Nun ist also endgültig klar: Sie wusste, dass es kein No-Spy-Abkommen geben wird, wie sich den Akten des Kanzleramtes entnehmen lässt. Ihre Ankündigung des Gegenteils war also die Unwahrheit. Es geht um Angela Merkel. „Unwahrheit“ ist eine Umschreibung des Begriffs „Lüge“. Die Pfarrerstochter aus Templin versucht, ihren damaligen Kanzleramtsminister und den Regierungssprecher und natürlich sich selbst mit der Wendung freizusprechen, alle drei hätten jeweils „nach bestem Wissen und Gewissen“ gesprochen – das ist in der Politik seit Macchiavelli ein Gewohnheitsrecht: die Lüge als politisches Gestaltungselement. Ob das reicht den Teflonhosenanzug von „Äinschi“ zu beflecken, bleibt abzuwarten, ist aber unwahrscheinlich. Immerhin, in manchem Kommentar klingt denn doch ein, wenn auch vorsichtig formulierter kritischer Unterton durch. Der Vorrat an Entschuldigungen für eine Kanzlerin, die davon lebt, dass die Kommentatoren nicht müde werden, ihren Machterhaltungstrieb als ihr eigentliches, herausragendes charakterliches Merkmal zu loben, könnte zu Ende gehen.
Lange genug wurde die Abwesenheit anderer Eigenschaften, die einen Standpunkt markieren, zu einer politischen Kunstfertigkeit stilisiert, die zugleich erklären sollte, warum sie in den Umfragen unangefochten an der Spitze der Beliebtheitsskala zu finden ist. Bei Frau Merkel ist allerdings eine Bereitschaft, gesellschaftliche Widersprüche aufzuspüren und Lösungen anzubieten, die mutmaßlich kontrovers aufgenommen würden, noch nie erkennbar gewesen. Ich wage die Diagnose, dass dies mit dazu geführt hat, dass die politischen Parteien an Vertrauen eingebüßt haben. Die Verweigerung der Wähler, dem Partizipationsversprechen des demokratisch verfassten Staates zu vertrauen, wurde zu einer Massenbewegung: Bei den letzten Landtagswahlen – wie jetzt in Bremen – ging die Hälfte der Wählerschaft erst gar nicht zur Wahl. In Thüringen lag die Wahlbeteiligung bei 47,3 Prozent.
Verlässlichkeit in der Debatte ist die Ausnahme
Das Publikum kümmert sich offenbar kaum noch darum, was die da auf der politischen Bühne gerade aufführen, zumal Verlässlichkeit in den politischen Debatten die Ausnahme ist. Das galt und gilt für die von der Kanzlerin ausgerufene „Bildungsrepublik“, die, vor Jahr und Tag angekündigt, bisher ohne Folgen blieb; ebenso für die „Deutsche Scham“, die sie anlässlich der Trauerfeier für die zehn Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) vom Blatt ablas und in der sie unnachsichtige Aufklärung versprach. Eine Entschuldigung derer, die jahrelang als Ermittler die Familien der Opfer drangsalierten, unter denen sie die Täter vermuteten, ist bis heute ausgeblieben. Als Stichwortgeberin für Pegida und dem kleinbürgerlichen Egoismus der rechtspopulistischen Wutbürger hatte sie erklärt: „Keinen Cent für Griechenland!“ – und lässt sich seither an der Spitze des Pelotons des neuen Nationalismus in Europa feiern. Sie macht das Tempo. Dringlicher wäre für Südeuropa allerdings ein Zeichen der Solidarität in einer Zeit, in der die internationalen Finanzmärkte die Schuld an der weltweiten Finanzkrise erfolgreich den „überschuldeten Budgets“ der EU-Mitgliedsländer zugeschrieben und damit an die politische Klasse abgegeben haben.
Die Überschuldung der Haushalte hat aber bekanntlich vor allem damit zu tun, dass die Bankenrettung mehrere hundert Milliarden Euro an Steuergeldern verschlang – das wird geflissentlich unterschlagen. Eigentlich auch ein beredtes Zeichen dafür, wer über wirkliche gesellschaftliche Macht verfügt. Es sind vor allem die zehn Prozent Superreichen, die allein in Deutschland über 60 Prozent des gemeinsam erarbeiten Reichtums und Vermögens verfügen. Die gesellschaftliche Spaltung geht immer tiefer, und keiner redet darüber. Dafür posaunen alle Medien und jubeln gemeinsam über eine sinkende Arbeitslosigkeit in Deutschland, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass Deutschland an der Spitze der Industrieländer mit dem größten Mindestlohnsektors steht. Drei Jobs, um das eigene Leben zu finanzieren: Das ist keine Ausnahme, jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf.
Die Liste politischer Versäumnisse ist lang. Sie könnte ohne Probleme mit den Stichworten Transatlantisches Handelsabkommen, Flüchtlingselend und Massengrab Mittelmeer und beflissene Hilfe bei der Ausspähung deutscher Unternehmen, französischer oder Brüsseler Politiker für die USA durch den BND erweitert werden. Ist es da verwunderlich, dass jeder in Misskredit gerät, der dabei als Helfershelfer ertappt wird? Die schlechtesten Wahlergebnisse fahren jene ein, die als Mittäter in Haftung genommen werden. Einmal traf es die große Koalition, mit dem schlechtesten Wahlergebnis für die SPD als Folge, dann Schwarz-Gelb und die FDP, und erneut die SPD in der großen Koalition, die wieder und weiterhin im 25-Prozet-Getto dümpelt. Die Grünen sollten sich es drei Mal überlegen, ob sie sich da einreihen wollen.
„No Spy“: Wenn nicht alles täuscht, ist bei den Sozialdemokraten der Mut, diese Lüge der Kanzlerin aufzuklären und aus der Welt zu räumen, schon wieder verflogen. Die Kanzlerin kann durchatmen.
Bildquelle: Wikipedia, Pixelfehler – Eigenes Werk, Angela Merkel nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig , CC BY-SA 3.0