Die Debatte plätscherte vor sich hin. Als der Grünen-Abgeordnete Uwe Hüser als sechster Redner noch einmal auf Details einging, die seiner Fraktion in den Gesetzespaketen zum „Vereinsförderungsrecht“, zur Verbesserung des Gemeinnützigkeitsrechts“ oder zu „Steuerlichen Erleichterungen für die Sportvereine und andere gemeinnützige Vereine“ fehlten, machte sich im Plenum Unmut breit. „Monotone Leierei“ rief ihm ein Zwischenrufer aus den Reihen der Union zu. Tatsächlich es schien alles gesagt zu den Gesetzen, die unter dem Schlagwort „Übungsleiter-Pauschale“ Ausschüsse und Plenum seit Wochen beschäftigten.
Die Rednerliste war längst noch nicht abgearbeitet, als der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Karl-Heinz Spilker, als nächster am Rednerpult stand und dem Plenum verkündete: „Bevor ich zu meinem Thema komme, möchte ich Ihnen eine Meldung vorlesen, die ich im Moment erhalten habe.“ Bevor er weiter reden konnte, schallte es ihm aus den Reihen der SPD entgegen: „Wir kennen sie schon.“
Worauf Spilker mürrisch fortfuhr: „Ich kannte sie nicht – Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“ Und fast entschuldigend fügte er hinzu: „Ich dachte, dass es mir ausnahmsweise gestattet ist, das fernab vom Thema mitzuteilen.“
„Darfst Du“, rief ihm jovial der SPD-Mann Wilfried Penner zu, als habe Spilker den Zwischenstand eines x-beliebigen Fussballspiels durchgegeben.
Die Bedeutung, die fundamentale, ja weltpolitische Änderung dieser Meldung, so richtig war sie im Plenum nicht angekommen. Wie also Weitermachen mit der Tagesordnung, in der so weltbewegende Fragen wie die steuerliche Förderung von Karnevalsvereinen oder Philatelie-Clubs abgearbeitet werden sollten?
Während die einen unbekümmert ihre vorbereiteten Redetexte abarbeiteten, ahnte der Christdemokrat Ferdinand Tillmann, dass es angesichts der „sensationellen Meldungen“ kleinkariert wirken könnte, sich darüber zu streiten, ob Übungsleiter in Sportvereinen eine steuerfreie Pauschale von 2400 DM oder 3600 DM gestattet würde. Aber schließlich, so fand er für sich den Dreh, sei das eine Frage, die wichtig sei für alle Bürger in beiden Teilen Deutschlands, die sich für die Förderung des Sports interessierten.
Nein, keine Frage, die Tagesordnung musste abgearbeitet werden, das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gehörte auch an einem solchen Tag ins Protokoll. Als das erledigt war, unterbrach Bundestagspräsidentin Annemarie Renger um 20.22 Uhr für einige Minuten die Sitzung. Und als sie um 20.46 Uhr wieder eröffnet wurde, hatte das Hohe Haus den Epochenwechsel endlich verstanden. Alle, die noch in der Nähe des kleinen Regierungsviertels waren, strömten in den provisorischen Plenarsaal im Wasserwerk.
Für die Regierung gab Kanzleramtschef Rudolf Seiters eine kurze Lage Einschätzung ab, weil Kanzler Helmut Kohl auf Auslandsreise in Polen war. Die Fraktionsvorsitzenden folgten mit kurzen, nüchternen Erklärungen. Emotional wurde es, als Hans-Jochen Vogel für die SPD den Blick auf Willy Brandt richtete, der 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin war, als „dieses inhumane Bauwerk errichtet wurde“. Brandt saß in der ersten Reihe, wirkte in sich gekehrt, schien die Reden über sich ergehen zu lassen. Am Ende eines langen Traums, am Ende eines jahrzehntelangen Mühens?
Alles Kleinkarierte war verflogen. Als sich die Anwesenden am Ende spontan zum Singen der Nationalhymne erhoben, war im Hohen Haus jene Würde eingekehrt, von der im Klein-Klein der Gesetzesarbeit noch wenige Stunden zuvor wenig zu spüren war.