Damals, Mitte der 80er Jahre, sah sich Oskar Gröning nur als „Rädchen im Getriebe“ des nationalsozialistischen Regimes. Ein paar Jahre zuvor war er, der ein Bediensteter im KZ Auschwitz war, freigesprochen worden aus Mangel an Beweisen. Aber seit dem wegweisenden Urteil gegen den Ex-SS-Wächter John Demjanuk hat sich die Sichtweise und damit die Rechtsprechung geändert. Demjanuk wurde schuldig gesprochen, weil er im KZ beschäftigt war. Es musste nicht mehr bewiesen werden, ob er wirklich einer der blutigen Schläger im KZ war, nein, das Gericht verzichtete auf den Nachweis einer konkreten individuellen Handlung, die mit den Tötungen zusammenhingen. Gröning, ein Greis von 93 Jahren, muss sich wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 ungarischen Juden verantworten, so die Anklage der Staatsanwaltschaft. Auch wenn er schuldig gesprochen wird, er wird wegen seiner körperlichen Gebrechen nicht mehr ins Gefängnis müssen. Gleichwohl ist das Verfahren für die wenigen Überlebenden des KZ eine Genugtuung, eine späte Anerkennung der Schuld der Mittäter.
Gröning war ein kleines Licht, wie Tausende anderer. Aber er hat mitgemacht, irgendwie. Zeugen von damals wollen ihn an der Rampe stehen gesehen haben, als ihre Familienmitglieder ankamen und selektiert wurden. Aber Gröning, der Buchhalter von Auschwitz, saß auch im Büro, als die ungarischen Juden zwischen 1942 und 1944 in das KZ transportiert wurden. Er registrierte das Geld und die Kleider, im Grunde alles, was den Juden bei Ankunft abgenommen wurde und gab es der SS weiter.
Der ehemalige SS-Unterscharführer Gröning, einer der letzten, denen der Prozess gemacht wird. Im Grunde ist es fast ein Wunder, dass es noch dazu gekommen ist. Über Jahrzehnte waren die Verfahren verzögert worden, die meisten Auschwitz-Aufseher blieben auf freiem Fuß. Und so spricht man heute auf Seiten des Auschwitz-Komitees von einem „Gedenktag der Versäumnisse“.
Immerhin geht es um Mord, wobei es den Nachkommen der Toten nicht um das Strafmaß geht, sondern darum, dass sie vor ein Gericht gestellt werden. Weil sie dabei waren, mitgemacht haben. Oder wie es einer der Staatsanwälte formulierte: Gröning habe mit seiner Tätigkeit das systematische Töten der Nazis unterstützt und der SS Vorteile verschafft durch seine Arbeit als Buchhalter. Anders ausgedrückt: Die Menschenvernichtung in den KZ war nur möglich, weil die Bediensteten in den KZs ihre Arbeit zuverlässig verrichteten. Die Organisatoren des Holocaust wussten, dass sie sich auf die Leute verlassen konnten.
Was jetzt in Lüneburg vor Gericht passiert, ist auch eine Anklage der deutschen Justiz. Warum eigentlich kommt Gröning erst jetzt mit 93 Jahren vor ein ordentliches Gericht? Warum haben die Auschwitz-Prozesse erst in den 60er Jahren begonnen? Ohne die mutige Arbeit des damaligen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wäre es nicht dazu gekommen, zumindest nicht in den 60er Jahren. Im Film „Im Labyrinth des Schweigens“ wird diese Geschichte nachdrücklich erzählt. Ein Streifen, der zum Pflichtprogramm des Geschichts-Unterrichts werden sollte. Ja, warum wurde das alles so lange verschwiegen, warum wurden die Gehilfen immer frei gesprochen?
Warum, warum? Die Antworten auf viele peinliche Fragen finden sich in dem Standardwerk mit dem Titel: „Furchtbare Juristen“. Der Autor, Prof. Ingo Müller, schildert in diesem einmaligen Werk, wie die deutsche Justiz die Nazis hofierte und wie sie mitmachte. Ein Großteil von ihnen durfte nach dem Ende der Nazi-Zeit seinen Dienst einfach fortsetzen oder gar aufsteigen, als wäre nichts gewesen. Aber immerhin haben wir eines erreicht, wie es bei Prof. Müller heißt: „70 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs, nachdem auch der letzte seiner Juristen gestorben ist, redet niemand mehr von der Notwendigkeit, endlich einen Schlussstrich zu ziehen“.
Auschwitz, das war die Hölle. Dort allein wurden rund 1,3 Millionen Menschen ermordet, die Gesamtzahl der Opfer des Holocaust wird auf fünf bis sechs Millionen geschätzt. An der Ermordung der europäischen Juden waren Deutsche, Judenfeinde, willfährige Helfer der SS in allen Teilen Europas, das von Deutschland besetzt war, beteiligt. „Geplant und in Gang gesetzt hatte den Völkermord das nationalsozialistische Deutschland. Ohne den festen Willen zur Vernichtung der Juden, ohne die Disziplin des damit betrauten Personals, ohne die Kapazitäten der hochentwickelten Industriemacht Deutschland wäre das Projekt nicht zu verwirklichen gewesen“. Zu diesem Urteil kommt einer der angesehensten Historiker der Bundesrepublik, Heinrich-August Winkler. Nachzulesen in seinem Standartwerk „Geschichte des Westens“.
Viele haben es gewusst, viele haben mitgemacht. Aber nachher wollte es keiner gewesen sein. Oskar Gröning räumte im Prozess seine Schuld ein.“ Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch schuldig gemacht habe. Diese moralische Schuld bekenne ich auch hier mit Reue und Demut vor den Opfern. Ich bitte um Vergebung.“
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