Vorbemerkung: Dieser Beitrag wurde vom Redakteur/Autor Roland Thöring am 15.1.2025 in der Neuen Westfälischen, Ausgabe Gütersloh, veröffentlich. Die Neue Westfälische erlaubte dem Blog der Republik eine Zweitveröffentlichung.
Hans Weidel lebte 18 Jahre lang in Verl. Seine Enkelin will ihn kaum gekannt haben. Stattdessen gibt es Ehrenämter und höchste Auszeichnungen für ihn.
Alice Weidel möchte Bundeskanzlerin werden. Die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte AfD hat sie am vergangenen Wochenende zur Kanzlerkandidatin gewählt. Die Verbundenheit von Weidel und dem Kreis Gütersloh ist vielen nicht bekannt. Sie selbst ist aufgewachsen in Harsewinkel, aber eine entscheidende Personalie führt in die Stadt Verl: Ihr Großvater Hans, 1903 im schlesischen Leobschütz (heute Głubczyce) geboren, lebte hier 18 Jahre lang in einem Haus in der Straße Brinkheide, laut Melderegister von August 1967 bis zu seinem Tod am 8. September 1985. Er war promovierter Jurist, Mitglied von NSDAP und SS und während des Krieges als Militärrichter bei der Kommandantur Warschau aktiv. Er spielte eine zentrale Rolle im Dritten Reich. Davon aber will Alice Weidel nichts gewusst haben, wie sie gegenüber Medienanfragen erklärte.
Als Hans Weidel 1985 starb, war seine Enkelin Alice sechs Jahre alt. In der Familie sei der Lebenslauf ihres Großvaters nie Thema gewesen und sie selbst habe „aufgrund familiärer Dissonanzen“ keinen Kontakt zu ihrem Großvater gehabt, ließ Alice Weidel ihren Sprecher der Zeitung „Welt“ ausrichten, die die NS-Vergangenheit Hans Weidels in den Dokumenten des Bundesarchivs und des polnischen Staatsarchivs recherchiert hat.
Mehr will Weidel zu dem Thema offenbar nicht sagen: Auch weitere Nachfragen dieser Zeitung ließ sie unbeantwortet.
Der Wikipedia-Eintrag ist inzwischen gelöscht
Nur einen Tag nach der Veröffentlichung in der „Welt“ wurde der Eintrag zu Hans Weidel im Online-Lexikon „Wikipedia“, der bis dahin so gut wie keine Beachtung gefunden hatte, dann aber innerhalb von zwei Tagen rund 2.800 Mal aufgerufen worden war, mit der Begründung fehlender Relevanz zur Löschung vorgeschlagen. Inzwischen ist der Eintrag bei „Wikipedia“ nicht mehr zu finden. Und damit auch nicht die familiäre Verbindung zur AfD-Politikerin Alice Weidel.
In den Archiven findet sich hingegen reichlich Material. Das Bundesarchiv verwahrt gut 450 Seiten über Weidels Großvater. Und auch in den Stadtarchiven Verl und Gütersloh liegt manch Aufschlussreiches zur Person Hans Weidel vor.
Danach war er schon 1932, also im Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozia Nationalsozialisten, der NSDAP beigetreten. Im Januar 1933 wurde er zudem Mitglied der SS, zentrales Instrument der Judenverfolgung und unter anderem zuständig für die Organisation der Deportationen in die Vernichtungslager.
Nach den Recherchen der „Welt am Sonntag“ gehörte Hans Weidel zehn verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen an, natürlich auch dem NS-Rechtswahrerbund und dem Zusammenschluss nationalsozialistischer Juristen, dem er als Kreisgruppenführer diente.
Heeresrichter bei der Kommandantur Warschau war er ab Juli 1941. Drei Jahre später wurde er zum Oberstabsrichter befördert. Laut „Welt“ befasste sich mit dieser Personalie das Führerhauptquartier, denn Adolf Hitler war auch oberster Gerichtsherr der Militärjustiz.
Vor der herannahenden Roten Armee floh Hans Weidels Frau Luzia mit ihren beiden Kindern 1945 nach Ostwestfalen, wo Hans Weidel nach drei Monaten Kriegsgefangenschaft zu ihnen stieß.
Völlig unbekannt war den Behörden in der jungen Bundesrepublik die Vergangenheit Hans Weidels nicht. Wegen seiner Rolle in der NS-Diktatur ermittelten sie gleich dreimal gegen ihn. 1948 wurde das Verfahren eingestellt, denn der Staatsanwaltschaft fehlten wichtige Informationen, um Weidels Version vom harmlosen Mitläufer widerlegen zu können.
Auch die Ermittlungen des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen im Jahr 1977 und der Hamburger Kriminalpolizei 1979 verliefen ergebnislos – in der Bundesrepublik wurde schließlich kein einziger früherer NS-Militärrichter rechtskräftig verurteilt, obwohl diese laut den Forschungen von Historikern schätzungsweise 30.000 Todesurteile gegen Wehrmachts-Angehörige verhängten, von denen etwa 20.000 vollstreckt wurden.
In Gütersloh eröffnete Hans Weidel1951eine Anwalts- und Notarskanzlei und wohnte bis 1967 in der Schledebrückstraße. Fortan arbeitete er am Bild des honorigen Bürgers, der sich für die Rechte anderer stark macht. Auch für die der Vertriebenen, zu denen er sich selbst zählte. 1953 wurde er zum Kreisvorsitzenden des Bundes der Vertriebenen im ehemaligen Kreis Wiedenbrück gewählt.
Das Amt hatte er 30 Jahre später zu seinem 80. Geburtstag immer noch inne. Zwischen 1955 und 1982 stand er der Landsmannschaft der Schlesier in Gütersloh vor, von 1965 bis 1978 dem Kreisbeirat für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen.
Zwischen 1961 und 1979 gehörte er dem Vertriebenenbeirat der Stadt Gütersloh an.
Der Gütersloher Anwaltsverein machte seinen langjährigen Vorsitzenden zum Ehrenvorsitzenden. Und schließlich wurde das CDU-Mitglied Hans Weidel, in den 1970er-Jahren Vorsitzender des Kreisparteigerichts, auf Vorschlag der Vertriebenenverbände als „Anwalt seiner Landsleute“ im Oktober 1974 sogar mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Die in den Stadtarchiven aufbewahrten Zeitungsartikel zu seinen runden Geburtstagen streifen die Zeit zwischen 1933 und 1945 nur. Er leistete „Kriegsdienst und wurde durch die Vertreibung nach Gütersloh verschlagen“, heißt es in der Würdigung zum 80. Geburtstag. Mehr hatte Weidel auch zum 70. und 75. Geburtstag nicht zu seiner Vergangenheit zu sagen gehabt.
Quelle und Erstveröffentlichung in der Neuen Westfälischen am 15.1.2025. Hier der Link zur Online-Ausgabe!