1. Lesen, verstehen, schreiben
Als ich mich im Herbst des vorigen Jahres auf die Moderation einer Veranstaltung zu Anton Tschechows Erzählungen vorbereitete, bekam ich einen Hinweis auf George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen.[1] Der Band enthält sieben Erzählungen russischer Erzähler, drei von Tschechow, zwei von Tolstoi und je eine von Turgenjew und Gogol sowie Saunders Analysen unter den drei im Untertitel des Buches genannten Aspekten. Allein die sieben Erzählungen wären bereits den Preis des umfangreichen Taschenbuches wert. Hinzu kommen die unterhaltsamen und für interessierte Laien gut lesbaren Erörterungen. Saunders äußerst sich nicht als Literaturwissenschaftler, sondern als einer, der selbst schreibt, als Praktiker.
Saunders ist studierter Ingenieur und US-amerikanischer Erzähler, dessen Erzählungen auch in Deutschland fast vollständig übersetzt vorliegen. 2017 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht: Lincoln im Bardo. Außerdem unterrichtet er Kreatives Schreiben an der Syracuse University im Staat New York. Wer jetzt abwinkt, weil er oder sie sich selbst nicht als Autor bzw. Autorin sieht, wird von Saunders auf die „konkrete Verbindung“ zwischen Schreiben und Lesen hingewiesen. Die Konstruktionsregeln einer gelungenen Erzählung bilden zugleich jene Elemente im Text, an denen entlang sich ein verstehendes Lesen zum Verständnis des Gesamttextes entwickeln kann. Daher wendet sich dieser Band nicht nur an künftige Autoren und Autorinnen, sondern an Leserinnen und Leser ästhetischer Literatur und dabei natürlich besonders an Liebhaberinnen und Liebhaber der russischen Erzählprosa.
Die russischen Erzählungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat Saunders deshalb als Gegenstand gewählt, an denen er gutes Schreiben (und Verstehen) lehren will, weil sie für ihn zur „Hochphase des Genres“ zählen, „einfach, klar, elementar“ geschrieben sind und dabei die „Physik“ und die „Grundprinzipien“ einer Erzählung sichtbar werden lassen. Einen weiteren Grund nennt er später und eher beiläufig. Im Blick auf die Tolstoi-Erzählung, um die es im Folgenden geht, spricht er von der strikten Faktenorientierung dieser Erzählweise (zu den Fakten gehören natürlich auch die erzählten Gedanken und Gefühle der Figuren). Damit meint er vor allem, dass sich der Autor aus der Erzählung „heraushält“, dass er das Erzählte nicht kommentiert. Da Saunders bewusst Rückbezüge auf literaturwissenschaftliche Sekundärliteratur vermeidet, erlaube ich mir ausnahmsweise an seiner Stelle einen Hinweis. Seine Auffassung von einer guten Erzählung korrespondiert mit der Walter Benjamins, für den sich eine ideale Erzählung, im Unterschied zu „Informationen“ in den Massenmedien, weitgehend von Erklärungen freihält. Sie stellt mehr Fragen, als dass sie Antworten gibt. Nicht zufällig unterbreitet Benjamin diese Ansicht u.a. in einem Essay über den russischen Erzähler Nikolai Lesskow.[2]
Zu den Vorzügen der Saunders’schen Lektionen gehören nicht nur die Klarheit und Einfachheit seiner Sprache, sondern die Beschränkung auf wenige Grundprinzipien. Während sechs der sieben dokumentierten Erzählungen als zusammenhängender Text präsentiert werden, zerteilt er die erste Erzählung des Bandes in Abschnitte, denen sich seine Erläuterungen anschließen. Damit will er ein wesentliches Grundprinzip des Schreibens klar machen: Für ihn ist entscheidend, mit welchen Mitteln ein Autor Erwartungen aufbaut, die die Leser in die Geschichte hineinziehen und sie „bei der Stange“ halten. Auf der Seite der Rezeption entspricht dem die Lesestrategie, Fragen an den Text zu stellen, den bisherigen Stand der Lektüre zusammenzufassen und Vorhersagen über den weiteren Verlauf einer Erzählung zu treffen. Beim Prinzip des Erwartungsaufbaus unterscheidet Saunders folgende Aspekte: Die Elemente einer Erzählung müssen in einem sinnvollen Zusammenhang stehen („Kausalität“). Elemente, die dem nicht dienen, sind überflüssig. Banalitäten, Versteckspiele, die die Leser an der Nase herumführen, oder „Lösungen“, die mit dem bisherigen Erzählverlauf nicht vereinbar sind, müssen vermieden werden. Saunders nennt das die Regel der kontinuierlichen Steigerung oder der Reihung abgestufter Impulse. Sie betrifft einmal die Darstellung der einzelnen Figuren, die im Laufe einer Erzählung eine zunehmende Konkretisierung und Spezifizierungen in Richtung auf komplexe Charaktere erfahren sollten, und sie betrifft die Konstruktion von Erzählpassagen und der gesamten Erzählung. Dabei bezieht sich Saunders so traditionell wie populär auf das Grundschema des dramatischen Spannungsaufbaus: von der Klärung der Voraussetzungen einer Handlung („Exposition“) über eine zunehmende Steigerung zum Höhepunkt des Konflikts, schließlich über die abfallende Handlung zur Lösung. Hinzu kommt die Technik der Konstruktion von Kontrasten.
Nur nebenbei sei angemerkt, dass diese Beschränkung auf relativ wenige „Grundprinzipien“ der literarischen Produktion und Rezeption nicht nur dem Anspruch auf Popularität geschuldet ist, sondern durchaus in der US-amerikanischen Didaktik des Leseverstehens verankert ist. So legte ein Projekt des kalifornischen Schulforschungs- und Entwicklungsinstituts WestEd den Fokus auf nur vier „Werkzeuge“ verstehenden Lesens: Vorhersagen des Textinhaltes, Fragen an den Text stellen, Zusammenfassen von Textabschnitten und des Gesamttextes und die fortlaufende Klärung von jeweils verbliebenen Unklarheiten. Hinzu kommt die Mobilisierung des vorhandenen Vorwissens.[3] Die Bewusstmachung dieser Momente des Verstehensprozesses vollzieht sich in der Kommunikation mit anderen, durch „Lautes Denken“ in einer Gruppe.
2. Der Herr Wasilij und sein Knecht Nikita
Im vierten Kapitel des Buches von Saunders geht es um Tolstois Erzählung Herr und Knecht aus dem Jahr 1895. Sie ist die längste der im Buch abgedruckten Erzählungen. Es ist die Erzählung von einer mehrfachen Irrfahrt, vor allem aber eine der inneren Umkehr, der Verwandlung. Es ist eine Saulus-Paulus-Geschichte mit tödlichem Ausgang.
Die erzählte Zeit gibt Tolstoi mit dem 70er Jahren des 19. Jahrhunderts an, sie liegt also nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im zaristischen Russland. Aus dem Gesinde sind freie Lohnarbeiter geworden. Trotzdem können die Herren Verhaltensweisen des Feudalismus weiterhin praktizieren, solange die Knechte keine realen Aussichten haben, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Geschichte beginnt an einem Feiertag, der sich an den Tag des St. Nikolaus anschließt. Es liegt Schnee, es ist windig, man muss mit Schneestürmen rechnen. Trotzdem will der Herr Wasilij Andrejitsch Brechunow auf einem Pferdeschlitten zu einem Gutsbesitzer in dem nahe gelegenen Dorf Gorjatschkino fahren, um ihm einen kleinen Wald abzukaufen. Auf Drängen seiner Frau nimmt er seinen Knecht Nikita als Begleiter mit. Der kann mit dem Pferd, das er einspannen lässt, umgehen. Er behandelt Tiere mit Sorgfalt, fast mit Achtung.
Wasilij ist ein Kaufmann der zweiten Gilde, d.h.er betreibt zwar keinen internationalen Handel, unterscheidet sich aber deutlich von einem Kleinbürger. Er hat zwei Güter gepachtet und besitzt einen Laden, zwei Trinkstuben, eine Mühle und eine Getreidehandlung. Seine „gesamten Geisteskräfte“ widmet er der Vermehrung seines Eigentums, darum will er unbedingt konkurrierenden Holzhändlern beim Erwerb des Waldes zuvorkommen. Er sieht sich als fleißigen, unermüdlichen Geschäftsmann, einen großen Teil seiner Klassengenossen, vor allem aber die Unteren, die Bauern und Tagelöhner, hält er dagegen für Faulenzer, Tagediebe und Dummköpfe. Unaufhörlich rechnet er den Gewinn durch, den ihm der Erwerb des Waldes bescheren wird.
Der 50 Jahre alte Knecht Nikita ist ein seit einigen Wochen trockener Alkoholiker und nach dem St. Nikolaus-Tag der einzig nüchterne unter den Knechten des Hofes. Im Zustand der Trunkenheit neigte er zur Gewalttätigkeit, so hat er in blinder Wut Kleidungsstücke seiner Frau mit einem Beil zerhackt, wird aber von Wasilij als Knecht behalten, da dieser seinen Fleiß und seine Geschicklichkeit, vor allem seine Anspruchslosigkeit schätzt. Er zahlt ihm nur die Hälfte des üblichen Lohnes und davon einen Teil in überteuerten Lebensmitteln aus seinem Laden, die zudem weitgehend an Nikitas Frau gehen, die mit einem Lebensgefährten und den Kindern getrennt von diesem lebt.
Während sich der Herr mit zwei Pelzen auf das Wetter einstellt, ist Nikita deutlich schlechter bekleidet. Seine geflickten Stiefel bedeckt er mit Stroh.
Schon bald nach Beginn der Fahrt gelangen sie an eine Weggabelung. Der Herr fragt Nikita nach seinem Rat. Der Knecht ist für den längeren Weg, weil dieser häufiger benutzt wird und daher im Schnee besser befahrbar ist. Der Herr ignoriert den Rat und signalisiert, dass er den Knecht nur der Form halber gefragt hat. Die Erfahrung des Knechtes hat gegen den Willen des Herren, zu einem schnellen Geschäftsabschluss zu kommen, kein Gewicht. Insgesamt dienen die Gespräche, die der Herr mit dem Knecht führt, vor allem der Selbstdarstellung, der von keinen Zweifeln getrübten Demonstration seiner Grandiosität und Überlegenheit. Fortan resigniert Nikita, über den es später heißt, er habe sich daran gewöhnt, anderen zu gehorchen und keinen eigenen Willen zu haben. Er macht ein Nickerchen und gleich danach merkt der Herr, dass er sich verfahren hat.
So landen sie im Dorf Grischkino. Sie sind etwa 8 km vom Weg abgekommen, aber Grischkino ist nur 5 km von ihrem Ziel entfernt. Als ihnen ein Bekannter des Herren, den sie auf der Straße treffen, eine Übernachtungsmöglichkeit anbietet, lehnt der Herr ab. Er glaubt, die kurze Strecke über einen ebenen Weg und durch zwei Kilometer Wald mit „Leichtigkeit“ zurücklegen zu können. Die beiden verirren sich erneut und erneut landen sie in Grischkino. Sie machen Rast in einem Gehöft, dessen Besitzer Wasilij als ihm ebenbürtig respektiert, und wärmen sich auf. Der Herr trinkt Schnaps, während Nikita seine Abstinenz durchhält und viel heißen Tee trinkt. Wieder schlägt der Herr ein Angebot aus, in Grischkino zu übernachten.
Gegen Nikitas inneren Vorbehalt und bei Unterordnung unter den Willen des Herren, den die „Geschäfte“ antreiben, brechen sie auf und landen bei dichtem Schneefall in einem zerklüfteten Gelände, das eine Weiterfahrt in der Nacht unmöglich macht. Beide richten sich, so gut es geht, ein. Nikita wickelt sich notdürftig in die Packleinwand, die sich auf dem Schlitten befindet, Wasilij vergräbt sich in seine beiden Pelze und beide fallen in einen unruhigen Schlaf.
Wasilij gerät durch eine immer stärker werdende Angst in zunehmende Unruhe, die er nur überwinden kann, wenn er etwas tut. Er beschließt, allein mit dem Pferd in die Nacht aufzubrechen, und nimmt dabei den Erfrierungstod des Knechtes in Kauf. Dieser bemerkt das Treiben des Herren im Halbschlaf und als er versteht, was der Herr vorhat, bittet er ihn darum, den Sack, der den Rücken des Pferdes bedeckt hat und den es nun nicht mehr braucht, zurückzulassen. Der Herr ignoriert die Bitte und verschwindet „im Schneegestöber“.
Wasilij verliert jedoch die Orientierung, das Pferd bricht in einer Schneewehe ein und geht dann ohne ihn weiter. Als dieser ihm folgt, gelangt er zurück zu dem Schlitten, der nur fünfzig Schritte von der Stelle seines Sturzes entfernt steht. Als ihn Nikita wahrnimmt, mit schwacher Stimme sagt, dass er sterben werde, und dabei unkoordiniert seine Arme bewegt, scharrt der Herr mit „Entschlossenheit“ den Schnee von Nikita und aus dem Schlitten. Er legt sich auf Nikita, so dass sein durch die Aktivitäten erhitzter Körper Wärme an den Körper des Knechtes abgeben kann, und deckt sich und ihn mit seinen beiden Pelzen zu. Er bemerkt noch, dass das Pferd ohne Bedeckung dasteht und am ganzen Leib zittert, versäumt es aber, die Decke des Pferdes in Ordnung zu bringen.
Am nächsten Mittag schaufeln Bauern den Schlitten frei, auf den sie die Signalflagge aufmerksam gemacht hat, die die beiden Verirrten aufgestellt hatten. Das Pferd und der Herr sind tot, der Knecht hat die Nacht überlebt. Ihm werden zwei Zehen amputiert und er lebt danach noch zwanzig Jahre. Ihr Schlitten befand sich achtzig Schritte von der Landstraße und einen halben Kilometer vom Dorf entfernt.
3. Die Verwandlung
Die größte Anstrengung in seiner Kommentierung verwendet Saunders auf die Frage, ob es Tolstoi gelingt, Wasilijs Verwandlung plausibel darzustellen oder ob sie so unwahrscheinlich ist, dass die Geschichte zerfällt. Es geht also um ein von Saunders hervorgehobenes wesentliches Grundprinzip gelingenden Erzählens, es geht um die Kohärenz der Bausteine einer Erzählung. In Saunders Worten: „Er [Tolstoi] muss eine Verwandlung hinkriegen, die wir glauben können.“ Das ist ein hoher Anspruch an die Konstruktion der Erzählung. Tolstoi hat nach Saunders „einen überzeugenden Fiesling“ erfunden, der eine radikale moralische Erweckung erfährt. Indem dieser „Fiesling“ und „Schwadroneur“ sein Leben für das Leben des Knechtes opfert, begeht er sogar eine Tat, die über das moralisch Gebotene hinausgeht. Moralisch geboten ist, dem Anderen keinen Schaden zuzufügen und ihm, sofern man es kann, zu helfen, wenn er in Not ist. Keine Moral der Welt verlangt von einem moralischen Subjekt, dass es sich aufopfert. Daher wird dieses Verhalten in der Ethik supererogatorisch genannt. In der christlichen Religion ist dies das Selbstopfer Christi und der Märtyrer. In unserem weniger spektakulären Alltag entspricht es zumindest dem Selbstbild vieler Eltern, die ihr Leben für das ihrer Kinder hergeben würden. Saunders selbst rückt Wasilijs Verwandlung ins Religiöse. Das „Grundlagenmuster“ der Erzählung sieht er in der Wiederholung von Aufbruch, Verirren und Ankunft. Die Geschichte ende schließlich „mit der größten Heimkehr“ Wasilijs in die moralische Vollkommenheit und, „so nehmen wir an, in den Himmel“.
Saunders bejaht letztlich die Frage, die er an Tolstois Erzählung stellt, und zwar deshalb, weil Wasilij in der Geschichte „kein komplett neuer Mensch“ werden muss. Er muss seinen „Kraftquellen“ nicht abschwören. Diese Kraftquellen sind bei Wasilij Entschlossenheit, Kühnheit im Ergreifen der Initiative, eben Handlungsbereitschaft. Er muss sich genau darauf besinnen, um die Angst zu vertreiben, die ihn in der Winternacht erfasst. Daher beschließt er, mit dem Pferd allein aufzubrechen und damit wissentlich Nikita im Stich zu lassen, um sein eigenes Leben zu retten. Als dieser Ausweg scheitert und Wasilij nach einer Kreisbewegung zum Schlitten und zu Nikita zurückkehrt, kehrt auch die Angst zurück. Sie wird so stark, dass er sich um jeden Preis von dieser Angst ablenken muss. Seine Angst vor der Angst ist größer als die Angst vor dem Tod. Also muss er etwas tun, und dieses Tun besteht in der oben beschriebenen Rettung des Knechtes. Für Saunders ist das „nur“ eine Umlenkung, „nur“ eine Umsteuerung seiner habituellen Energie, Dinge anzupacken, diesmal aber nicht zu seinem eigenen Nutzen, sondern diese Tat ist selbstlos. Aber auch bei dieser selbstlosen Tat empfindet Wasilij, so die Erzählung, zugleich „eine seltsam feierliche Rührung“, er vollzieht sie „mit derselben Ruhmredigkeit, mit der er von seinen Käufen und Verkäufen zu erzählen pflegte“. Die Imagination der eigenen Grandiosität ist die Droge, unter deren Wirkung er zur Selbstaufopferung bereit ist.
Eher beiläufig notiert Saunders, dass Tolstoi Wasilijs Verwandlung einführt, ohne ihre „innere Logik“ zu erzählen. Nähme er diese Wahrnehmung ernst, müsste er zu dem Schluss kommen, dass Tolstoi schließlich das Erzählen durch Propaganda ersetzt. Saunders resümiert eine Charakterisierung Tolstois durch Nabokov folgendermaßen: „Tolstoi suchte auf zwei Wegen nach der Wahrheit: als Schriftsteller und als Moralprediger.“ Diese Beobachtung legt die Frage nahe, ob dieser Widerspruch nicht auch das Schreiben Tolstois selbst erfasst und zu einem Bruch in seiner Erzählweise führt. Diese Annahme legt auch Saunders selbst nahe, und zwar durch die Formulierung von Wasilijs Himmelfahrt, aber auch durch bemerkenswerte Lücken in seiner sonst so sorgfältigen Kommentierung.
4. Es geht um den Realismus!
Die innere Logik der Erzählung Tolstois und die Plausibilität der Interpretation von Saunders sind nur die eine Seite des Problems. Die andere besteht darin, dass Literatur zwar nicht „wie das reale Leben“ funktioniert, aber ein Modell des Lebens entwirft. Realistische Erzählungen ähneln der Welt „da draußen“. Darin besteht nach Saunders die „Essenz des ‚Realismus‘“. Zu dieser Welt „da draußen“ gehören natürlich der Autor so gut wie die Leser, und zwar nicht nur im Blick auf ihr „Gefühl, wie die Welt funktioniert“, sondern vor allem im Blick auf ihr Wissen von dieser Welt. Das schließt die Erschütterung der eingefahrenen Weltsicht der Leser durch die Literatur nicht aus, denn darin besteht eine wesentliche Funktion der Literatur. Aber diese Erschütterung muss dem durchschnittlich möglichen Weltwissen erwachsen, darf es nicht unterbieten. Literatur und die Alternativen, die sie eröffnet, dürfen nicht dümmer sein als die Leser, sie dürfen die Intelligenz des lesenden Publikums nicht beleidigen.
Daher stellt sich für Saunders mit der Änderung Wasilijs die „allgemeinere“ Frage: „Kann sich ein Drecksack ändern?“
Saunders folgt einer richtigen Intuition, wenn er Änderungen einer Persönlichkeit allenfalls von einer geringen Umsteuerung der Persönlichkeitseigenschaften erwartet. Da Saunders in der Entschlossenheit und dem Tatendrang eine stabile Grundlage von Wasilijs Persönlichkeit sieht, wären daher vor allem die darauf gerichteten selbstkritischen Überlegungen des Herren in Betracht zu ziehen. Die Defizite seiner Entschlossenheit und seines Tatendrangs resultieren im Wesentlichen aus einer Unbedachtheit, die durch den Herrendünkel befeuert wird. Die Einforderung bedingungsloser Gefolgschaft, seine Rücksichtslosigkeit und die bornierte Ansicht, dass die Korrektur einer Entscheidung ein Zeichen von Schwäche sei, die sich ein Herr nicht leisten darf, machen ihn immun gegen Ratschläge von seinesgleichen, besonders aber gegen Ratschläge, die von Unteren, also von seinem Knecht Nikita, kommen. Erst nach ihrer dritten Verirrung gesteht er sich ein, dass seine Entschlüsse wenig durchdacht sind, vor allem aber keine Folgenkalkulation kennen, wo es doch genau darauf angekommen wäre. So bedauert er nun, wo ihm die Folgen seiner Entscheidung klar geworden sind, gleich zweimal, dass er nicht in Grischkino über Nacht geblieben ist. Diese Einsicht kommt zu spät.
Anders verhält es sich mit einer zweiten Diagnose, die zur klarsten gehört, die er in dieser Krise trifft: „Zusammen hätten wir es wärmer“, bemerkt er zu Nikita. Diese Einsicht, die zum lebensrettenden Ausweg hätte führen können und die merkwürdigerweise von Saunders ignoriert wird, lässt er jedoch gleich wieder fallen, und zwar mit einem durchaus läppischen Einwand: „aber zwei können hier [auf dem Schlitten] nicht sitzen.“ Nikita greift den rettenden Gedanken seines Herren nicht auf, sondern lässt sich lediglich auf das völlig irrelevante Platzproblem ein: „Ich werde schon einen Platz finden“.
Der deprimierende Verlauf dieses Dialogs zeigt nicht nur, dass die selbstkritischen Gedanken Wasilijs über seine unüberlegten Entscheidungen zu instabil sind, um eine dauerhafte Änderung seiner Entscheidungsfindung zu bewirken. Zugleich verweist er auf Wasilijs Beziehung oder Nicht-Beziehung zur Moral. Saunders Hinweise auf Wasilijs Habitus als Macher machen plausibel, dass er die Initiative ergreift und bis an das Ende seines Lebens ein Handelnder bleibt. Sie erklären aber nicht seine moralische Wende, die plötzliche moralische Motivierung seines Handelns. Mehr noch: Die mangelhaften Handlungsbegründungen Wasilijs resultieren ja, wie gezeigt, vor allem aus seiner bornierten Sicht auf die Menschen, mit den er zu tun hat. Diese gesellschaftliche Dimension der Erzählung wird aber von Saunders nur unzureichend analysiert.
Wenn man sich aus guten Gründen nicht auf die problematischen Grundlagen geläufiger Theorien oder Modelle zur Persönlichkeitspsychologie einlassen will, könnte der Bezug auf Aspekte der Moraltheorie weiterhelfen. Diese kennt zwei Grade der Distanz zu einem moralischen Bewusstsein. Zum einen identifiziert sie Menschen, denen jegliche Motivation fehlt, moralisch zu handeln. Sie haben einen „lack of moral sense“. Dieses Unvermögen, sich selbst und andere als Teile eines moralischen Universums zu sehen, muss nicht unbedingt ein Fall von Psychopathologie sein. Der Philosoph Ernst Tugendhat sieht darin eine „Möglichkeit“, man könnte auch sagen: eine Verführung, „die uns […] dauernd begleitet“.[4] Solche Menschen verhalten sich moralkonform, solange es ihnen nützt; Kant nennt solche Handlungen „pflichtgemäß“ (sie passen sich den moralischen Normen nur an) im Unterschied zu Handlungen „aus Pflicht“, die tatsächlich moralisch motiviert sind. Als Amoralisten verletzen sie moralische Pflichten aber dann, wenn es ihnen nützlich erscheint und sie damit rechnen können, nicht ertappt zu werden. Insoweit wäre die kontraktualistische Quasi-Moral das Konzept, das diesen Handlungsweisen am ehesten entspricht: Warum soll ich jemanden fair behandeln, an dessen Kooperation ich nicht interessiert bin?[5] Dass Wasilij diesem Typus entspricht, könnte man daraus schließen, dass er auch Menschen seines eigenen sozialen Umfeldes mit Verachtung begegnet, seiner Frau und vielen seiner Konkurrenten. Andererseits sagt die Erzählung insgesamt nur wenig über Wasilijs Verhältnis zu Angehörigen und Bekannten. Immerhin gibt es auch Menschen seines Milieus, die er zu respektieren scheint. So redet er den alten Besitzer des Gehöfts in Grischkino, bei dem sie eine Rast einlegen, als „Bruder“ an. Zugleich legt er größten Wert darauf, moralisch gut dazustehen. Er halbiert Nikita den Lohn und berechnet ihm für einen Teil des ausgezahlten Lohnes Waren aus seinem Lebensmittelladen zu überteuerten Preisen. Nikita durchschaut diesen Betrug, kann sich aber nicht dagegen wehren. Wasilij hingegen ist „der Überzeugung“, Gutes zu tun – wohl, weil er den ehemaligen Trinker überhaupt beschäftigt und weil man seine Bezahlung mit Naturalien als Erziehungsmaßnahme in Nikitas eigenem Interesse und dem seiner Familie verstehen könnte.
Eindeutiger, als es der Befund des „lack of moral sense“ im Blick auf Wasilij wäre, kann man ihn als Vertreter eines selektiven, klassengebundenen Amoralismus verstehen.[6] Er hat eine partikulare (Pseudo-)Moral gegenüber Menschen seiner eigenen Klasse, schließt aber die Unteren aus dem moralischen Universum aus, benutzt sie als Instrument seiner Interessen und lässt sie rücksichtslos fallen, wenn sie ihm als nicht mehr nützlich erscheinen. Er verachtet sie. Am deutlichsten wird dieser klassengebundene Amoralismus, bevor noch bei Wasilij der Plan heranreift, der Situation allein zu entkommen und Nikita im Stich zu lassen. Beim Blick auf den nur unzulänglich vor der Kälte geschützten Knecht denkt er: „‘Wenn der Mensch nur nicht erfriert, seine Kleider sind gar zu schlecht. Dann werde ich noch dafür verantwortlich gemacht. Es ist wirklich ein dummes Volk. Ganz ungebildet.‘“ Diese Bemerkung zeigt keinen Funken Mitleid, nur die Angst davor, seinen Ruf zu verlieren. Das daraus resultierende Unbehagen mindert er jedoch dadurch, dass er diejenigen, bei denen er diesen Ruf verlieren könnte, verächtlich macht. Als er sich schließlich dafür entscheidet wegzureiten und sich eine Chance seiner Rettung ausrechnet, weil das Pferd es mit nur einem Reiter schaffen könnte, eine rettende Ortschaft zu erreichen, demonstriert er nicht nur seine völlige Empathielosigkeit, sondern offenbart die Grundlagen seines Amoralismus, indem er Nikitas Recht auf Leben bestreitet, zumindest die Gleichwertigkeit aller Leben negiert: „‘Nikita kann es ganz gleich sein, ob er stirbt. Was hat er für ein Leben! Um so ein Leben brauchts ihm nicht leid zu tun, aber ich habe, Gott sei Dank, soviel, dass ich mein Leben genießen kann.‘“ Würde er auf die „Dummköpfe“ hören, der schwachen Regung der Angst vor der Schande nachgeben und Nikita beistehen, würde er sein Leben „für nichts und wieder nichts“ aufs Spiel setzen.
Bei dieser Zuspitzung erscheint seine moralische Umkehr, seine Aufopferung und dass er Nikita erstmals einen „Bruder“ nennt, tatsächlich als drastischer Bruch in der Erzählung, als unmotiviertes Wunder. Saunders Einsicht, eher mit minimalen Veränderungen bei Erwachsenen zu rechnen, würde es eher entsprechen, wenn Wasilij aus seiner Erkenntnis, dass er und Nikita es zusammen wärmer hätten, die Konsequenzen gezogen hätte. Hätten beide sich auf der Seite liegend aneinander gewärmt, dadurch die geringst möglichen Anteile ihrer Körperoberfläche der Bodenkälte ausgesetzt und sich mit den beiden Pelzen des Herren geschützt, hätten sie bessere Überlebenschancen gehabt als bei jeder anderen denkbaren Entscheidung. Gemessen an dieser rationalen Kalkulation der Überlebensinteressen beider, erscheint Wasilijs Aufopferung nicht nur als unmotiviert, sondern auch als undurchdacht. Die Erzählung durchzieht eine dunkle Ironie: Beiderseitig eigennütziges Handeln hätte Wasilijs Leben gerettet, moralisch-supererogatorisches Handeln hat ihn das Leben gekostet.
5. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ (Brechts Galilei)
Als in meiner Jugendzeit einige meiner Altersgenossen eine Schwäche für den Kommunismus entwickelten, hielten ihnen besorgte Eltern und erboste Lehrer vermeintlich illusionstötend entgegen: Der Mensch ändert sich doch nie. Er war immer, er ist immer und er bleibt immer ein selbstsüchtiges Tier, eine Bestie. Die Raffinierteren unter ihnen schickten noch ein Gedankenexperiment hinterher: Würdet ihr, wenn ihr wohlhabend oder sogar reich geworden seid (denn das ist ja das Ziel eurer ganzen entbehrungsreichen Bildungsanstrengungen), wenn ihr eine hübsche Frau und süße Kinder habt, eure Villen für die Mühseligen und Beladenen öffnen und mit ihnen eure hart erarbeiteten Güter teilen? Na, merkt ihr, wohin das führt, euer Kommunismus? Dem lag eine Idee, ein Muster zugrunde, das die wohlmeinenden Religionslehrer und Priester predigten: Erst muss jeder seinen inneren Schweinehund loswerden, um danach, wenn alle gut geworden sind, vielleicht auch noch die Gesellschaft zu verbessern. Erst müssen alle gut werden, danach wird alles gut. Das ist die Lehre vom Primat der inneren Umkehr, der Läuterung. Es ist Tolstois Lehre.
Nach der „inneren Logik“ der Erzählung hätte Wasilij alles daransetzen müssen, seinen Einfall, sich gegenseitig mit dem eigenen Körper zu wärmen, zu verwirklichen. Dazu hätte es keiner moralischen Umkehr bedurft. Beide hätten sich in einem stillschweigenden Vertrag zum je eigenen Nutzen wechselseitig instrumentalisiert und damit die bestmögliche Chance zum gemeinsamen Überleben ergriffen. Im Falle des Überlebens beider hätte Tolstoi natürlich die Geschichte zu einem anderen Ende führen müssen. Vor allem hätte der damit seine Lehre von der Läuterung auf den Prüfstand stellen müssen. Hätte Wasilij seinem bisherigen Leben entsagt und wäre, sagen wir mal, ins Kloster gegangen? Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Zurück in den Strukturen, aus denen sie der Notfall für die Dauer einer Nacht hinausgeworfen hat, hätten sie wieder in einem asymmetrischen Verhältnis der Ungleichheit zueinandergestanden, in dem der Herr den Knecht als Instrument der Vermehrung seines Reichtums benutzt. Selbst wenn Wasilij fortan gegen Nikita milder gestimmt gewesen wäre und sich seine bislang üblichen Gemeinheiten verkniffen hätte, hätte das nichts daran geändert, dass er sich Teile von Nikitas Arbeit als Gewinn aneignet. Auch würde er Nikita entlassen müssen, wenn dieser nicht mehr funktioniert oder wenn den Herren ein drohender Geschäftsrückgang dazu zwingen würde, Teile seiner Geschäfte und seiner Beschäftigten aufzugeben. Selbst der christlichste oder menschenfreundlichste Unternehmer müsste so handeln und könnte sich damit rechtfertigen, dass er zumindest einen Teil „seiner Hände“ „in Lohn und Brot“ hält und mit dem „Gesundschrumpfen“ durch Entlassungen zugleich die Grundlage einer möglichen späteren Geschäftsausweitung aufrechterhält, die dann wiederum eine größere Zahl von Menschen „in Lohn und Brot“ bringen würde. Die kalten Verhältnisse sind stärker als der beste Willen.
Wenn man Tolstois Erzählung unter sozialdiagnostischen Gesichtspunkten liest, dann besteht ihre Bedeutung darin zu zeigen, wie nach der Aufhebung der Leibeigenschaft feudale Verhaltensweisen nachwirken. Rechtlich hat sich viel, in den sozialen Beziehungen auf dem Land noch wenig geändert. Dennoch zerbröseln bereits die alten Gesellschaftsbilder. Die Erzählung macht deutlich, dass, je mehr die neuen Herrschaftsverhältnisse in ihrer unverschämten Nacktheit ans Tageslicht treten, die feudalistische Ideologie, die Herr und Knecht durch Schutz und Dienst verbindet, zu einem immer fadenscheinigeren Mäntelchen wird. Zu Beginn der Erzählung sagt Wasilij noch zu Nikita: „Du dienst mir, und ich lasse dich auch nicht im Stich.“ Nikita antwortet ihm scheinbar zustimmend in dieser Ideologie: „[I]ch diene Ihnen so gut, wie wenn Sie mein leiblicher Vater wären.“ Obwohl er den Betrug seines Herren durchschaut, leistet er seinem Patron den Lippendienst, weil er fühlt, dass er nicht riskieren darf, „mit ihm abzurechnen“. Was indes auf Wasilijs Schutzverantwortung zu geben ist, zeigt dann der weitere Verlauf der Erzählung.
Die Probe, die Tolstoi durch den wundersamen Schluss seiner Erzählung verweigert, lässt Brecht in dem Stück Der gute Mensch von Sezuan, an dem er ab Mitte der 1920er Jahre bis 1942 gearbeitet hat, durch drei Götter vornehmen, die in einem soziologischen Experiment überprüfen lassen wollen, ob auf der Welt genügend (moralisch) gute Menschen leben, die zugleich ein (für sich) gutes und menschenwürdiges Leben führen können, so dass die Welt so bleiben kann, wie sie ist. Beim Scheitern dieses Experiments müssten sie (und die Zuschauer) den Umkehrschluss ziehen, dass die Welt verändert werden muss.[7] „Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?“ Als Versuchsperson wählen sie die Prostituierte Shen Te aus, der sie durch ein „Göttergeschenk“ ermöglichen, einen Tabakladen zu erwerben. Mit dieser Anordnung erweist sich das Stück als Fortsetzung der Lehrstücke. Shen Te merkt schnell, dass die von ihr freudig begrüßten ökonomischen Grundlagen für ihre Mildtätigkeit nicht ausreichen, um der Größe des Elends wirksam zu begegnen. Mehr noch: Ihre guten Taten gefährden die ökonomische Basis ihrer Existenz und ihrer Menschenfreundlichkeit. Während sie weiterhin versucht, Gutes zu tun und freundlich zu bleiben, erfindet sie daher einen Vetter, Shui Ta, in dessen Rolle und hinter dessen Maske sie all das tut, was ihr die ökonomischen Verhältnisse diktieren: ‚Er‘ vertreibt die Obdachlosen, die sich in Shen Tes Laden niedergelassen und eingerichtet haben, und pfercht sie in eine Notunterkunft, in der sie billige Arbeitskräfte für die Fabrik werden, die er aufbaut. Er betrügt, lügt und erpresst. Was bei ihm gängige Methoden der Ausbeutung und des Konkurrenzkampfes werden, sind für die Armen Tricks im Kampf ums Überleben. Da also die Menschen unabhängig von ihrer moralischen Disposition dazu gedrängt werden, unmoralisch zu handeln – genau das nennt Tugendhat die andauernde „Möglichkeit“ des „lack of moral sense“, kommt es nicht auf die Befindlichkeit der Individuen (und die Erziehung ihrer Gefühle) an. Die Frage, ob sich ein Drecksack ändern kann, mag für die Mikrostruktur persönlicher Verhältnisse wichtig bleiben, etwa für das Verhältnis des Herren zu seiner Frau oder zu seinem Sohn (oder für Leserinnen und Leser, die sich mit den eingefahrenen Routinen und Stellungskriegen eines langen Ehelebens herumzuschlagen haben). Diese Frage geht aber am Problem vorbei, wenn es um Makrostrukturen in Ungleichheitsgesellschaften geht, die Prämien darauf ausstellen, dass Menschen Drecksäcke werden. Nötig wird daher eine kopernikanische Wende der Problemstellung von Saunders: Die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem in der Ökonomie, müssen so geändert werden, dass sie den Menschen ermöglichen, gute Kooperationspartner zu sein. Sie müssen „moralisches Handeln leicht machen, anstatt es zu einer Heldentat werden zu lassen“.[8] Das bedeutet aber zugleich auch, dass Egoismus (weitgehend) überflüssig wird, weil die nötige und zu befürwortende Eigenliebe sich nicht mehr gegen andere richten kann. „Ganz allgemein sollte gelten, dass jedes Land, in dem besondere Sittlichkeit nötig ist, schlecht verwaltet ist“, lässt Brecht seinen Me-ti sagen.[9] Diese Überlegungen vom notwendigen und wünschenswerten Ende der Helden in der Moral und anderen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens führen zum Lob der „ganz gewöhnlichen Leute in Mittelgröße“. Brecht legt dieses Lob in den Mund des vor den Nazis geflohenen Physikers Ziffel. In guten, also menschenfreundlichen und -würdigen Verhältnissen und beim gegebenen Stand der Produktivität lebend, brauchen die Menschen nicht besonders tugendhaft, entsagungsvoll, fleißig oder tapfer zu sein, sie können auch einmal faul, feige, wehleidig, genusssüchtig, kurz: glücklich sein.[10]
Anmerkungen
[1] George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Originalausgabe 2012, deutschsprachige Ausgabe 2022, btb-Verlag 2023, 543 Seiten, 16 Euro. – Ich übernehme aus praktischen Gründen die Schreibweise russischer Namen, wie sie in dieser Übersetzung vorliegt.
[2] Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. Gesammelte Schriften II. 2. Frankfurt am Main 1980, S. 438-465. Ebenso: Kunst zu erzählen. VI.1, S. 436-438.
[3] Ruth Schoenbach, Cynthia Greenleaf u.a.: Reading for Understanding. San Francisco 1999. Deutsche Übersetzung: Lesen macht schlau. Neue Lesepraxis für weiterführende Schulen. Herausgegeben von Dorothee Gaile. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sigrid Janssen. Berlin: Cornelsen 2006 u.ö. Das Buch erfuhr bis 2011 6 Auflagen und fand zeitweilig Eingang in die österreichische und deutsche Lehrerfortbildung.
[4] Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt/Main 1993, S. 61f.
[5] Ebd. und Seite 74 f.
[6] Vgl. Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein? München 2006, S. 215 ff.
[7] Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 4. Stücke 4. Frankfurt am Main 1967, S. 1492.
[8] Bayertz, a.a.O., S. 220.
[9] Me-ti/Buch der Wendungen. In: Brecht: Gesammelte Werke 12. Prosa 2. A.a.O., S. 456. Siehe auch S. 469 f. über den Egoismus.
[10] Brecht: Flüchtlingsgespräche. In: Gesammelte Werke 14. Prosa 4, a.a.O., S. 1497. – Diese Ansicht hat einen Gegner in Ernst Jüngers reaktionärem, vorzivilisatorischem Anarchismus, der den Ausnahmezustand auf Dauer stellt. Jünger träumt vom heldenhaften Mann, vom Familienvater, der sich nicht auf die Verfassungsnorm der Unverletzbarkeit der Wohnung verlässt, sondern „der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür erscheint“, wenn es klopft oder klingelt. (Der Waldgang. Frankfurt am Main 1951, S. 109.)
Bildquelle: Pixabay