1. Der Kampf um die Deutung der Nachkriegszeit ist eröffnet
Kanzler Scholz will seiner Verantwortung zum Krieg in der Ukraine offenkundig gerecht werden. Nachdem er zunächst seinen Finanzminister zur Klarheit in der weiteren Finanzierung des deutschen Anteils in der Ukraine-Unterstützung in den Offenbarungseid gezwungen hat, will er anscheinend das G-20-Treffen am 18./19. November 2024 in Rio de Janeiro nutzen, diesen Krieg auch physisch einem Ende näher zu bringen. Der Westen ist nicht bereit bzw. in der Lage, die Unterstützung der Ukraine in der bisherigen Höhe auch nur ansatzweise fortzusetzen. Also muss sich jemand finden, der dieses realisiert und die Konsequenz daraus zieht. Das tut Olaf Scholz. Chapeau.
Zu diesem Zweck hat er zunächst mit Donald Trump gesprochen, am Freitag, den 15. November, dann mit dem Präsidenten Russlands ein einstündiges Telefonat geführt, was er vorher im Westen angekündigt hatte. Diese Mitteilung des Bundespresseamtes sagt über das Substantielle des Gesprächs nichts aus. Die offizielle russische Darstellung ist deutlich informativer.
Wirklich bemerkenswert ist aber die Stellungnahme von Präsident Selenskyj zu dieser Entwicklung. Hier im Wortlaut.
„Chancellor Scholz told me that he is going to call Putin. Olaf’s call, in my opinion, is Pandora’s box. Now there may be other conversations, other calls. Just a lot of words. And this is exactly what Putin has wanted for a long time: it is crucial for him to weaken his isolation. Russia’s isolation. And to engage in negotiations, ordinary negotiations, that will lead to nothing. As he has been doing for decades. This allowed Russia to change nothing in its policy, to do nothing substantial, and ultimately it led to this war. We understand all these challenges now. We know how to act. And we want to warn everyone: there will be no Minsk-3; what we need is real peace.“
Das Außenministerium der Ukraine ging noch weiter. Es rückte die Scholzsche Initiative in die Nähe eines „Appeasement-Versuchs“.
Diese Vorgänge gilt es einzuordnen. Wir befinden uns im Endspiel. Scholz will – zu Recht – die Initiative nicht dem kommenden Präsidenten in den USA (alleine) überlassen, er folgt der Überzeugung, dass die Europäer selbst sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern haben. Dazu gehört ein verabredeter Waffenstillstand in der Ukraine, von Selenskyj umgehend als Minsk-3 delegitimiert. D.h. er signalisiert: Er ist nicht bereit, unter das, was Scholz für den Westen anstrebt, seinen Namen zu setzen.
Entscheidend für Selenskyj ist die Perspektive nach Abschluss eines solchen Abkommens. Dafür baut er vor. Historisch gesehen gilt nämlich das für ihn bedrohliche sog. Hannah-Arendt-Gesetz:
„Seit dem Ersten Weltkrieg <kann> keine Regierung und kein Staat stark genug sein, eine Niederlage im Krieg zu überstehen.“
Doch es gilt für ihn noch weit mehr, was nur aus einer Perspektive geschichtlicher Analogien verständlich wird. Deswegen treten wir historisch einen Schritt zurück.
2. Waffenstillstand in der Ukraine – die Analogie zu 1918 ff
Wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages zu Ende gegangen sein wird, wird er wahrscheinlich in einen Waffenstillstand zwischen den regulären Armeen beider Seiten (lediglich) ausgelaufen sein. Bereits der abebbende Kriegsverlauf, aber nicht nur der sondern auch das, was kommt, wenn die Waffen offiziell schweigen, wird dem ähnlich sein, was wir nach dem Waffenstillstand, der den Ersten Weltkrieg „beendete“, erlebt haben. Erlebt haben wir damals Viererlei.
- Die Reichswehr-Verbände entzogen sich teilweise der zentralen Befehlsgewalt, wechselten die Uniformen und kämpften weiter, für Dritte.
- Die massive Verkleinerung der staatlich legitimierten bewaffneten Verbände („Reichswehr“) nach Kriegsende und die Perspektivarmut vieler junger Männer, die als berufliche Fertigkeit allein die Anwendung von Gewalt ausgebildet hatten, führte zu einer Verbreitung irregulärer Truppen („Freischärler“).
- In Deutschland war die Antwort auf die Frage, wer für die Niederlage des Deutschen Reiches verantwortlich sei, von hoher Bedeutung. Dies mutierte auch zu der Frage, wer verantwortlich sei, dass nicht „durchgekämpft“ worden sei. Ergebnis war die sog. „Dolchstoßlegende“ – mit unterschiedlichen Besetzungen des Trägers des Dolches.
- Im Ergebnis waren die Friedensverträge von Versailles und anderer Pariser Vororte nicht mehr als der Beginn einer Verschnaufpause, bis dieser Krieg rund 20 Jahre später großflächig weiter ausgekämpft wurde – das gilt sowohl für Europa als auch für Ostasien. Auf Schauplätzen wie Polen/Sowjetunion sowie Griechenland/Türkei war die zeitliche Spanne des Übergangs in erneute Kriege in nur wenigen Jahren bemessen.
3. Die kommende Dolchstoßlegende in der Ukraine nach einem Waffenstillstand
Wenn es in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Waffenstillstand im diesmaligen Ukraine-Krieg gekommen sein wird, dann wird in der Ukraine Bilanz gezogen werden. Dann wird mit hoher Intensität gefragt werden: Wofür sind so viele von unseren Söhnen und Partnern in diesem Krieg verletzt und getötet worden? Wofür die vielen materiellen Zerstörungen und Entwertungen? Hätte das nicht ganz anders kommen können? Woran hat es gelegen, woher die massive Diskrepanz zwischen der hohen Zahl von uns erbrachter Opfer und dem Wenigen, das damit erreicht wurde?
Erster Sündenbock wird somit die Regierung Selenskyj sein. Präsident Selenskyj hat bekanntlich den populären Feldherrn Saluschnyj entlassen – ein „Hindenburg“ steht somit schon bereit.
Das aber wird nicht reichen. Es liegt nahe, dass die Stimmung des Volkes in der Ukraine zu der Auffassung gelangen wird: Es lag am Westen. Auf dessen Versprechungen haben wir uns verlassen – und er hat dann das Erforderliche nicht geliefert. Diese Antwort entspricht funktional dem, was für Deutschland nach dem desolaten „Ergebnis“ des Ersten Weltkrieges die „Dolchstoßlegende“ war. Die populistische Fassung der Antwort in der Ukraine wird lauten: Der Westen hat uns stellvertretend für ihn, zu dessen Schutz, kämpfen lassen. Von ihm, unseren angeblichen Freunden und Unterstützern, sind wir in die Falle des „Durchkämpfens“ gelockt worden, wo wir zunehmend weniger Unterstützung erhielten. Faktisch sind wir „verraten“ worden. Ablesbar sei das auch an dem geringen Umfang der Hilfe nach Beendigung der Kriegshandlungen. Der versprochene Marshall-Plan zum Wiederaufbau sei weitgehend ausgeblieben.
Was sich nun andeutet, ist, dass nicht abstrakt „der Westen“ zum Zielpunkt des Blame-Game gemacht wird, sondern kalkuliert innerhalb des Westens diskriminiert wird – Deutschland soll isoliert und zum Bösen Buben gemacht werden. Intention ist, die bei den EU-Europäern angelegt Spaltung im Verhältnis zu Russland zu betonen und zu vertiefen.
4. Gewalt nach einem Waffenstillstand in der Ukraine
Wenn es zu einem Abkommen zwischen den beiden kriegführenden Staaten gekommen sein wird, mit dem Inhalt, dass ihre jeweiligen Streitkräfte die Waffen schweigen lassen, so wird das nicht das Ende des Krieges im Sinne einer Auseinandersetzung mit Gewalt sein. Es wird informell weiter gekämpft werden, ukrainischerseits geführt von enttäuschten Gruppen gewalterfahrener Personen. Das Analogon nach 1918 waren die Kämpfe im Rheinland gegen Frankreichs Besatzungstruppen sowie die Beteiligung ihrer Uniformen entledigter Reichswehrverbände gegen die sowjetischen Truppen im Baltikum und in Polen.
Die nächste ukrainische Regierung, die nach einem Waffenstillstand ins Amt gelangen wird, wird zudem, wie im Deutschen Reich nach 1918, nicht in der Lage sein, ein Gewalt-Monopol über bewaffnete Gruppen auf ihrem Territorium durchsetzen können. Das ist nicht zu erwarten, das ist bereits den Präsidenten Poroschenko und Selenskyj nach der Maidan-Revolution im Februar 2014 nicht gelungen. Die vom ukrainischen Geheimdienst lancierten und offen eingestandenen extra-legalen Tötungen von „Kollaborateuren“ hinter der Frontlinie, auf besetztem Gebiet, dienen der Vorbereitung einer solchen dann asymmetrischen Form der kriegerischen Auseinandersetzung. Dann kämpfen verdeckte Kämpfer gegen staatliche Kombattanten.
Die Kleinwaffen und Munition, die sie einsetzen werden, werden vermutlich überwiegend aus den Beständen von Waffen stammen, die vom Westen in der Periode des regulären Kriegs geliefert worden sind. Die dann herrschende verdeckte Form der Subversion will zudem finanziert werden. Es liegt nahe, die erforderlichen Mittel zum Teil über Verkäufe aus den vom Westen gelieferten Beständen militärischen Geräts zu generieren.