Ich will zu folgender „gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland“ vom 10. Juli dieses Jahres am Rande des Nato-Gipfels von Washington einige Pros und Contras benennen.
In diesem knappen 9-Zeilen-„Joint Statement“ heißt es:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6 (Standard Missiles), Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung (so wörtlich) dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Über die Zahl dieser Waffensysteme die in Deutschland stationiert werden sollen, gibt es bisher keine Angaben.
Wer die Kosten trägt und in welchem Umfang ist unbekannt. Mit Trump als Präsident der USA dürften die Kosten höchstwahrscheinlich auf Deutschland abgewälzt werden.
Auch wer die Befehlsgewalt haben wird, ist nicht angesprochen. Da die Waffensysteme im Rahmen der sog. Multi-Domain Task Force von den USA stationiert werden, um (so wörtlich) „die Handlungsfreiheit der US-Streitkräfte (zu) unterstützen“ , dürften sie dem amerikanischen Heereskommando in Europa (USAREUR) unterstehen. Es ist davon auszugehen, dass die deutsche Regierung nicht einmal ein Veto-Recht besitzt. Auch die Pershings aus den 80er Jahren waren der amerikanischen Befehlsgewalt unterstellt.
Die neue Qualität dieser Aufrüstung ist:
Mit der Stationierung solcher amerikanischen Waffensysteme ab 2026 werden zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des INF-Abrüstungs-Vertrags im Jahr 1988 von Deutschland aus wieder Ziele tief in Russland mit landgestützten Systemen strategischer Reichweite aus bedroht.
Das harmlos klingende „strategisch“ meint übrigens kriegsentscheidend.
Die Reichweite schließt nämlich Städte wie Moskau ebenso ein wie Basen der russischen strategischen Nuklearstreitkräfte, aber auch kritische Infrastruktur oder Industrie- und Rüstungspotenzial jedenfalls bis zum Ural.
Was sind die Unterschiede zum Nachrüstungs- oder „Doppelbeschluss“ von 1979:
– Erstens: Es handelt sich um eine Stationierung ausschließlich in Deutschland und nicht auch – risikoverteilt – in anderen NATO-Ländern. Wir hatten schon einmal Mittelstreckenraketen in Europa, nämlich nach 1983.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat damals massiv darauf hingewirkt, eine ausschließliche Stationierung in Deutschland zu vermeiden. Das Risiko wurde dann auch auf vier weitere Bündnispartner verteilt.
Obwohl die neue bilaterale Vereinbarung erhebliche Auswirkung auf die Sicherheitslage nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle anderen Bündnispartner hat, taucht die Stationierungs-Entscheidung in der Schlusserklärung des Gipfels anlässlich des 75. Jubiläums der NATO vom 9. bis 11. Juli dieses Jahres nicht auf. Im Gegenteil: In dieser Washingtoner Gipfelerklärung wurde die Bereitschaft zu Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt.
Die Stationierung ausschließlich in Deutschland widerspricht dem in der NATO verankerten Gebot der Risiko- und Lastenteilung. Mit der bilateralen Stationierung weicht Deutschland zum ersten Mal von seinem bisher strikt eingehaltenen Kurs ab, nämlich sich nicht singularisieren zu lassen und sich nicht herausragend zu exponieren.
Zweitens: Bei der bilateralen Erklärung fehlt eine rüstungskontrollpolitische Einhegung
1979 gab es einen sog. „Doppelbeschluss“ mit einer Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollperspektive, die ja dann 1988 auch zum INF-Abrüstungsvertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) führte. Etwa 3.000 Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten wurden danach abgezogen und großteils vernichtet.
Das SPD-Präsidium beteuert im August, dass Abrüstung erfreulich wäre, aber nicht mit Putin . Aber an die Erkenntnis, dass man mit den Feinden, die da sind, verhandeln muss, sollte sich die SPD noch erinnern können. Und was kostete es, Putin ein Verhandlungsangebot zu machen? Hätte die Bundesregierung bei einer Absage Moskaus nicht sogar ihre Behauptung einer Bedrohungslage untermauern können? Rüstungskontrolle ist doch gerade in Krisenzeiten wichtig.
Drittens: Anders als damals gab es keine vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion
Dem damaligen sog. Nachrüstungsbeschluss von 1979 ging eine intensive Diskussion auch innerhalb der NATO und auch im Bundestag voraus. Die damaligen Grünen waren übrigens damals vehement gegen die Stationierung von Raketen.
Bundeskanzler Scholz verkündete hingegen die gemeinsame Erklärung en passant des NATO-Gipfels schmallippig, ohne vorher das Parlament oder die Öffentlichkeit informiert zu haben.
Olaf Scholz schob als Erklärung nach: „Diese sehr gute Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung“.
Allzu lange konnte diese Vorbereitungszeit allerdings nicht gewesen sein. In einem erkennbar vom Kanzleramt „gebrieften“ Artikel von Georg Mascolo und anderen in der Süddeutschen Zeitung (v. 12.07.2024 S.6) heißt es, die Vereinbarung sei das Ergebnis „vertraulicher Gespräche mit den USA, die im Spätsommer vor einem Jahr (also 2023) begonnen haben“.
Olaf Scholz begründete weiter: Die Stationierung passe „genau in die Sicherheitsstrategie der Bundesregierung“. „Das haben wir in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ festgelegt. Ich habe das im Übrigen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz sehr ausführlich dargelegt und zur Debatte gestellt.“
Haben die Parlamentarier, die Medien und die Öffentlichkeit gar nicht bemerkt, was die Bundesregierung mit der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ beschlossen hat und was Olaf Scholz anfangs dieses Jahres in München gesagt hat?
In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom 14. Juni 2023 heißt es:) „Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern.“
Dass unter „abstandsfähig“ auch Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite fallen, wurde allerdings erstmals in der Erklärung vom Juli dieses Jahres offenbart.(Jochen Luhmann).
Es ist aber eher so, dass die gravierenden negativen Auswirkungen den in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ hervorgehobenen Zielen, nämlich Rüstungskontrolle oder Abrüstung zu fördern, widersprechen.
Auch in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar dieses Jahres war von einer bilateralen Erklärung über die Stationierung von amerikanischen Waffensystemen nicht die Rede.
Im Gegenteil in München schränkte Scholz die betreffende Passage über „abstandsfähige Präzisionswaffen“ sogar noch ein, indem er hinzufügte, dass wir darüber mit Frankreich und Großbritannien Gespräche führten.
Und in der Tat – ebenfalls am Rande des NATO-Gipfels – haben Polen, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichtserklärung zur Entwicklung weitreichender Abstandswaffen verabschiedet. Inzwischen ist auch Großbritannien beigetreten.
Auf Gerüchte über eine Stationierung von amerikanischen Langstreckenraketen „Dark Eagle“ in Mainz-Kastel schon Ende 2021 antwortete Staatssekretär Andreas Michaelis (s.S.27) am 10. Januar 2022 auf eine mündliche Anfrage von Sevim Dağdelen:
„Die Bundesregierung hat von der Regierung der Vereinigten Staaten die Auskunft erhalten, dass keine Raketensysteme in Mainz-Kastel stationiert sind und es auch keine Pläne der USA gebe, dort solche zu stationieren.“
Ein rein „exekutiver Akt“
Die Begründung, dass diese Erklärung ein rein exekutiver Akt sei und keiner parlamentarischen Zustimmung bedurft hätte, ist äußerst dünn. Eine nachträglich erstellte „Kurzinformation“ der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Stationierung von US-amerikanischen weitreichenden Waffensystemen in Deutschland – nebenbei bemerkt unter dem in diesem Zusammenhang eher zynisch wirkenden Logo „75 Jahre Demokratie lebendig“ – kommt unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 zum juristischen Ergebnis, dass die Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland ein rein exekutiver Akt sei, der weder die Rechte des Bundestags gefährde oder verletze noch gegen das Demokratieprinzip verstoße oder einem Gesetzesvorbehalt unterliege.
Die Rechtsgrundlagen, wonach die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt die Zustimmung zu dieser Vereinbarung geben konnte, „dürften (so heißt es wörtlich) auch hier wohl der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag“ ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 i.V.m. den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein. Die Stationierung von US-amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern (wiederum wörtlich) „dürfte sich ebenfalls im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen“. Als Beleg für diese Begründung wird genannt, dass die geplante Stationierung auf dem NATO-Gipfel im Juli verkündet wurde und die Vereinbarung auf die „Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO“ verweise.
In der Schlusserklärung des NATO-Gipfels in Washington taucht diese Entscheidung jedoch – wie schon erläutert – gar nicht auf. Die Bindungswirkung zur NATO ist eher rhetorisch. (So Heribert Karch, in der Berliner Zeitung v. 18.08.2024). Und ob ein „Commitment to NATO“ – wie es in der amerikanischen Fassung des „Joint Statement“ heißt, also eine „Verpflichtung“ der USA gegenüber der NATO, also einseitig und ohne einen Bündnisbeschluss sich noch im Rahmen des Bündnissystems „abspielt“, kann man auch in Frage stellen. Die juristische Begründung der Wissenschaftlichen Dienste ist jedenfalls ziemlich dünn.
Zurecht sagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich: „Eine solche weitgehende Entscheidung ist kein Verwaltungsakt, sondern bedarf der ernsten öffentlichen Abwägung aller Chancen und Risiken“, findet Mützenich. Zwar sei es nachvollziehbar, dass Deutschland sich um seine Sicherheit kümmert. Allerdings könnten die Raketen Ziele tief in Russland erreichen. Es brauche deshalb eine „offene Diskussion“ darüber, innerhalb seiner Partei und mit der Bevölkerung.
Eine einseitige Entscheidung der USA
Die Bundesregierung versucht den Eindruck erwecken, als handelte es sich um eine gemeinsame Entscheidung. In der Mitschrift der Pressekonferenz am Rande des NATO-Gipfels sagt Olaf Scholz dann aber genauer: „Die jüngste Entscheidung der USA sei „eine sehr verantwortungsvolle und sehr passende Entscheidung der Vereinigten Staaten“. Es handelt sich also um eine gemeinsame Erklärung zu einer einseitigen Entscheidung der USA.
Ist die Stationierung eine Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine?
In der politischen und medialen Darstellung wird allgemein der Eindruck erweckt, als handele sich bei der Stationierung von Langstreckensystemen in Deutschland um eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So ausdrücklich in einem Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin Siemtje Möller und des Staatsministers im Auswärtigen Amt Tobias Lindner an den Verteidigungs- und den Auswärtigen Ausschuss, in dem der „Hintergrund der jüngsten gemeinsamen Erklärung“ erläutert werden soll.
Noch am 15. Juni 2022 – also noch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – erklärte allerdings die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: Es gebe keine bilateralen Pläne zur Stationierung von weitreichenden Waffensystemen. (Drucksache 20/2284, Ziffer 8 )
Tatsache ist dagegen, dass schon 2017 – unter der ersten Präsidentschaft von Trump – mit der Planung einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee begonnen wurde, die auch Mittelstreckenraketen umfassen sollte.
Unter Präsident Biden wurde im April 2021 – also lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine –
entschieden, eine der 5 Multi-Domain Task Forces in Wiesbaden zu installieren.
Und im April 2024 fiel dann in den USA die Entscheidung Mittel- und Langstrecken-Hyperschallbatterien in Deutschland zu stationieren. Also 3 Monate vor der „gemeinsamen Erklärung“ im Juli 2024. (Jochen Luhmann)
Es handelt sich also um eine von langer Hand vorbereitete einseitige Entscheidung der USA.
Die Verquickung mit dem russischen Angriff auf die Ukraine, dient eher dazu mit der Angst vor Putin eine öffentliche Diskussion zu lähmen oder zu unterbinden. Mit der Stationierung wird auch kein Druck auf Russland ausgeübt, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden, vielmehr werden damit die Risiken einer Ausweitung des Konflikts auf Deutschland oder auf ganz Europa eher vergrößert.
Wenn aber der Vorwurf, Moskaus Propaganda zu unterstützen, eine gesellschaftliche Debatte und eine rationale Risikoabwägung über dieses wichtige Thema verhindert, so spielt das nicht nur Systemgegnern und Populisten in die Hände, sondern ein solche Debattenlücke schürt auch die Logik der Konfrontation und der Aufrüstung.
Der Ausgang der Parlamentswahlen in Sachsen und Thüringen hat CDU, SPD, Grünen und der FDP die Quittung für ihr Vorgehen ausgestellt.
Die Frage ist: Gibt es einen neuen Rüstungswettlauf?
Die Antwort Putins auf die Entscheidung folgte prompt: Russland werde im Fall einer Umsetzung der Pläne „spiegelbildlich“ reagieren kündigte Putin Ende Juli in einer Rede in Sankt Petersburg an. Die Gefahr eines Rüstungswettlaufs ist offensichtlich.
Und die neueste Nuklear-Doktrin Putins passt haargenau in diese Eskalation, dort heißt es dass eine Aggression gegen Russland durch einen Nicht-Atomwaffenstaat, aber mit Beteiligung oder Unterstützung eines Atomwaffenstaates, als gemeinsamer Angriff auf die Russische Föderation betrachtet wird und dass Russland Atomwaffen auch als Reaktion auf einen Angriff mit konventionellen Waffen einsetzen könnte, der eine „kritische Bedrohung“ der russischen Souveränität darstelle.
Und wenn der New Start-Vertrag – in dem sich Russland und die USA, sich zur Verringerung strategischer Waffen bekennen – Anfang 2026 ersatzlos ausläuft, werden wir überhaupt keine rechtsverbindlichen Vereinbarungen mehr haben, die einen nuklearen Rüstungswettlauf verhindern könnten.
Aus russischer Wahrnehmung entsteht eine Art Kuba-Analogie zu 1962. Es ist naheliegend, dass Russland die Stationierung bodengestützter Waffensysteme nicht als defensive Abschreckung auffasst, sondern als Aufbau der Fähigkeit zu einem Überraschungsangriff. (Wolfgang Richter)
Aus Moskauer Perspektive sind solche weitreichenden Waffen – auch wenn sie nur mit konventionellen Sprengköpfen bestückt sind – eben auch strategische Waffen, da sie grundsätzlich in der Lage wären, Elemente der russischen Nuklearstreitkräfte mit äußerst kurzen Vorwarnzeiten zu zerstören. Darüber hinaus kann man heute auch mit konventionellen Sprengköpfen strategische Ziele bekämpfen, wenn sie über die nötige Sprengkraft, Präzision und Reichweite verfügen. In den 1970er-Jahren hatten Langstreckenraketen eine Zielabweichung von bis zu zehn Kilometern. Heute sind es fünf bis zehn Meter. (Wolfgang Richter, Die Zeit v. 10.10.2024, S.11)
Umgekehrt besteht jedoch diese strategische Bedeutung zumindest für die USA nicht, sondern in erster Linie für Deutschland und danach auch für Europa. Denn Amerika liegt außerhalb der Reichweite russischer Mittelstreckenwaffen.
Läge es also nicht im deutschen Interesse, trotz der anhaltenden russischen Aggression gegen die Ukraine ein „Wie Du mir, so ich Dir“-Raketenwettrüsten zu verhindern?
Ist die Stationierung eine Reaktion der USA auf die russische Aufrüstung?
Außenministerin Annalena Baerbock gab ausschließlich Putin die Schuld für die nun beginnende Wiederaufrüstung, dieser habe schon seit Jahren „unsere gemeinsame Friedensarchitektur gebrochen“.
Jedenfalls formal haben allerdings die Amerikaner wesentliche Abrüstungsvereinbarungen, die sie zuvor mit den Russen geschlossen hatten, gekündigt. Dazu zählt der ABM-Vertrag, der Open Sky-Vertrag und auch der INF-Vertrag. Und was auch nicht in Vergessenheit geraten sollte: Nach dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag hat Russland und der damals noch bestehende Warschauer Pakt sämtliche Truppen aus Deutschland und anderen osteuropäischen Staaten abgezogen.
Der westliche Vorwurf, Russland habe etwa den INF-Vertrag, über nukleare Mittelstreckenraketen gebrochen, wurde von Moskau stets bestritten.
Im Gegenteil: Russland behauptet, die USA hätten diesen Vertrag durch die Stationierung von Raketen in Rumänien und in Polen, verletzt. (Siehe auch Arno Gottschalk, Iskander in Kaliningrad)
Wenn es Differenzen in der Wahrnehmung und der Interpretation von vertraglich geregelten Sachverhalten gibt, versuchen Vertragspartner üblicherweise Streitfragen in Verhandlungen zu klären. So verlangen es auch die Verträge.
Überdies hatte Russland den USA mehrfach ein gegenseitiges Stationierungsmoratorium und Inspektionen angeboten.
Das zentrale Motiv für die Kündigung des INF-Vertrages durch Donald Trump scheint deshalb ein anderes gewesen zu sein. Trumps damaliger Sicherheitsberater John Bolton hat das auch offen ausgesprochen, er teilte seinem russischen Amtskollegen Nikolai Patruschew am 23. Oktober 2018 bilateral mit:
Es gehe nicht um Russland. Die USA versuchten vielmehr mit Chinas Potential an Mittelstreckenraketen um die Taiwanstraße, die auch eine Bedrohung für die in diesem Raum stationierten amerikanischen Flotte darstellen, mitzuhalten. (So z.B. Rüdiger Lüdeking u.a. Vertreter der BRD beim Büro der UN in Wien in der Süddeutschen Zeitung v. 24.08.2024) So wurde auch Japan eine entsprechende Einheit zugesagt.
Besteht eine Fähigkeitslücke?
Verteidigungsminister Pistorius meint: „Wir holen jetzt das nach, was wir als Fähigkeitslücke beschreiben.“
Immer wieder wird argumentiert, dass Russland schon längst eine Überlegenheit bei Mittelstreckenraketen, bei Marschflugkörpern mit (Zolfaghar-) Raketen aus dem Iran und Nordkorea, mit Hyperschall-Marschflugkörpern, mit der ballistischen Iskander SS 26 usw. habe.
Auf nachvollziehbare Zahlen, Daten und Fakten zu den militärischen Fähigkeiten Russlands im Vergleich zu denen der NATO wartet man bislang vergeblich. Es fehlt eine substantiierte Analyse der Bedrohungslage.
Auch werden die bisher verfügbaren Fähigkeiten der NATO in Europa, aus der sich Fähigkeitslücken ableiten ließen, nicht bewertet.
Selbst hohe Militärs wie etwa Brigadegeneral Maik Keller räumt ein, dass es bei der Stationierung landgestützter Raketen nur um einen Gewinn an „Flexibilität“ gehe. Deutlicher gesagt, geht es weniger um Abschreckungsfähigkeit, sondern um „Überraschungsfähigkeit“.
Das Argument mit der Fähigkeitslücke mag zutreffen, wenn man ausschließlich auf landgestützte Mittelstreckenraketen abstellt.
Die Kritiker von landgestützten Raketen gehen allerdings davon aus, dass jedenfalls die NATO als Ganzes umfassende Abschreckungsmöglichkeiten hat. Denn die 32 NATO-Partner geben nach einer dieser Tage veröffentlichten Studie von Greenpeace derzeit etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland (1,19 Billionen US-Dollar zu 127 Milliarden US-Dollar). Selbst ohne die Ausgaben der USA und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft bleibt ein deutliches Übergewicht zugunsten der NATO bestehen. Und ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Waffen mit taktischen und strategischen Reichweiten von bis zu 2.000 Kilometern sichern eine enorme Überlegenheit gegenüber Russland.
So wie Iskander-Raketen bei St. Petersburg oder in Kaliningrad Ziele in den baltischen Staaten, in Finnland, Polen oder Deutschland bedrohen, können umgekehrt 2200 Kampfflugzeuge oder eine Vielzahl an U-Booten, von denen aus Cruise Missiles gestartet werden können, auch Ziele in der russischen Enklave Kaliningrad oder tiefer in Russland angreifen. Umgekehrt können doch die zur NATO gehörigen baltischen Staaten selbst mit Kurzstreckenraketen St. Petersburg und Kaliningrad erreichen.
Wenn es eine Überlegenheit Moskaus geben sollte, warum werden dann diese weitreichenden Waffen ausschließlich in Deutschland stationiert und nicht etwa auch in Ländern wie etwa Polen, Finnland oder den baltischen Staaten, die Russland viel näher liegen? Wenn die Bedrohung wirklich so akut ist, warum beginnt die Stationierung dann erst in zwei Jahren? Und schließlich: Wenn Russland es nicht einmal schafft die Ukraine zu erobern, wie kommt man dann auf die Idee, dass die Russen einen dem weitaus stärksten Militärbündnis der Welt angehörenden NATO-Staat angreifen könnten?
Was hat sich eigentlich seit 1968 an dem Argument geändert, das Helmut Schmidt, damals noch als Militärexperte seiner Partei, in seinem Buch »Verteidigung oder Vergeltung« genannt hat?
Er schrieb damals: Landgestützte Systeme gehörten nach Alaska, Labrador, Grönland…, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete. Sie seien Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners.
Im Ausgangspunkt besonderer Gefahren ausdrücklich benannten Oblast Kaliningrad oder in Belarus, wo Russland seine bedrohenden Waffen stationiert haben soll, wohnen 68 Einwohner pro Quadratkilometer, in Belarus 46.
Wiesbaden hat dagegen eine Bevölkerungsdichte von 1.400 Einwohner auf einem Quadratkilometer.
Dienen die Raketen der Abschreckung?
Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte in der Tagesschau: „Mit der neuen Bedrohungslage, die von Russland ausgeht, geht es jetzt um die Frage, wie schrecken wir effektiv ab…Wir sind in der Lage und bereit, uns zu verteidigen. Also jeder Schlag gegen uns wird auch beantwortet werden, und das konventionell.“
Liegt die Entscheidung über den Einsatz dieser Waffen aber nicht fernab in Washington und nicht bei uns?
Der gewiss US-freundliche Vorsitzende der „Atlantik Brücke“ und frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel fragt in einem Interview mit der Rheinischen Post zurecht: „Wie wirksam ist die gewünschte Abschreckung, wenn jeder weiß, dass im Falle des Einsatzes das eigene Land der totalen Zerstörung preisgegeben wäre? Das ist der Grund, warum die USA immer klar gemacht haben, dass sie ihr strategisches nukleares Waffenpotenzial gegen Russland nur einsetzen würden, wenn sie selbst durch solche Nuklearwaffen bedroht wären. Also nicht etwa, wenn Europa betroffen wäre. Damit ist ein potenzielles nukleares Schlachtfeld klar definiert: Es liegt in Europa.“
Wir brauchen Abschreckung, aber wir brauchen eben auch Dialog und Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung, um eine weitere Destabilisierung der internationalen Beziehungen zu verhindern. Um aber einen Rüstungswettlauf zu verhindern, müsste eine defensiv orientierte Abschreckung zumindest auch mit der erklärten Bereitschaft zum Dialog flankiert werden, der Wege aus der Konfrontation aufzeigt.
Selbst wenn man die Abschreckungsthese für richtig hält, so entsteht jedenfalls durch die Raketenstationierung ein steter Alarmzustand auf beiden Seiten. Das kann zu Fehlwahrnehmungen, Fehlalarmen führen. Die Tomahawsk können wegen ihrer bodennahen Flugweisen erst sehr spät vom Radar ausgemacht werden und die geplante Hyperschallrakete fliegt mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit. Je kürzer die Vorwarnzeiten sind, desto größer ist die Gefahr einer präemtiven, also einer zuvorkommenden Kurzschlussreaktion. (Wolfgang Richter, Badische Zeitung v. 17.10.2024)
Bei einer Abschreckungsstrategie kommt es gerade auch auf die Wahrnehmung oder der Perzeption des Gegners an. Wenn Russland die Stationierung als Möglichkeit eines
Überraschungsangriffs sieht, könnte dies den Präemptionsdruck auf Seiten Russlands erhöhen, insbesondere in Krisenzeiten, die einen Druck auslösen können, selbst zuerst präemptiv zu handeln. Zumal Russland im Falle eines Verteidigungskrieges von einer Unterlegenheit bei der konventionellen Rüstung ausgehen muss, die es nur nuklear ausgleichen könnte.
Und wenn auch nur der Verdacht besteht, dass die weitreichenden Waffen nuklear bestückt sein könnten, dann entsteht daraus sogar die Gefahr eines nuklearen Präventivschlags und zwar gerade weil Russland durch den Krieg gegen die Ukraine z.B. durch hohe Verluste schon jetzt geschwächt ist. Und der erste Schlag würde jedenfalls dem Land gelten, wo die Abschreckungswaffen stationiert sind, nämlich Deutschland.
Droht man also mit der Stationierung nicht seinem potentiellen Gegner mit etwas, das für einen selber gefährlicher ist als für den Gegner?
Meint Pistorius wirklich, dass mit diesen Raketen die Angriffsfähigkeit Russlands völlig ausgeschlossen werden kann, man also einen Enthauptungschlag führen könnte? Hätte Moskau nicht Langstrecken-Atomraketen weit außerhalb der Reichweite der jetzt geplanten US-Raketen? Bedeutet das nicht eine Abschreckung mit einer Drohung zum Selbstmord?
Ganz deutlich wird diese gefährliche Logik in einem Erklär-Video des wichtigsten politischen Beraters von Verteidigungsminister Pistorius, nämlich Dr. Jasper Wiek. Er sagt in dem einem Erklär-Video des Verteidigungsministeriums:
In gleicher Weise argumentiert der Unterabteilungsleiter für euro-atlantische Sicherheitspolitik im Verteidigungsministerium, Brigadegeneral Maik Keller, der im Zusammenhang mit der Raketenstationierung zu folgendem Bild greift:
Die beiden hohen Militärs bemerken offenbar gar nicht mehr, was sie damit preisgeben: Sie reden nämlich damit von einem überraschenden Entwaffnungserstschlag seitens des Westens in Russland das Wort. (Jochen Luhmann)
Abschließend will ich noch ein Tabu in der öffentlichen Diskussion ansprechen:
Nämlich, dass es unterschiedliche nationale Interessen zwischen denen der USA und Deutschlands gibt.
In der am 19. April 2024 aktualisierten Fassung über die Bedeutung der Multi-Domain Task Force heißt es, „der Kongress hat seine Besorgnis über die von Russland und China ausgehende Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA zum Ausdruck gebracht“ und die MDTF sei das „organisatorische Herzstück“ um dieser (nationalen) Bedrohung zu begegnen. Daraus wird deutlich, dass die “Stationierung weitreichender Waffensysteme in erster Linie der nationalen Sicherheit der USA und nicht etwa der Sicherheit Deutschlands oder Europas vor der russischen Bedrohung dienen soll.
Es liegt doch auf der Hand, dass das primäre nationale Interesse der USA ist, dass das eigene Territorium bei einem Krieg möglichst unberührt bleibt. Umgekehrt müsste die Bundesregierung in Deutschland doch alles dafür tun, dass es keinen auf Deutschland und Europa begrenzten Krieg gibt.
Im schon zitierten Interview sagt Sigmar Gabriel dazu: „Für uns Deutsche gibt es bei dieser Stationierung eine besonders heikle Frage: Die Stationierung solcher Waffensysteme hat ja immer das Ziel, dass sie nie eingesetzt werden, weil die gegnerische Macht weiß, dass es am Ende nur Verlierer gibt. Das Problem aller nuklearen Strategien in Europa ist aber, dass für den Fall, dass es trotzdem einmal zum Einsatz solcher Waffen kommen könnte, Zentraleuropa und damit Deutschland immer das Schlachtfeld wäre, auf dem ein solcher Schlagabtausch ausgetragen würde.“
Die Kernfrage ist also: Dient die Raketenstationierung eher den Schutzinteressen Deutschlands oder dient unser Land nicht eher der „Handlungsfreiheit“ der US-Streitkräfte und damit als potentielles Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA, das ja von russischen Mittelstreckenraketen gar nicht erreicht werden kann?
Der Text basiert auf einem Referat, das ich am 20.11.2024 in Hagen auf Einladung des SPD Ortsvereins Mittelstadt/Oberhagen und vielen Friedensinitiativen gehalten habe. Dabei stütze ich mich auch auf Texte und Argumente von Wolfgang Richter, Joachim Krause, Michael Staak, Hans-Peter Bartels/Rainer Glatz in WIFIS aktuell, Die Debatte um US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, Herausgegeben von Johannes Varwick, Verlag Barbara Budrich 2025. Das Bändchen kann auch als E-Book heruntergeladen werden eISBN 978-3-8474-3265-4