Friedens und wollen arbeiten. Das aber ist ihnen erst mal verwehrt. Viele erklären, sie würden es auch ohne Gehalt tun, nur um etwas zu tun zu haben und ihrem „Gastgeber“ etwas zurückgeben zu können.
Vielleicht sollte die Politik über gemeinnützige Projekte nachdenken, die Freiwilligenarbeit von Flüchtlingen aus Gebieten mit offiziellen Reisewarnungen erlaubt.