Am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli 2024 wurde folgende „gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht.
Das knappe 9-Zeilen-„Joint Statement“ lautet:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6 (Standard Missiles), Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung (so wörtlich) dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Mit Trump als Präsident der USA, der ohnehin die Deutschen beschimpft, dass wir zu wenig zahlen, dürfte wohl ein Großteil der Kosten auf unser Land abgewälzt werden.
Da die Waffensysteme im Rahmen der sog. Multi-Domain Task Force von den USA stationiert werden, um (so wörtlich) „die Handlungsfreiheit der US-Streitkräfte (zu) unterstützen“ , dürften sie der Befehlsgewalt des amerikanischen Heereskommandos in Europa (USAREUR) unterstehen.
Die neue Qualität dieser Aufrüstung ist:
Mit der Stationierung solcher amerikanischen Waffensysteme werden – zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des INF-Abrüstungs-Vertrags im Jahr 1988 – von Deutschland aus wieder Ziele tief in Russland mit landgestützten Systemen strategischer Reichweite bedroht.
Das harmlos klingende „strategisch“ meint übrigens kriegsentscheidend.
Es sollen konventionelle Waffen sein, aber theoretisch könnten etwa die seit 1983 eingesetzten Tomahawks – wie bis vor einigen Jahren – auch nuklear bewaffnet werden.
Was sind die Unterschiede zum „Doppelbeschluss“ von 1979:
– Erstens: Es handelt sich um eine Stationierung ausschließlich in Deutschland und nicht auch – risikoverteilt – in anderen NATO-Ländern.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat Ende der 70er Jahre massiv darauf hingewirkt, eine ausschließliche Stationierung der Pershings in Deutschland zu vermeiden.
Deutschland weicht damit zum ersten Mal von seinem bisher strikt eingehaltenen Kurs ab, nämlich sich nicht singularisieren zu lassen.
Der zweite wesentliche Unterschied zum damaligen „Doppelbeschluss“ ist: Bei der bilateralen Erklärung fehlt eine rüstungskontrollpolitische Einhegung.
Eine solche Rüstungskontrollperspektive führte ja dann 1988 auch zum INF-Abrüstungsvertrag:
Etwa 3.000 Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten wurden danach abgezogen und Großteils vernichtet.
Im Zustimmungsbeschluss des SPD-Präsidiums vom August 2024 wurde dieses Fehlen einer Rüstungskontrollperspektive damit begründet, dass man mit Putin keine Vereinbarungen treffen könne.
Aber was hätte es dann gekostet, Putin ein Abrüstungsangebot zu machen?
Hätte die Bundesregierung bei einer Absage Moskaus nicht sogar ihre Behauptung einer Bedrohungslage untermauern können?
Drittens: Anders als damals gab es keine vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion.
Olaf Scholz schob dann später als Erklärung nach:
„Das haben wir in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ festgelegt. „Ich habe das im Übrigen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz sehr ausführlich dargelegt und zur Debatte gestellt.“
Haben die Parlamentarier, die Medien und die Öffentlichkeit gar nicht bemerkt, was da beschlossen wurde und was Olaf Scholz gesagt haben soll?
Ich habe beide Dokumente nachgelesen: In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom 14. Juni 2023 heißt es: „Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern.“
Dass unter „abstandsfähige Waffen“ auch US-Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite fallen sollen, hatte bis zur „gemeinsamen Erklärung“ offenbar niemand bemerkt.
Auch in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2024 war von einer Stationierung von amerikanischen Waffensystemen nicht die Rede.
Im Gegenteil in München schränkte Scholz die betreffende Passage über „abstandsfähige Präzisionswaffen“ sogar noch ein, indem er hinzufügte, dass wir darüber mit Frankreich und Großbritannien Gespräche führten. Von US-Raketen war da jedenfalls nicht die Rede.
Und in der Tat – ebenfalls am Rande des NATO-Gipfels – haben Polen, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichtserklärung zur Entwicklung weitreichender Abstandswaffen verabschiedet . Inzwischen ist auch Großbritannien beigetreten.
Auf Gerüchte über eine Stationierung von amerikanischen Raketen „Dark Eagle“ in Mainz-Kastel antwortete Staatssekretär Andreas Michaelis noch am 10. Januar 2022 auf eine mündliche Anfrage von Sevim Dağdelen:
Die Begründung, dass diese Erklärung ein rein exekutiver Akt sei und keiner parlamentarischen Zustimmung bedurft hätte, ist äußerst dünn. Eine nachträglich erstellte „Kurzinformation“ der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Stationierung von US-amerikanischen weitreichenden Waffensystemen in Deutschland – nebenbei bemerkt unter dem in diesem Zusammenhang eher zynisch wirkenden Logo „75 Jahre Demokratie lebendig“ – kommt unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 zum juristischen Ergebnis, dass die Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland ein rein exekutiver Akt sei, der weder die Rechte des Bundestags gefährde oder verletze noch gegen das Demokratieprinzip verstoße oder einem Gesetzesvorbehalt unterliege.
Die Rechtsgrundlagen, wonach die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt die Zustimmung zu dieser Vereinbarung geben konnte, „dürften (so heißt es wörtlich) auch hier wohl der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag“ ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 i.V.m. den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein. Die Stationierung von US-amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern (wiederum wörtlich) „dürfte sich ebenfalls im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen“. Als Beleg für diese Begründung wird genannt, dass die geplante Stationierung auf dem NATO-Gipfel im Juli verkündet wurde und die Vereinbarung auf die „Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO“ verweise.
In der Schlusserklärung des NATO-Gipfels in Washington taucht diese Entscheidung jedoch – wie schon erläutert – gar nicht auf. Die Bindungswirkung zur NATO ist eher rhetorisch. (So Heribert Karch, in der Berliner Zeitung v. 18.08.2024 ). Und ob ein „Commitment to NATO“ – wie es in der amerikanischen Fassung des „Joint Statement“ heißt, also eine „Verpflichtung“ der USA gegenüber der NATO, also einseitig und ohne einen Bündnisbeschluss sich noch im Rahmen des Bündnissystems „abspielt“, kann man auch in Frage stellen. Die juristische Begründung der Wissenschaftlichen Dienste ist jedenfalls ziemlich dünn.
Zurecht sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich: „Eine solche weitgehende Entscheidung ist kein Verwaltungsakt, sondern bedarf der ernsten öffentlichen Abwägung aller Chancen und Risiken“, findet Mützenich. Zwar sei es nachvollziehbar, dass Deutschland sich um seine Sicherheit kümmert. Allerdings könnten die Raketen Ziele tief in Russland erreichen. Es brauche deshalb eine „offene Diskussion“ darüber, innerhalb seiner Partei und mit der Bevölkerung.
In der politischen und medialen Darstellung wird der Eindruck erweckt, als handele sich bei der Stationierung von weitreichenden Waffensystemen in Deutschland um eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So ausdrücklich in einem Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin Siemtje Möller und des Staatsministers im Auswärtigen Amt Tobias Lindner an den Verteidigungs- und den Auswärtigen Ausschuss, in dem der „Hintergrund der jüngsten gemeinsamen Erklärung“ erläutert werden soll„.
Noch am 15. Juni 2022 – also noch 4 Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – erklärte allerdings die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: Es gebe keine bilateralen Pläne zur Stationierung von weitreichenden Waffensystemen. (Drucksache 20/2284 Ziffer 8)
Tatsächlich ist es so, dass schon 2017 – unter der ersten Präsidentschaft von Donald Trump – mit der Planung einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee begonnen wurde, die auch Mittelstreckenraketen umfassen sollte.
Unter Präsident Joe Biden wurde im April 2021 – also lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – entschieden, eine der 5 geplanten Multi-Domain Task Forces in Wiesbaden zu installieren.
Und im April 2024 fiel dann in den USA die Entscheidung Mittel- und Langstrecken-Hyperschallbatterien in Deutschland zu stationieren. Also 3 Monate vor der „gemeinsamen Erklärung“ im Juli 2024. (Jochen Luhmann)
Es handelt sich also um eine „gemeinsame Erklärung“ über eine einseitige Entscheidung der USA und nicht – wie vielfach der Eindruck erweckt wird – um eine „Vereinbarung“, also um ein beidseitiges Übereinkommen oder eine zweiseitige Abmachung.
In der Mitschrift der Pressekonferenz am Rande des NATO-Gipfels sagt Bundeskanzler Olaf Scholz auch korrekt: „Die jüngste Entscheidung der USA sei „eine sehr verantwortungsvolle und sehr passende Entscheidung der Vereinigten Staaten“.
Die Verquickung mit dem russischen Angriff auf die Ukraine, dient eher dazu, mit der Angst vor Putin eine öffentliche Diskussion zu unterbinden.
Dies spielt – wie sich etwa bei den Wahlen in Ostdeutschland zeigte – nicht nur Systemgegnern und Populisten in die Hände, sondern ein solche Debattenlücke schürt auch die Logik der Konfrontation und der Aufrüstung.
Eine zentrale Frage ist: Wiederholt sich ein Rüstungswettlauf?
Die Antwort Putins auf die Stationierungs-Entscheidung folgte prompt: Russland werde im Fall einer Umsetzung der Pläne „spiegelbildlich“ reagieren kündigte Putin kurz danach in einer Rede in Sankt Petersburg an. Und die neueste Nuklear-Doktrin Putins passt haargenau in diese Eskalation, dort heißt es dass eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomwaffenstaates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet wird und dass Russland Atomwaffen auch als Reaktion auf einen Angriff mit konventionellen Waffen einsetzen könnte, der eine „kritische Bedrohung“ der russischen Souveränität darstelle.
Und wenn der New Start-Vertrag – in dem sich Russland und die USA, sich zur Verringerung strategischer Waffen bekennen – Anfang 2026 ersatzlos ausläuft, werden wir überhaupt keine rechtsverbindlichen Vereinbarungen mehr haben, die einen nuklearen Rüstungswettlauf verhindern könnten.
Es gehörte zu den Grundprinzipien der Brandtschen Entspannungspolitik, die Perspektive des Gegners zumindest mit zu bedenken. Nimmt man die Moskauer Perspektive ein, ist die Raketenstationierung eine Art Kuba-Analogie. (Wolfgang Richter).
Solche weitreichenden Waffen sind aus russischer Sicht strategische Waffen, da sie grundsätzlich in der Lage wären, Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte mit äußerst kurzen Vorwarnzeiten zu zerstören. Darüber hinaus kann man heute auch mit konventionellen Sprengköpfen strategische Ziele zerstören, da sie über die nötige Sprengkraft, Präzision und Reichweite verfügen. In den 1970er-Jahren hatten Langstreckenraketen eine Zielabweichung von bis zu zehn Kilometern. Heute sind es fünf bis zehn Meter. (Wolfgang Richter, Die Zeit v. 10.10.2024, S.11)
Eine solch strategische Bedeutung für die russische Seite besteht zumindest für die USA nicht, denn Amerika liegt außerhalb der Reichweite russischer Mittelstreckenwaffen.
Läge es also nicht im deutschen Interesse, trotz der anhaltenden russischen Aggression gegen die Ukraine, ein „Wie Du mir, so ich Dir“-Raketenwettrüsten zu verhindern?
Immer wieder wird argumentiert, dass Russland schon längst eine Überlegenheit bei Mittelstreckenraketen habe.
Der westliche Vorwurf, Russland habe etwa den INF-Vertrag gebrochen, wurde allerdings von Moskau stets bestritten.
Wenn es Differenzen in der Wahrnehmung und der Interpretation von vertraglich geregelten Sachverhalten gibt, versuchen Vertragspartner üblicherweise Streitfragen in Verhandlungen zu klären. So verlangen es auch die Verträge.
Es gab nach der Kündigung des INF-Vertrags ein russisches Angebot zu einem Moratorium und – um die notwendige Transparenz zu gewährleisten – schlug Moskau noch im Oktober 2020 ein gemeinsames Überprüfungsverfahren für die Iskander-Raketen etwa in Kaliningrad und umgekehrt für die angeblich gegen den Iran gerichteten Raketenabwehrsysteme der USA in Polen und Rumänien vor. Darüber wollten die USA leider erst kurz vor dem Angriff Putins auf die Ukraine verhandeln. (Siehe auch Arno Gottschalk, Iskander in Kaliningrad)
Übrigens: Formal haben die Amerikaner wesentliche Abrüstungsvereinbarungen, die sie zuvor mit den Russen geschlossen hatten, gekündigt. Dazu zählt der ABM-Vertrag, der Open Sky-Vertrag und eben auch der INF-Vertrag.
Das zentrale Motiv für die Kündigung des INF-Vertrages 2019 durch Donald Trump hat sein damaliger Sicherheitsberater John Bolton offen ausgesprochen:
Es gehe nicht um Russland. Vielmehr versuchten die USA, mit Chinas Potential an Mittelstreckenraketen um die Taiwanstraße mitzuhalten. (So z.B. Rüdiger Lüdeking u.a. Vertreter der BRD beim Büro der UN in Wien in der Süddeutschen Zeitung v. 24.08.2024)
Besteht eine Fähigkeitslücke? Das Argument mit der Fähigkeitslücke mag sogar zutreffen, wenn man ausschließlich auf landgestützte Mittelstreckenraketen abstellt.
Die Kritiker der neu zu stationierenden landgestützten US-Raketen gehen allerdings davon aus, dass die NATO ausreichend Abschreckungsmöglichkeiten hat.
Nicht nur, dass die 32 NATO-Partner derzeit etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte ausgeben wie Russland (nämlich 1,19 Billionen US-Dollar zu 127 Milliarden US-Dollar). Ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Waffen mit taktischen und strategischen Reichweiten von bis zu 2.000 Kilometern sichert eine enorme Überlegenheit des Westens gegenüber Russland.
Und warum werden eigentlich diese weitreichenden Waffen ausschließlich in Deutschland stationiert und nicht etwa auch in Ländern wie etwa Polen, Finnland oder den baltischen Staaten, die Russland viel näher liegen?
Und schließlich: Wenn Putin es nicht einmal schafft, die Ukraine mit seinen Raketen zu besiegen, wie kommt man dann auf die Idee, dass die Russen das weitaus stärkste Militärbündnis der Welt angreifen könnten?
Der gewiss US-freundliche Vorsitzende der „Atlantik Brücke“ und frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel fragt in einem Interview zurecht:
„Wie wirksam ist die gewünschte Abschreckung, wenn jeder weiß, dass im Falle des Einsatzes das eigene Land der totalen Zerstörung preisgegeben wäre? Das ist der Grund, warum die USA immer klar gemacht haben, dass sie ihr strategisches nukleares Waffenpotenzial gegen Russland nur einsetzen würden, wenn sie selbst durch solche Nuklearwaffen bedroht wären. Also nicht etwa, wenn Europa betroffen wäre. Damit ist ein potenzielles nukleares Schlachtfeld klar definiert: Es liegt in Europa.“ Soweit Sigmar Gabriel.
Selbst wenn man die Abschreckungsthese (so Boris Pistorius) für richtig hielte, so entsteht durch die Raketenstationierung ein stetiger Alarmzustand – und zwar auf beiden Seiten. Das kann zu Fehlwahrnehmungen und Fehlalarmen führen.
Die Tomahawks können wegen ihrer bodennahen Flugweise erst sehr spät vom Radar ausgemacht werden und die geplante Hyperschallrakete fliegt mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit. Je kürzer die Vorwarnzeiten sind, desto größer ist die Gefahr einer präemptiven, also einer zuvorkommenden Kurzschlussreaktion. (Wolfgang Richter, Badische Zeitung v. 17.10.2024)
Droht man also mit der Stationierung nicht seinem potentiellen Gegner mit etwas, das für einen selber gefährlicher ist als für den Gegner?
Meint man wirklich, dass mit diesen US-Raketen die Angriffsfähigkeit Russlands völlig ausgeschlossen werden kann? Hätte Moskau nicht Langstrecken-Atomraketen weit außerhalb der Reichweite der jetzt geplanten US-Raketen?
Eine gefährliche Erstschlag-Logik herrscht aber auch auf westlicher Seite: In einem Erklär-Video sagt der wichtigste politische Berater im Verteidigungsministerium Dr. Jasper Wiek:
Es sollen mit der Stationierung der US-Mittelstreckenraketen Raketenabschussrampen in der Tiefe Russlands zerstört werden können, bevor Putin selbst seine Raketen startet.
In gleicher Weise argumentiert auch der Unterabteilungsleiter für euro-atlantische Sicherheitspolitik im Verteidigungsministerium, Brigadegeneral Maik Keller.
Wörtlich sagt er: „Das kann man sich so vorstellen, wenn ein Bogenschütze auf einen schießt, kann man versuchen den Pfeil zu treffen und ich kann versuchen, den Bogenschützen auszuschalten bevor er uns bedroht, das heißt einem Angriff entsprechend zu begegnen, bevor auf uns geschossen wird, um es einmal ganz platt zu sagen.“
Damit reden die beiden Militärs einem überraschenden Entwaffnungserstschlag seitens des Westens in Russland das Wort. . (Jochen Luhmann)
Glaubt man wirklich, dass solche Äußerungen von Russland nicht wahrgenommen werden?
Abschließend will ich noch ein Tabu in der öffentlichen Diskussion ansprechen:
Nämlich, dass es unterschiedliche nationale Interessen zwischen denen der USA und Deutschlands gibt.
Es liegt doch auf der Hand, dass es das primäre nationale Interesse der USA ist, dass das eigene Territorium bei einem Krieg möglichst unberührt bleibt.
Im schon zitierten Interview sagt Sigmar Gabriel dazu: „Das Problem aller nuklearen Strategien in Europa ist aber, dass für den Fall, dass es trotzdem einmal zum Einsatz solcher Waffen kommen könnte, Zentraleuropa und damit Deutschland immer das Schlachtfeld wäre, auf dem ein solcher Schlagabtausch ausgetragen würde.“
Die Kernfrage ist also: Dient die Raketenstationierung eher dem Schutz Deutschlands oder dient unser Land nicht – wie die amerikanische Seite sagt – der militärischen „Handlungsfreiheit“ der US-Streitkräfte und damit als potentielles Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA, die selbst ja von russischen Mittelstreckenraketen gar nicht erreicht werden können?
Dort wo ich keine Quelle genannte habe, stütze ich mich auch auf Texte und Argumente von Wolfgang Richter, Joachim Krause, Michael Staak, Hans-Peter Bartels/Rainer Glatz in WIFIS aktuell, Die Debatte um US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, Herausgegeben von Johannes Varwick, Verlag Barbara Budrich 2025. Das Bändchen kann auch als E-Book heruntergeladen werden eISBN 978-3-8474-3265-4
—
Für Genossinnen und Genossen ist wichtig, wie sich die SPD zu dieser Raketenstationierung positioniert:
Im Antragsbuch zum a.o. Parteitag am 11. Januar in Berlin heißt es derzeit in Zeile 2303f. lapidar:
„Die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen im Westen Deutschlands bietet uns in der gegenwärtigen Sicherheitslage mehr Schutz“.
Es gibt dazu einen Änderungsantrag des Unterbezirks Wiesbaden (S. 152 f.) Dort heißt es:
„Die Stationierung neuer U.S.- Mittelstreckenraketen sollte vermieden werden, da diese Systeme strategische Ziele in Russland in extrem kurzer Zeit und ohne
Vorwarnung treffen könnten, was das Risiko eines nuklearen Fehlalarms erhöht und
die strategische Stabilität zwischen den USA und Russland massiv untergraben
würde. Der bilaterale Ansatz zwischen Deutschland und den USA berücksichtigt
keine Rüstungskontrollmaßnahmen, die solche Eskalationsrisiken eindämmen
könnten. Auch ist unklar, wie die Vorstellungen der neuen Trump-Administration zur Sicherheit in Europa aussehen. Ein neuer Rüstungskontrollvertrag, der eine Begrenzung und Inspektion der neuen Systeme ermöglicht, wäre daher notwendig, um eine destabilisierende Wirkung zu vermeiden und die Sicherheit in Europa langfristig zu stärken. Ebenso ist die aktuelle Diskussion über eine Erstschlagfähigkeit, die in der Bundeswehr begonnen hat, abzulehnen. Darüber hinaus muss die deutsche Bevölkerung informiert werden, und es sollte eine transparente politische Debatte geführt werden.“
Die Empfehlung der Antragskommission lautet: Überweisung an SPD-Parteivorstand.
Und beim Parteivorstand ruht dieser Änderungsantrag dann – wie in der Vergangenheit üblich – in Frieden.
Das ist aber dann wohl auch das einzig Friedliche im Zusammenhang mit der Raketenstationierung.
Vielleicht sollte aus der Mitte der SPD wenigstens der Antrag gestellt werden, dass überwiesene Anträge vom jeweiligen Gremium innerhalb von z.B. 6 Monaten beraten werden müssen und das Ergebnis den Antragstellern danach umgehend mitzuteilen ist.
Nachtrag:
Von der Antragskommission wurde im Wahlprogramm folgende Formulierung eingefügt:
„Die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen im Westen Deutschlands ist eine Reaktion auf die gegenwärtige Sicherheitslage. Gleichzeitig bleiben wir auch in dieser Sicherheitslage der Rüstungskontrolle verpflichtet und werden konstruktive Ansätze hierzu weiterhin im NATO-Rahmen erörtern.“
Hinweis: Ein etwas veränderter Beitrag zu diesem Thema erschien am 12. Januar in Telepolis