Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich ein Krieg entwickelt, der zahlreiche Lehren bereithält. Gleiches gilt für den Krieg um Gaza. Aber wer lernt?
Dem Lernen zugewandt sind Militär, Kriegsindustrie und einschlägige Medien weltweit. Sie verzeichnen die Waffen im Einsatz, ihren Gebrauch, Nutzen, Verbrauch, sie notieren die Neuerungen und das entbehrlich gewordene Gerät, die Kosten an Mensch und Material, sie kalkulieren die kommunikativen Anforderungen der moralischen Aufrüstung im Innern, der Propaganda nach außen, der Lobby-Arbeit in den Gremien der Politik. Militär, Kriegsindustrie und einschlägige Medien sind in ihrem Element
Wer lernt noch?
Es lernen die obersten Kriegsherren in der Russischen Föderation und in der Ukraine, aber nur in begrenztem Umfang. Man darf annehmen, dass Präsident Putin seit langem vom Blitzsiegfieber genesen ist und dass Präsident Selenskyj nicht länger an den Erfolg der Sommeroffensive glaubt, vielleicht glauben sogar beide, dass es jetzt reicht. Aber haben sie gelernt, dass es im 21. Jahrhundert mitten in Europa nichts Dümmeres gibt, als es auf einen Krieg ankommen und ihn ungeachtet der täglichen Verlust-Erfahrungen ausufern zu lassen?
Man darf das bezweifeln. Warum sollten sie auch? Wenn sie sich umschauen, treffen sie auf lauter Staatsmänner, die die Trommel rühren, um stark gerüstet „kriegstüchtig“ zu werden. Jetzt sage bitte niemand, ich hätte diesen Satz erfunden. Ich rede vielmehr von einem allgemein verbreiteten aktuellen Programm, das nach Aussage seiner Verfechter nur von „unverantwortlichen Elementen“ in Frage gestellt werde.
Geschenkt, ich bin Freidenker. Ich beobachte den Krieg mitten in Europa und den mitten in der ebenso dicht bevölkerten Levante und sehe nur Elend, nichts Erhebendes. Wer vor Ort kann, läuft davon. Leider können das nicht alle, mit der Unterstützung dieser oder jener Kriegspartei hat das Ausharren nichts zu tun. Die Leute sind nicht Meister des eigenen Schicksals, sondern Figuren in der Schießbude des „Kriegstheaters“ und seiner Regisseure.
Aber, lautet der Einwand, die Staatsmänner wollen doch nicht kriegstüchtig werden, um Krieg zu führen, sie wollen doch nicht aufrüsten, um im Krieg die besten Waffen anzuwenden, sie dämonisieren die andere Seite doch nicht als Inkarnation des Bösen, um sie im Krieg moralisch besser niedermachen zu können, nein, all das geschieht, um den Frieden zu erhalten.
Ich nehme den Einwand hin und gestehe den Verantwortlichen zu, dass sie daran glauben.
Glauben, stille Einfalt im Sinne der Bibel, ist nicht ehrenrührig, doch kein guter praktischer Ratgeber, wenn es um Krieg und Frieden geht. Der Historiker des Krieges, der ich bin, hat gelernt, dass Aufrüstung Krieg nie verhindert, sondern stets wahrscheinlicher gemacht hat. Er hat gelernt, dass Krieg nicht nur Kombattanten und Zivilisten tötet, sondern den Zuschauern noch in der Distanz die Sinne vernebelt. Er hat gelernt, dass unter dem Morden auch die Befürworter der gerechten Sache, ja sogar die Profiteure der Gewaltorgie leiden, was die Sache aber nicht besser macht. Zorn und Eifer ergreifen ganze Gesellschaften und verderben den Verstand.
Wer auf die Wirklichkeit schwört und die historischen Erfahrungen rational würdigt und abwägt, weiß, dass es hinreißende Kriege nur in der Propaganda gibt. Er weiß, dass Abschreckung nur gegen den hilft, der sich abschrecken lässt. Er weiß, dass mehr Waffen mehr Gefahr bedeutet – ganz wie im zivilen Leben. Und er weiß seit den Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1973 bis 1975), dass nichts stärker gegen die Kriegsdrohung und für die Erhaltung des Friedens wirkt als Verträge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung und die strikte Überprüfung ihrer Einhaltung.
Die KSZE von Helsinki hat 30 Jahre Kalten Krieges beendet und in Europa 40 Jahre Ruhe bis zum nächsten Kalten Krieg gesichert, eine herausragende Leistung. Sie hat aber nicht allen gepasst.
Die Kräfte, die nicht Vertrag und Ausgleich, sondern Verfeindung und Krieg hochhalten, sind leicht zu identifizieren. Es sind einmal die Leute, die es autoritär an die Spitze ihrer Völker geschafft haben und ihre Herrschaft primär auf die staatlichen Gewaltapparate und ihre Nutznießer stützen; es sind sodann die Eigner und Parteigänger der militärisch-industriellen Komplexe und ihre akademischen wie medialen Anhängsel, die auch in demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnungen zur Power Elite gehören. Hier wie da wird der Anschauungsunterricht von Krieg geschätzt, um die Modernisierung der Waffenarsenale auszurichten und zu rechtfertigen, hier wie da sind Militär- und Rüstungsausgaben ein bombensicheres Geschäft zu Lasten der Steuerpflichtigen. Und wer bezahlt? Nicht die Reichen, die werden nicht arm dabei.
Unter demokratischen Verhältnissen muss sich eine Bürgerschaft das nicht gefallen lassen. Sie kann und sollte darauf dringen, dass der Weg zurück zu Vertrag, Rüstungskontrolle und Abrüstung geebnet wird. Der Weg wurde in den 1970ern gegangen, er kann wieder gegangen werden.