Zahlreiche Krisenzustände haben die Debatte um die Stabilität und den Erhalt der Demokratie wiederbelebt. Dabei fällt eine beachtliche Leerstelle auf: die Sphäre des Ökonomischen bzw. der Produktion wird entweder nicht mitthematisiert oder sogar systematisch ausgeklammert.
Das war nach dem 2. Weltkrieg noch ganz anders. Damals gab es massenhafte Demonstrationen für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, für die Demokratisierung der Wirtschaft und für mehr Mitbestimmung. Der Zusammenhang von kapitalistischem Wirtschaftssystem und Faschismus war vielen bewusst; er fand sogar Eingang ins Ahlener Programm der CDU von 1947.
Dieses Bewusstsein ist im Zuge des sog. Wirtschaftswunders verloren gegangen. Der durch den „Marshallplan“ forcierte Wiederaufbau führte gleichzeitig zu einer Restauration kapitalistischer Produktionsverhältnisse, mit der Folge, dass diejenigen Unternehmer, die Hitlers Aufstieg ermöglichten, bald wieder an den Schalthebeln der Macht saßen.
Krisen und die Art und Weise ihrer Bewältigung, sind ein Indikator für die Stabilität eines Politik- und Sozialmodells. Gegenwärtig erleben wir, dass selbst in Industriebereichen, die bisher erfolgreich das Modell eines sozialen Ausgleichs zwischen Unternehmens- und Beschäftigteninteressen praktiziert haben – z.B. VW, Ford oder Thyssen – dieses einseitig zu Lasten der Beschäftigten aufgekündigt wird. Nachdem jahrelang riesige Gewinne eingefahren wurden – bei VW wurden zwischen 2021 und 2023 allein 22 Milliarden Euro an die Aktionäre ausgeschüttet – sollen nunmehr allein die Beschäftigten die Lasten der Krise tragen, die oft vor allem durch fragwürdige Managemententscheidungen herbeigeführt wurde. Viel zu lange hat man beispielsweise bei VW hochwertige Marken priorisiert, statt ein preisgünstiges E-Auto zu produzieren. Insofern war die gegenwärtige Absatzkrise voraussehbar.
Dass darauf mit Massenentlassungen und Werkschließungen reagiert werden soll, stellt einen Eingriff ins Gemeinwesen dar, der nicht hingenommen werden sollte. Und dass die Beschäftigten von den geplanten Werksschließungen erst aus der Presse erfuhren, stellt eine beispiellose Provokation und Demütigung für die Beschäftigten, ihre Betriebsräte und Gewerkschaften dar. Da maßt sich ein abgehoben agierendes Management an, über das Schicksal ganzer Regionen zu entscheiden, statt gemeinsam mit den Beschäftigten und ihren Betriebsräten nach alternativen Lösungen zu suchen, die es bei vorangegangenen Krisen durchaus gab. Zu erinnern ist an die zeitweise Einführung der 4-Tage-Woche bei VW.
Dass es um mehr als materielle Interessen geht, darauf hat der Harvard-Professor Michael Sandel, Verfasser der Studie Das Unbehagen in der Demokratie, unlängst hingewiesen. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft geht seiner Meinung nach tiefer: Viele Arbeiter fühlten sich mehr und mehr respektlos behandelt. Es gelte, die Würde der Arbeit wieder herzustellen. Von den Politikern verlangt er, die weitreichenden Folgen dieser Spaltung zu reflektieren, die Fehler neoliberaler Politik zu korrigieren und die eigene Verantwortung für die gegenwärtige Situation anzuerkennen.
Die oben erwähnte Trennung von Politik und Ökonomie gilt es aufzuheben, denn das, was sich zur Zeit in den Betrieben abspielt, ist von höchster politischer Brisanz. Es bedarf geradezu einer Politisierung der Produktionssphäre und anderer Lebensbereiche, in denen Demokratie erlebbar und erfahrbar ist: am Arbeitsplatz, in den Betrieben, in Schulen und Universitäten und anderen Sektoren des Gemeinwesens. Überall sollte nach geeigneten Formen der Beteiligung und Mitbestimmung gesucht werden, damit Demokratie kein leeres Versprechen bleibt. Keineswegs kann sich die Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen darin erschöpfen, alle 4 Jahre Abgeordnete zu wählen, die von den Parteien bestimmt werden und die man oft nicht einmal kennt.