Wer den Kanzlerkandidaten Friedrich Merz verstehen und erfahren möchte, wie er „tickt“ und was man von ihm zu erwarten hat, falls er der nächste Bundeskanzler wird, sollte unbedingt sein Buch „Mehr Kapitalismus wagen. Wege zu einer gerechten Gesellschaft“ lesen. Wegen dessen Erscheinungstermin im Oktober 2008 legte der Verfasser ausgerechnet in dem Moment einen publizistischen Treueschwur zur bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ab, als die Banken- und Finanzmarktkrise globale Dimensionen annahm. Zu diesem Zeitpunkt war mithin klarer denn je erkennbar, dass der heutige Kapitalismus keine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung gewährleisten und weder den Wohlstand eines Großteils der Weltbevölkerung sichern noch die verharmlosend „Klimawandel“ genannte Erderwärmung aufhalten kann.
Marktwirtschaft und Kapitalismus: Gerechtigkeit trotz wachsender sozialer Ungleichheit?
Zwar hielt es Friedrich Merz „angesichts der zunehmenden Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen und Lebenschancen in unserer Gesellschaft“ für keine Überraschung, dass „linke Utopien“ an Zustimmung gewännen, wie er bekannte (vgl. S. 36). Der folgerichtig wachsenden Kritik am Finanzmarktkapitalismus trat Merz in seinem Buch, das ein Jahr später bereits die vierte Auflage erlebte, aber mit geradezu missionarischem Eifer entgegen. Ihm missfiel, wie sozial es in Deutschland zuging, und bezeichnete das Vereinigte Königreich unter der früheren Premierministerin Margaret Thatcher als sein Ideal. Ohne sie namentlich zu erwähnen, warf er der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen vor, die unter ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder „mühsam zustande gebrachten Korrekturen in den Sozialversicherungen allesamt in Frage gestellt“ zu haben: „Von ‚Fordern und Fördern‘, wie zuvor bei den ‚Hartz-Reformen‘, ist jetzt nicht mehr die Rede; stattdessen gibt es jede Woche und jeden Monat neue Leistungsversprechen von der Bundesregierung und dazu die faktische Verstaatlichung des überwiegenden Teils des Gesundheitssektors.“ (S. 15)
Merz stört, dass so viel und so positiv von sozialer Gerechtigkeit gesprochen wird. Denn sein politisches Glaubensbekenntnis lautet, „dass freier Kapital- und Warenverkehr, Wettbewerb, offene Märkte und individuelle Freiheit auch und gerade in den Sozialsystemen für den Wohlstand eines Landes und für jeden Einzelnen weitaus mehr leisten können als jede noch so gut gemeinte, aber undifferenzierte oder unbezahlbare Forderung nach immer mehr ‚sozialer Gerechtigkeit‘.“ (S. 18) Am meisten missfällt Merz, „dass in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit nahezu nur noch von Verteilungsgerechtigkeit die Rede ist und darunter ein an die Bürger verteilender Staat verstanden wird“, woraus er schlussfolgerte, dass mittlerweile ein „verkümmerter Gerechtigkeitsbegriff“ unsere Köpfe und Diskussionen beherrsche (siehe S. 27).
Eher ist Merzens Gerechtigkeitsbegriff verkümmert, denn er gibt sich mit Beschäftigungspolitik und Arbeitsbeschaffung zufrieden: „Gerechtigkeit, richtig verstanden, orientiert sich (…) primär an der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie an effizienten Anreizen für die Menschen, bestehende Arbeitsangebote wahrzunehmen.“ (S. 29) Sozial ist allerdings nicht, wer Arbeit schafft, sondern nur, wer Armut abschafft.
Die wachsende soziale bzw. sozioökonomische Ungleichheit rechtfertigt Merz mit dem Argument, dass sie im bestehenden Wirtschaftssystem genauso unabdingbar wie die biologisch bedingte Ungleichheit der Menschen sei: „Soweit unsere Marktwirtschaft von Wettbewerb und Eigentum lebt, lebt sie zum einen von der natürlichen Ungleichheit, die uns alle zu einzigartigen, unterschiedlich begabten Individuen macht. Und sie lebt zum anderen von der materiellen Ungleichheit, die sich aus dem freien Wettbewerb um die besten Ideen, Innovationen und Produkte notwendigerweise ergibt.“ (S. 28)
Daraus resultiert für Merz, der sich an dieser Stelle auf den neoliberalen Gerechtigkeitstheoretiker Wolfgang Kersting stützt, folgende Überlegung: „Die Minderung materieller Ungleichheit ist in einem marktwirtschaftlich organisierten Gemeinwesen kein politischer Selbstzweck.“ (S. 29) Stattdessen gründet die Legitimität des Sozialstaates laut Merz im Menschenrecht auf Freiheit sowie in den Rechten auf Nahrung, Sicherheit, medizinische Grundversorgung und Bildung. Für diese habe der Staat die Rahmenbedingungen zu schaffen: „Er muss ermöglichen, dass den Bürgern diejenigen Güter bereitgestellt werden, die ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben ermöglichen – aber auch nicht mehr.“ (ebd.) Der letzte Zusatz unterstreicht, dass Merz als politisches Ziel kein moderner Sozialstaat vorschwebt, sondern nur ein neoliberaler Minimalstaat.
Wie der Begründer des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, ist Merz fest überzeugt, dass „die Forderung nach immer mehr materieller Gleichheit“ in Planwirtschaft und eine sozialistische Diktatur mündet (siehe S. 30). Den im Gegensatz dazu mit Demokratie und Marktwirtschaft gleichgesetzten Kapitalismus hält Merz für gerecht, während er behauptet, „dass die wahre Ungerechtigkeit darin besteht, in der Bevölkerung eine unfinanzierbare Bequemlichkeit und Versorgungsmentalität zu fördern.“ (S. 31)
Mit seinem Vorbild Ludwig Erhard geht Merz davon aus, dass die kapitalistische Marktwirtschaft „aus sich selbst heraus“ sozial sei (siehe S. 41). Tatsächlich hat Erhard, dessen politisches Aushängeschild die „Soziale Marktwirtschaft“ war, die Große Rentenreform, mit der Konrad Adenauer die absolute Mehrheit von CDU und CSU bei der Bundestagswahl 1957 erreichte, erbittert bekämpft und nie eine großzügige Sozialpolitik befürwortet. Auch für Merz ist das bestehende Wirtschaftssystem per se sozial, wenn offene Märkte und die freie Konkurrenz gewährleistet sind: „Soziale Marktwirtschaft ist Kapitalismus mit funktionsfähiger Wettbewerbsordnung.“ (S. 44)
Dieser Beitrag erscheint in 3 Teilen. Die beiden folgenden finden Sie in Kürze hier im Blog unter den nachstehenden Titeln:
Teil II: Mehr Kapitalismus heißt weniger Sozialstaat
Teil III: Privat vor Staat auch im Bildungsbereich
Prof. Dr. Christoph Butterwegge war in den 1980er-Jahren einer der Sprecher des Bremer Friedensforums und in den frühen 1990er-Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung. Er hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.