Das Erinnerungsbuch der ehemaligen Bundeskanzlerin wird hier anhand von zwei Fragestellungen angezeigt. In beiden Fällen habe ich die Thematik anhand anderer Bücher bereits nachgezeichnet – daran knüpfe ich an. Es geht um folgende Themen:
- Wieso ist es unter dem Normandie-Format nach Amtsantritt von Präsident Selenskyj 2019/20 nicht zu einer Verständigung mit Russland gekommen, obwohl dies explizit Selenskyjs Programm war? Diese entscheidende Phase hat Daniel Brössler in seinem Buch zu Kanzler Scholz, der mit seinem Amtsantritt die Konsequenz dieser Altlast aus der Zeit seiner Vorgängerin, den Ukraine Krieg, auf die Schultern gelegt erhalten hatte, ausgeblendet.
- Wie ist es zur Rücknahme der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in Deutschland nach dem Unfall von Fukushima gekommen, und das nur zwei Wochen vor den Landtags-Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, wo es prekär stand? Dies spielte in den Schäubleschen Erinnerungen bereits eine Rolle. Unklar blieb da, ob die Initiative (mit diesem wahltaktischen Motiv) von Westerwelle oder Merkel ausging.
Prinzip ihres Buches scheint zu sein, die Wahrheit zu berichten, aber selbstverständlich nicht die ganze Wahrheit. Deshalb lohnt es, das, was sie berichtet, zu beiden Themen in Kontexte zu stellen und durch Klartext-Interpretationen auf den Punkt zu bringen. Vielleicht hilft es dem Leser, der „ganzen Wahrheit“ näher zu kommen.
1. Abbruch des Ausgleichs zwischen der Ukraine und Russland unter dem Normandie-Format 2019/20
Am 24. Februar 2022 ist es zum militärischen Einmarsch Russlands in die Ukraine gekommen. Damit ist eine Steigerung der Mittelwahl, um nicht zu sagen der Bereitschaft zu mehr Brutalität, im Konfliktaustrag zum Ausdruck gekommen, welche die Zeitgenossen überrascht hat. Seitdem wird darüber gerätselt, weshalb dies nicht vorab wahrgenommen worden ist. Als Erklärung verbreitet ist die Personalisierung, die Projektion auf die Person Putin. Da gibt es dann zwei Varianten: Entweder Putin war, aufgrund seiner persönlichen Geschichte (als mit Mafia-Methoden vertrauter Ex-Geheimdienstler), schon immer so eingestellt und hat es nur erst 2022 „rausgelassen“; oder er habe sich in der Zeit der Isolation durch die Corona-Krise „radikalisiert“ – was erst 2022 deutlich geworden sei.
Frau Merkel übernimmt keines dieser beiden Narrative – die Corona-Krise aber ist für sie entscheidend, sie hält sie für den zentralen Anlass für den Weg in den kriegerischen Abgrund. Diese Pandemie habe Distanz erfordert und habe persönliche Begegnungen, insbesondere die mit dem besonders ängstlichen Präsident Putin, unmöglich gemacht. Persönliche Begegnungen aber seien unabdingbar erforderlich zur Klärung und Entschärfung konflikthafter Positionen.
Der Konflikt um die Ukraine hat sich in der Zeit nach Selenskyjs Amtsantritt zugespitzt – in diese Periode der ukrainischen Innenpolitik wird selten analytisch aufgeblendet. Der ukrainische Schauspieler Selenskyj hatte im Frühjahr 2019 zwei Wahlen klar gewonnen, die zum Präsidenten und anschließend mit seiner Partei die Mehrheit im Parlament. Erfolgreich war er bemerkenswerterweise mit dem Programm, anders als sein Vorgänger Poroschenko Frieden mit Russland schaffen zu wollen. Drei Wochen nach Amtsantritt, am 3. Juni 2019, hat Selenskyj verkündet, die Minsker Abkommen umsetzen zu wollen. In den Monaten danach machte er ernst: Um mit Putin ins Gespräch zu kommen, im Normandie-Format, dessen entscheidendes Treffen dann am 9. Dezember 2019 in Paris stattfand, übernahm er schrittweise, so die bislang einzige Darstellung dieser Phase des Konflikts, die Forderungen Russlands als ukrainische Position, bis hin zur Akzeptanz der sogenannten Steinmeier-Formel. Die war Ergebnis eines Normandie-Treffens im Außenminister-Format im Oktober 2015 in Paris gewesen, an dem Frank-Walter Steinmeier teilgenommen hatte. In der Formel ist beschrieben, in welcher Reihenfolge ein Sonderstatusgesetz für die Regionen Donezk und Luhansk in Kraft treten und die Anerkennung der Lokalwahlen durch die OSZE (ODIHR) erfolgen sollten. Mit dem Beschluss ergänzte diese Formel die Minsk-Abkommen.
Das alles, diesen Anlauf zum Frieden gemäß seinem Wahlprogramm, habe Selenskyj dann im Oktober 2020 abgebrochen. Der doppelte Grund für den Abbruch sei gewesen, so die maßgebliche Darstellung:
(i) Moskau nahm die ausgestreckte Hand Selenskyjs nicht;
(ii) Regionalwahlen in der Ukraine im Herbst 2020 signalisierten Selenskyj, dass die Bevölkerung seinen Kurs gemäß Wahlprogramm nicht länger mittrug.
Damit steht die Frage im Raume, was auf russischer Seite die Gründe der Verweigerung gewesen sein mögen. Die Merkelschen Memoiren klären das. Präsident Selenskyj hat nicht sämtliche Bedingungen der Minsk-Abkommen akzeptiert, einen überkommenen und zentralen Konfliktpunkt hat er vielmehr beibehalten – und dessen Beseitigung hätte eines Prozesses bedurft, in dem Putin schließlich zustimmt. Zu dem Prozess ist es nicht mehr gekommen; einmal deswegen, weil Putin anscheinend das Interesse oder das Zutrauen verloren hat, dass mit der ukrainischen Führung selbst mit einer solchen Programmatik eine Kooperation möglich sei; und, aus Sicht der Kanzlerin, die sich als Mediatorin verstand: weil mit Putin Corona wegen nicht mehr Aug in Aug zu verhandeln war.
Präsident Selenskyj jedenfalls hat nach den Regionalwahlen im Herbst 2020 das Steuer um 180 Grad herumgerissen. Motiv scheint gewesen sein, seine Macht zu stabilisieren. Er hat auch militärisch Konsequenzen gezogen. Damit griff er zur zweiten Politikoption, die nach der Darstellung von Frau Merkel von der ukrainischen Seite langfristig vorbereitet war:
„Parallel zu den Gesprächen im Normandie-Format verfolgte die Ukraine einen zweiten Ansatz. Sie bat westliche Staaten und die NATO um Waffen und militärische Ausrüstung sowie um die Ausbildung ukrainischer Soldaten. Auf dem NATO-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Warschau am 8./9. Juli 2016 beschlossen wir ein umfassendes Unterstützungspaket für das Land (Comprehensive Assistance Package for Ukraine). Diese Unterstützung der NATO sowie bilaterale Hilfen und bilaterale Waffenlieferungen einiger Länder, zu denen Deutschland nicht gehörte, ermöglichten es der Ukraine, sich erfolgreicher gegen die Attacken der Separatisten zu wehren. “
Seit 2015 ist in vielfältigen Programmen die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte (UAF) nach NATO-Maßstäben herbeigeführt worden. Auf diese Doppelgleisigkeit der ukrainischen bzw. westlichen Politik aufmerksam gemacht hat Bruno Tertrais, der Doyen der Sicherheits-Forschung in Frankreich, mit einer prägnanten Wortspiel-Formel. Das faktische Vorrücken der NATO-Strukturen auf Ukraine-Territorium seit 2015, ohne Mandat des NATO-Rates, sei ein Problem
„… as much about „NATO in Ukraine“ as about „Ukraine in NATO“ – and that the Ukrainian army might one day be able to recapture its occupied territories in the Donbas.”
Wenige Monate nach seinem programmatischen Kurswechsel um 180 Grad, am 24. März 2021, erließ Präsident Selenskyj tatsächlich ein Dekret über die „De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebietes der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“. Damit war befohlen, dass die Streitkräfte der Ukraine sich umgruppieren und entsprechende Stellungen im Süden vorbereiten, um das im Dekret erwähnte Ziel realisieren zu können. Im Klartext: Sie sollten sich für einen „Angriff“ im militärischen Sinne vorbereiten, der nur im völkerrechtlichen Sinne kein „Angriff“ sein würde.
Der Befehl Selenskyjs vom 24. März 2021 bot, wiederum in Worten von Bruno Tertrais ausgedrückt, für die russische Seite etwas Albtraumhaftes:
“A scenario that may keep Russian planners awake at night is that of a Western-assisted offensive in Eastern Ukraine to recover its territorial sovereignty – not unlike what Croatia did in 1994.“
Im April 2021 begann der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine in der Größenordnung von mehr als 100.000 Soldaten, angeblich zu Manöverzwecken. Es gab US-seits Proteste, im Vorfeld des Treffens mit Präsident Biden im Juni in Genf kam es auch zur Rückverlegung großer Teile des Personals, doch die schweren Waffen und die nur für den Ernstfall sinnvolle medizinische Vollausrüstung blieb vor Ort. Im Herbst 2021 strömte dann auch das Personal wieder ein. Da warnten dann auch die westlichen Geheimdienste ihre politischen Führungen.
Soweit zum objektiven historischen Geschehen als Folie, zum Buch der Ex-Bundeskanzlerin. Bei ihrer Darstellung des Entstehens dieser brenzligen Situation folgt sie der Maxime, sich zu den innenpolitischen Bedingungen der Außenpolitik ihrer Partner nicht allzu deutlich zu äußern. Frau Merkels Zugriff fokussiert Treffen im Normandie-Format. Mit dem neuen, zum Aufbruch gewillten ukrainischen Präsidenten gemeinsam gab es nur eines,
„am 9. Dezember 2019 in Paris, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Pandemie.“
Frau Merkel würdigt das Minsk Abkommen (seit 2015) in seiner dämpfenden Wirkung auf Kampfhandlungen positiv, auch wenn es nur zu einer ansatzweisen Umsetzung gekommen sei. Die Verantwortung für unvollständige Umsetzung weist sie klar zu: Bei den Kampfhandlungen sind es die Separatisten, also die russische Seite. Bei den administrativen Regelungen zum Status der faktisch abgespaltenen Gebiete ist es die ukrainische Seite. Der Grund für Letzteres:
„In der ukrainischen Regierung und im Parlament gab es starke Widerstände gegen den Teil des Minsker Abkommens, der für die Separatistengebiete nach Lokalwahlen ein hohes Maß an Autonomie vorsah.“
Zum Zeitpunkt des Normandie-Treffens in Paris am 9. Dezember 2019 sei Selenskyj unter großem Druck gestanden, aufgrund seiner innenpolitischen Konstellation:
„Anfang Oktober hatte <Selenskyj> den Konfliktgebieten im Donbass mehr Autonomie in Aussicht gestellt und sich zur sogenannten Steinmeier-Formel bekannt. … <Die> ergänzte das Minsker Maßnahmenpaket. Selenskyjs Amtsvorgänger Poroschenko hatte dieser Formel ausdrücklich zugestimmt. Nun reihte er sich in Kiew in eine Menge von fast 10.000 Demonstranten ein, die mit den Rufen »Nein zur Kapitulation! Nein zur Amnestie!« gegen Selenskyj, im Grunde jedoch gegen das Minsker Abkommen protestierten. Anders als im Abkommen vereinbart, wollten die Demonstranten wie schon Vertreter der Regierung und des Parlaments keine Autonomie der von den Separatisten besetzten Regionen und auch keine Amnestie derer, die dort Verantwortung trugen.“
Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass Selenskyj sich gemeinsam mit den übrigen Gipfel-Teilnehmern „zur vollständigen Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, einschließlich der Umsetzung der Steinmeier-Formel in ukrainisches Recht“ bekannte – gegen die dominanten Kräfte in seinem Lande. Doch einig in der Sequenz der Abläufe wurde man sich doch nicht, Selenskyj beharrte zur strittigen Sequenz von Kontrolle der Landesgrenze und Regionalwahlen auf der Position „zuerst Kontrolle“.
„Selenskyj wollte eine ukrainische Kontrolle vor den Lokalwahlen, im Minsker Maßnahmenpaket war diese erst für die Zeit danach vorgesehen. Bis dahin sollten ausschließlich die OSZE-Beobachter Zugang zur Grenze haben. Putin beharrte auf dem Wortlaut der Minsk-Vereinbarungen. Ich hatte Selenskyj empfohlen, das Vereinbarte aus übergeordneten Gründen nicht infrage zu stellen, … Pacta sunt servanda. … „Selenskyj blieb bei seiner Auffassung. Vielleicht hatte er auch innenpolitische Gründe, die Vereinbarungen von Minsk nicht vollständig zu akzeptieren, zumal sein Vorgänger nun auch von ihnen abgerückt war.“
Die genannten „innenpolitischen Gründe“ wurden von Seiten der Europäer sehr wohl gesehen und wohl auch akzeptiert. Das klärt Arkady Moshes in seiner zeitgenössischen Kommentierung des Gipfels-Ergebnisses vom Dezember 2019 mit diesem Satz, der alles erklärt:
„The other observation is the evident lack of European pressure on Zelenskiy, which was so feared before the summit. Presumably, Berlin and Paris are now cognizant of the fact that the price of Zelenskiy’s concessions could be deep destabilization in Ukraine, which, taking into account the presence of hundreds of thousands of recent frontline soldiers, would be much more difficult to contain than the conflict in Donbas.“
Es ist wie im Deutschen Reich nach 1918.
Verabredetet wurde, sich in vier Monaten in diesem Format wieder treffen. Doch im April 2020 war die Welt eine andere. Man kämpfte gegen ein Virus, an ein weiteres Normandie-Treffen sei nicht zu denken gewesen.
„Damit war auch jeder Gedanke an eine einvernehmliche Veränderung des Minsker Maßnahmenpakets, wie Selenskyj sie forderte, völlig illusorisch geworden. So etwas konnte, wenn überhaupt, allenfalls im persönlichen Gespräch gelingen.“
Dann macht die Ex-Kanzlerin einen zeitlich großen Schritt. Sie berichtet von dem Treffen zwischen Wolodymyr Selenskyj und Emmanuel Macron am 16. April 2021 in Paris – also ein Jahr und vier Monate nach dem letzten Normandie-Treffen in Paris. Frau Merkel war per Video bei einem Teil des Gesprächs zugeschaltet. Zur Vorbereitung hatten Macron und Merkel am 30. März 2021 ein Videogespräch mit Putin geführt.
Dabei habe sie erstmals das Gefühl gehabt, dass Putin das Interesse am Minsker Abkommen verloren hatte. Völliger Stillstand bei der Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk sei jedoch gefährlich. Außerdem habe Selenskyj Macron und Merkel am 16. April von über 100.000 russischen Soldaten berichtet, die sich nahe der ukrainischen Grenze aufhielten. Doch für ein weiteres Treffen im Normandie-Format habe es keine Chance gegeben, wegen seiner Sorge vor einer Coronainfektion mied Putin Kontakte. Wer ihn sprechen wollte, musste vorher in Quarantäne gewesen sein. „Das kam für uns nicht infrage.“
Putin habe eine bemerkenswerte Ausnahme gemacht, einer Einladung sei er trotz der Pandemie gefolgt: der von Präsident Biden am 16. Juni 2021 nach Genf. Das Ende der Kontakte zu Putin und damit die Öffnung für das Drama, welches sich dann entfaltete, schildert Frau Merkel so.
„Es war bezeichnend, dass er für den amerikanischen Präsidenten eine Ausnahme machte, aber schon seit mehr als einem Jahr kein persönliches Treffen mit uns Europäern für nötig hielt. Minsk war tot, davon war ich überzeugt. Wir brauchten einen neuen Anknüpfungspunkt mit Putin. Auf meinem letzten Treffen des Europäischen Rats in Brüssel am 24./25. Juni 2021 schlug ich deshalb einen baldigen Gipfel des Europäischen Rats mit Putin vor, um die zahlreichen Konflikte zwischen uns und Russland mit ihm direkt zu besprechen. Ich hatte diesen Vorschlag mit Emmanuel Macron vorher abgestimmt. Mein Gedanke traf auf Zustimmung, aber auch auf Ablehnung. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und der litauische Präsident Gitanas Nausėda widersprachen vehement. Eines ihrer Argumente war, dass wir uns in Fragen der Russlandpolitik in der Europäischen Union nicht einig seien. Ich erwiderte, dass ein gemeinsames Treffen mit Putin uns unter den notwendigen Einigungsdruck setzen würde. Außerdem argumentierte ich, dass es doch nicht sein könne, dass zwar der amerikanische Präsident mit Putin sprach, wir uns das aber nicht zutrauten. Ich konnte mich nicht durchsetzen.“
Frau Merkels Botschaften sind somit:
1) Europa hat sich im Vorfeld ihrer bislang schwersten Herausforderung gespalten, gemäß den Fronten, die mit der EU-Osterweiterung aufbrachen und seitdem gepflegt werden. Europa blieb im Verhältnis zu seinem dominanten Nachbarn nur die passive Rolle eines Objekts – das Heft des Handelns überließ es westlicherseits dem Patron, den USA.
2) Hinsichtlich der inneren Widerstände in der Ukraine, die es keiner Regierung möglich machten, trotz eines Wahlsiegs unter entgegengesetzter Programmatik, in einer relativ unbedeutenden Sequenzierungsfrage zu einer Umsetzung des Vereinbarten zu kommen, machen die Europäer die Augen zu. Öffneten sie die Augen, dann würden sie erkennen, dass die Regierung der Ukraine das Heft des Handelns angesichts der Existenz weiterer Kräfte im Lande nur sehr beschränkt in der Hand hat.
2. Rücknahme der Laufzeitverlängerung bereits nach dem ersten Tag der Katastrophe in Fukushima
Frau Merkel hat in der Zeit ihrer Koalition mit der FDP das Ende der Atomkraftwerke in Deutschland herbeigeführt. In diesem Punkt versucht die aktuelle Parteiführung eine programmatische Rücknahme zu lancieren – sachgrundfrei, allein aus Imagegründen. Deswegen scheint es heute lohnend zu klären, wer aus welchen Motiven heraus im März 2011 die Entscheidung geprägt hat, den nur gerade 10 Wochen alten Einstieg in die Laufzeitverlängerung umgehend ungeschehen zu machen.
An die Merkelsche Darstellung wird die banale Frage gerichtet: Welche Rolle spielten bei dieser Entscheidung schnöde taktische Erwägungen im Hinblick auf zwei Landtagswahlen im Südwesten am 27. März 2011?
Zum Hintergrund: In Stuttgart hatte sich die Konstellation eines Lagerwahlkampfes ergeben, Grün und Rot gegen Schwarz und Gelb. Auslöser dafür waren die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, die zu einem Höhenflug der Grünen in Umfragen geführt hatten. Dank der erfolgreichen Moderation durch Heiner Geissler war die Stimmung aber bereits wieder im Abflauen. Doch das Image des erst kürzlich ins Amt gelangten Ministerpräsidenten Mappus (CDU) war von ihm, sehr bewusst, im Laufe des Jahres zuvor, als die Laufzeitverlängerung öffentlich diskutiert wurde, als das eines eher bedenkenlosen Kernkraft-Befürworters betrieben worden, der sich innerparteilich gegen den für AKW zuständigen und in der Laufzeitfrage moderat agierenden Minister auf Bundesebene, Norbert Röttgen, profiliert hatte. Der Unfall in Japan entblößte, das war klar, die Achillesferse der herrschenden CDU-FDP-Koalition in Stuttgart, und das auf der Zielgeraden. Klar war auch, dass die FDP nicht unter die 5-Prozent-Linie rutschen durfte, dann wäre die Situation für die dortige CDU. aussichtslos.
Hinzu kam, wie eine Einladung, eine Konstellation, die eine schnelle und unkomplizierte Entscheidung begünstigte – die Kernkraftnutzung ist in der Sicherheitsaufsicht Ländersache. Im März 2011 war das Unwahrscheinliche gerade real: Die Ministerpräsidenten sämtlicher Bundesländer, in denen Kernkraftwerke liefen, hatten ein CDU-Parteibuch: Stefan Mappus (Baden-Württemberg), Horst Seehofer (Bayern), Volker Bouffier (Hessen), David McAllister aus Niedersachsen und Peter Harry Carstensen aus Schleswig-Holstein. Hinzu kam Bayern. Man konnte im CDU-Parteivorstand mit Wirkung für den föderalen Staat entscheiden.
Es lag auf der Hand, dass Parteistrategen in einer solch goldenen Situation erwägen, wie durch symbolisches Handeln der Achillesferse der CDU in Stuttgart Schutz geboten und der dortigen FDP ein Rettungsring hingeworfen werden konnte.
Das verheerende Seebeben in Japan trat nach unserer Zeitrechnung am Freitag, den 11. März 2011 morgens kurz vor 7 h (MEZ) ein. Abends gingen Bilder von einer Knallgasexplosion in Block 1 des Kraftwerksensembles Fukushima I über den Äther. Am nächsten Morgen war bereits von einer Kernschmelze in Block 1 die Rede. Diese Nachrichten treffen auf eine Situation in Deutschland, wo zwei Wochenenden später die Landtage und damit die Regierungen in Baden-Württemberg und Reinland-Pfalz neu bestimmt werden sollten. Dabei ist besonders die Situation in Baden-Württemberg affin für die Horrornachrichten aus Japan.
Frau Merkel stellt den Entscheidungsgang zum Ausstieg aus der Laufzeitverlängerung so dar. Sie beginnt mit einem Rückblick auf die Entscheidung ihrer Partei zur Laufzeitverlängerung, die Rücknahme des Ausstiegskonsenses der Regierung Schröder-Fischer. Sie stellt den Vorgang als etwas dar, dem sie eigentlich innerlich nie zugestimmt hatte, als eine Frage, wo sie parteiintern unterlegen war. Im Wortlaut:
„Mich aus energiepolitischen Gründen für die Kernenergie einzusetzen und gleichzeitig zu versuchen, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren, war im Rückblick betrachtet von vornherein zum Scheitern verurteilt, …. Damit hatte ich weder die vehementen Befürworter der Kernenergie noch ihre Gegner überzeugen können. Hinzu kam, dass das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit 33,8 Prozent für die Union noch schlechter als 2005 ausgefallen war und die FDP mit 14,6 Prozent phänomenal gut abgeschnitten hatte. Manche, die mich schon immer für zu kompromissbereit gehalten hatten, glaubten, dass sie jetzt endlich einmal keine Rücksicht auf mich nehmen mussten und CDU-Politik pur betreiben konnten, wie sie das nannten. Die FDP hatte sich durch das Wahlergebnis offenbar sowieso ermutigt gefühlt, alles anders zu machen als die Vorgängerregierung, meine erste Koalition mit der SPD. Das alles brachte mich in eine schlechte Verhandlungsposition.
In der Besprechung am 5. September 2010 hatten die anderen, allen voran Volker Kauder, der mich sonst immer unterstützt hatte, und der damalige Landesgruppenvorsitzende der CSU, Hans-Peter Friedrich, aber auch Finanzminister Wolfgang Schäuble, Innenminister Thomas de Maizière, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sowie die Vertreter der FDP, neben Guido Westerwelle Wirtschaftsminister Rainer Brüderle und die Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger, auf eine möglichst üppige Laufzeitverlängerung gedrängt. In dieser Situation hatte ich mich entschlossen, meine Kräfte in den Verhandlungen realistisch einzuschätzen, die Koalition nicht unnötig in eine Krise zu stürzen, und schließlich zugestimmt, die Laufzeiten der älteren sieben Kraftwerke um acht Jahre und die der anderen zehn um vierzehn Jahre zu verlängern. Mein Einwand, dass diese Entscheidung nicht als eine Verschiebung des Ausstiegs verstanden werden würde, sondern als Ausstieg vom Ausstieg, hatte nicht überzeugt.”
Es ging um viel Geld, da im begleitenden Geheimvertrag mit den Atomkraftwerksbetreibern denen das Recht zum Weiterbetrieb (“Laufzeitverlängerung”) von bereits voll amortisierten Kraftwerken als Zuschieben eines Vermögensvorteils interpretiert wurde, von dem sie die Hälfte an den Bundeshaushalt abzuführen hatten. Das erklärt das Verhalten der beteiligten Politiker, aber Frau Merkel tut so, als ob sie von einem solch schnöden Deal nichts wisse.
Vor diesem Hintergrund blendet sie dann ausführlich auf in das Gespräch, welches sie am Frühabend des Samstags, 12. März 2011, mit Guido Westerwelle, dem Vorsitzenden ihres Koalitionspartners, der FDP, in ihrem Büro im Kanzleramt führte. Die Darstellung an dieser Stelle ist außergewöhnlich, ist quasi- bzw. laien-literarisch,
“Ein Albtraum war Realität geworden, wenn auch nicht bei uns. Ich sprach von den 60.000 Menschen – 20.000 mehr als vorausgesagt –, die an diesem Tag von Stuttgart bis zum Kernkraftwerk Neckarwestheim eine 45 Kilometer lange Menschenkette gebildet hatten, um gegen die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke zu demonstrieren. Gleichzeitig hämmerte es in meinem Kopf: Wie willst du deine bisherige Argumentation weiter aufrechterhalten, dass die mit der Kernenergie verbundenen Risiken vertretbar sind, wenn jenseits aller Wahrscheinlichkeiten in einem so hoch entwickelten Land wie Japan ein solcher GAU stattfinden kann?
Ich blieb stehen, Guido Westerwelle auch, wir schauten uns an. Noch hatte ich keinen konkreten Plan, ich sagte nur: »Guido, wir können nicht einfach so weitermachen, wir müssen ohne Tabus neu über die Kernenergie nachdenken.«
Nach kurzem Schweigen fragte er mich: »Meinst du das ernst?«
»Ja«, sagte ich.
»Ich glaube, du hast recht«, antwortete er ruhig.
Wir vereinbarten, eine Nacht über die Dinge zu schlafen, am Sonntag im Laufe des Tages zu telefonieren und uns abends um 21 Uhr im Koalitionsausschuss wieder zu treffen.“
Was will die Ex-Kanzlerin mit einer solchen Darstellung sagen, mit einer Formulierung wie “wir müssen ohne Tabus neu über die Kernenergie nachdenken,”? Das Tabu, der Elefant im Raum, ist offenkundig die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. Dass dies es war, welches zwischen ihnen an diesem Abend faktisch wenn auch ungesagt verabredet worden war, ist dieser lapidaren Darstellung vom folgenden Tag, dem Sonntag, zu entnehmen:
“Nachdem Guido Westerwelle und ich uns, wie am Vorabend verabredet, telefonisch abgestimmt hatten, vereinbarten wir im abendlichen Koalitionsausschuss ein Moratorium: Die Laufzeitverlängerung wurde ausgesetzt, und die sieben ältesten Kraftwerke sollten für vorerst drei Monate stillgelegt werden.”
Man bemerke die ungewöhnlich weite Definition, die Frau Merkel für “Moratorium” als Sprachregelung setzt und dann weiter in ihrem Buch verwendet.
Zentrale Akteure aus CDU/CSU drängten zeitgleich von sich aus in dieselbe Richtung:
„Am folgenden Tag, Sonntag, dem 13. März 2011, äußerten sich auch der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus und der damalige bayerische Umweltminister Markus Söder öffentlich zur Reaktorkatastrophe, und zwar in einem Sinne, die meine Sorgen aufnahmen.”
Aus der Sitzung des Parteivorstands hält sie die Vereinbarung fest, diese weitreichenden Revisionsbeschlüsse erst nach einem Treffen mit allen Ministerpräsidenten der Kernkraftwerke betreibenden Bundesländer am Dienstagmorgen zu verkünden. Doch dazu kommt es nicht. Guido Westerwelle prescht öffentlich vor, am Montagvormittag erfährt Frau Merkel davon: ihr Vizekanzler habe öffentlich gesagt, “dass wir eine neue Risikoanalyse brauchten und er sich ein Moratorium vorstellen könne.”
Frau Merkel rief Westerwelle an und stellte ihn zur Rede.
“Er glaube sowieso nicht, erwiderte er, dass sich die Sache bis Dienstag geheim halten ließe, und deshalb sei er jetzt in die Offensive gegangen. Ich ärgerte mich, verstand ihn aber auch. Denn in der aktuellen Situation war derjenige der König, der am schnellsten zurückruderte.“
“König sein” kann nur heißen “Stimmen in Wahlen gewinnen”. Das war unzweideutig auf die beiden Wahlkämpfe in Süddeutschland gemünzt. Anders gesagt: Merkel und Westerwelle waren sich im Motiv für den Rückzug von der Laufzeitverlängerung einig – ohne das Unerhörte in Worte zu fassen. Der FDP-Chef war der erste, der es öffentlich machte, aber noch mit der verdeckenden Formulierung vom “Moratorium”, dessen Entsiegelung noch drauf harrte, vorgenommen zu werden.
Die Wahl zwei Wochen später zeigte, dass die Wahlkämpfer richtig kalkuliert hatten: Eine Katastrophe, Rauswurf der FDP aus dem Landtag, wurde zumindest in Stuttgart vermieden, lediglich zu einer Mehrheit für das bestehende Bündnis Schwarz-Gelb reichte es nicht. Aber es war knapp.