Mit einer journalistischen Punktlandung wartete der Berliner Tagesspiegel zum Wochenbeginn auf. Die Schlagzeile der Blattmacher lautete: „Eine Epoche ist vorüber. Günter Grass ist tot“. Zu sehen war der Mann aus Danzig mit Pfeife und grauem Schnauzbart, der Schriftsteller, der den Trommler Oskar Matzerath erdachte, diesen trommelnden Gnom, der deutsche Vergesslichkeit über die Nazizeit so übel nahm, dass er beschloss, Kind zu bleiben, um nicht so zu werden, wie die erwachsenen Verdrängungskünstler um ihn herum.
In der jungen Bundesrepublik, geduldig gepäppelt vom Kölner Altoberbürgermeister Konrad Adenauer, konnte die Tätergeneration, embedded in ihren Lebenslügen, immer wieder mitteilen: „Wir haben nichts gewusst!“, mit dem später obligatorischen Nachsatz: „Irgendwann muss ja mal Schluss sein.“ Dagegen trommelte Oskar an. Aber wer wird schon gern erinnert, wenn er doch partout vergessen will..
Günter Grass, Schöpfer des Oskar, der die wunderbare Saga „Die Blechtrommel“ literarisch in Szene setzte und vorlebte, dass man um verlorene Heimat trauern und dennoch guter Nachbar der neuen Bewohner sein konnte. Grass gab der großen Lebenslüge Kontra, und das brachte ihm Häme und Hass, Gift und Galle, aber auch den Literaturnobelpreis ein. Meine letzte Begegnung mit ihm war in Berlin, als der bei Steidl edierte Sammelband „Was würde Bebel dazu sagen“ in der berühmten Kneipe „Bonner Vertretung“ auch mit einem Aufsatz aus seiner Feder vorgestellt wurde. Zwei Jahre ist das her. Seine Pfeife qualmte, er ließ sich das Kölsch schmecken, und er war besorgt über den Gesundheitszustand seiner Frau.
Wir erinnerten uns beide an den Moment, an dem er den damaligen Kanzler Gerhard Schröder ermutigte, „Nein“ zu sagen und Front zu machen gegen die Leitartikler im deutschen, vor allem auch Hamburger Blätterwald, die von ihm Unterstützung für den Irak-Krieg forderten, den US-Präsident George W. Bush als Antwort auf den Terroranschlag gegen das World Trade Center in New York vom Zaun brechen wollte. Das Nein aus Berlin brachte die deutsch-amerikanischen Beziehungen nur kurzfristig in Gefrierpunktnähe. Es durchzuhalten, dafür war auch das Gespräch mit dem großen Literaten ein stabilisierendes Element. An diese Begegnung im Kanzleramt in Berlin, bei der ich zugegen war, erinnert sich Gerhard Schröder gern.
Mit dem Tod von Günter Grass hat die Republik eine gewichtige Stimme verloren. Nur wenige wagten sich derart einzumischen und hatten zugleich als moralische Instanz Geltung. Letzteres war ihm eher unangenehm. Viele Nachrufe wollen ihm nun Abbitte leisten und ihm gerecht werden. Dazu passend der Nachruf der Schriftstellerin Eva Menasse, die in der „Zeit“ zum Tod des robusten, klugen und doch so geerdeten Kaschuben schreibt: „Vielleicht hat Günter Grass alle seine Neider und Hasser mit nichts mehr aufgebracht, als dadurch, dass er unbeirrbar er selbst blieb: vielfältig begabt und durchsetzungsfähig, politisch, parteiisch und stur, liebesfähig und beleidigt und (…) zutiefst verwickelt mit der Welt.“
Dankeschön für diesen Nachruf, dieses klar lobende Bekenntnis zu widerständigem Handeln, ob schreibend oder redend oder im täglichen Engagement.
Es ist unsere humanistische Grund-Haltung, auf der wir beharrlich bestehen sollten, denn sie eint global, und zwar jenseits von religiösem Fundamentalismus. Im Sinn der „goldenen Regel“ – sie kommt ja in Varianten in allen Weltreligionen vor, war auch die Kritik von Günter Grass an starren Aspekten israelischer Regierungspolitik durchaus berechtigt und sinnvoll.