Das Protokoll hat seine letzten Worte als Kanzler verschluckt. Der Redner taucht nicht auf – als sei er längst abgeschrieben. An jenem denkwürdigen 1. Oktober 1982, an dem die FDP den fliegenden Wechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl vollzog. Mit seiner bewegenden Abschiedsrede hatte der noch amtierende Bundeskanzler den Ton angegeben. Eine große Rede, die die Republik gespannt an Radios und TV-Bildschirmen verfolgte. Doch das Ende der Kanzlerschaft konnte sie nicht aufhalten. Die Stunden waren gezählt. Die von Kohl ausgerufene „geistig moralische Wende“ stand bevor.
Wie die aussehen könnte? Das ließ in der Debatte CDU-Generalsekretär Heiner Geißler aufblitzen. Ihn empörte, dass sich Hildegard Hamm-Brücher, die große Liberale, ihre Gewissensentscheidung nicht von der Parteiraison verbieten lassen wollte. Und sich dabei auf die Prinzipien des Christentums berief.
Sie könne nicht einfach gegen Schmidt stimmen, mit dem sie und das gesamte Kabinett bis zum Schluss vertrauensvoll zusammengearbeitet habe. Das verstehe sie als eine „christliche Reaktion“. Im Übrigen: „Ich finde, dass beide dies nicht verdient haben. Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen.“
Ihr Mut beeindruckte die Sozialdemokraten so sehr, dass Fraktionschef Herbert Wehner noch während der Debatte einen Blumenstrauß besorgen ließ, den er Hamm-Brücher wortlos reichte. Dass die Liberale mit ihrer Aussage auch den Nerv großer Teile der Bevölkerung getroffen hatte, war dem Jesuitenschüler Geißler klar. Deshalb holzte der CDU-Mann, sprach Hamm-Brücher und anderen FDP-Abweichlern das Recht ab, sich bei ihrer Entscheidung auf „christliche Grundsätze“ berufen zu dürfen und warf ihnen vor: „Was ich hier gehört habe an Appellen, an Ressentiments und Emotionen, kann ich teilweise nur verstehen als Anschlag auf unsere Verfassung.“
„Lebhafter Beifall“ registriert das Protokoll in den Reihen der CDU/CSU und bei einigen Liberalen. Andere FDP-Abgeordnete reagieren mit Wut und Entsetzen. Und die SPD-Fraktion ist empört.
In dieser aufgeheizten Stimmung eilt Helmut Schmidt ein letztes Mal von der Regierungsbank zum Rednerpult. Ungeplant, spontan. So spontan, dass er mit seinen emotionalen Abschlussworten in der Rednerliste des Protokolls gar nicht auftaucht. Wie ein Vulkan bricht es aus ihm heraus, der Zorn ist ihm ins Gesicht geschrieben: „Wenn die freie Meinungsäußerung eines Abgeordneten oder einer, die ankündigen, nach ihrem Gewissen zu reden und zu handeln, bezeichnet wird als ein Anschlag auf unsere Verfassung…“
Wütende Zwischenrufe unterbrechen ihn. Kohl, der Schmidt in wenigen Minuten ablösen will, ahnt die Wirkung, weiß, dass sein Generalsekretär die Stimmung vergiftet hat und ruft dazwischen: „Das stimmt doch gar nicht!“ Unterstützt vom Zwischenruf-Grummeln seiner Fraktion. Schmidt wiederholt: „…als ein Anschlag auf unsere Verfassung…“ Noch größere Unruhe in der CDU/CSU-Fraktion. Und da bricht es aus Schmidt heraus: „Ich habe nur die Absicht, drei Sätze zu reden, und ich bitte mich ausreden zu lassen.“ Und noch einmal steigert sich sein Zorn, als er die ertappten Schreier auf den Noch-Oppositionsbänken unter stürmischem Beifall seiner Fraktion schneidend belehrt: „Noch habe ich das Recht, hier zu reden.“
Wer Jahrzehnte später diesen Auftritt in Fernsehaufzeichnungen verfolgt, erkennt, dass sich Schmidt dieses Recht von niemandem hätte nehmen lassen, dass er es genoss, auf dieses Recht zu pochen. Und dass er an diesem 1. Oktober 1982 abgeschlossen hatte mit jener FDP, die Kohl ohne Wahlen ins Kanzleramt beförderte.
Der Zorn, kurz aufgewallt, scheint plötzlich verflogen. Schneidende Analyse, der letzte Satz: „Wenn das ein Anschlag auf die Verfassung sein soll, dann muss sich die Führung der FDP fragen, ob sie wirklich mit einer solchen Illiberalität und Intoleranz eine Verbindung eingehen will.“
Drei Sätze, die es in sich haben. Drei Sätze, die den Wende-Architekten Hans Dietrich Genscher niemals los gelassen haben. Drei Sätze, die wie im Brennglas das Format des scheidenden Kanzlers Helmut Schmidt belegen.
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de