Nun ist er wieder da, der Hofreiter Anton. In den „Tagesthemen“, im „heute journal“, im „Spiegel“. Ein bisschen zurechtgestutzt, im feinen Dreiteiler mit Seidenkrawatte, aber im bekannten Ton: Wer für ein Ende des Blutvergießens unter den Soldaten an der ukrainisch-russischen Kriegsfront und unter den Zivilisten im ganzen Land demonstriert, ist de facto ein Putin-Freund. Gleiches gilt für die Kritik an der Stationierung von Langstreckenraketen im dicht bevölkerten Rhein-Main-Gebiet. Da können Teilnehmer wie ich so oft betonen, wie sie wollen, dass in Putins Namen und auf Putins Geheiß menschenverachtende Kriegsverbrechen begangen werden, dass Putin also ein Kriegsverbrecher ist. Für Hofreiter & Co steht fest: Wir sind Freunde Putins.
Anton Hofreiter ist mit seiner Flucht nach vorn, in die Verteufelung des Eintretens für Diplomatie, weiß Gott nicht allein, aber er symbolisiert auf eine ganz besondere Weise das Klischee, wie man vom „Linken“ zum „Vernünftigen“ konvertiert. Wenn ich darin nur Hilflosigkeit erkennen würde, wäre mir schon wohler. Denn hilflos fühlen wir uns doch alle angesichts der wiederauferstandenen Missachtung jeglicher Humanität, der kriegerischen Brutalität und der Unterordnung von Moral unter die skrupellose Durchsetzung von Interessen in vielen Teilen der Welt, in Wort und Tat, nicht nur, aber besonders durch Putin.
Die Haltung, die aus der Diskreditierung jeglicher Kritik an der ausschließlichen Fokussierung aufs Militärische spricht, drückt aber nicht Hilflosigkeit aus, sie ist zutiefst unehrlich. Wer Gespräche mit Aggressoren rundweg ablehnt, wer gar diejenigen, die solche Gespräche für notwendig halten, als Freunde der Aggressoren abstempelt, wer aber gleichzeitig nicht zusehen will, wie eine nach und nach allein gelassene Ukraine gerade so mit Waffen versorgt wird, dass es nicht zum Überleben, wohl aber zum langsamen Ausbluten mit weiterem hunderttausendfachen Sterben auf beiden Seiten der Front reicht, der sollte den Mut aufbringen zu sagen, was er offenbar für unumgänglich hält: Krieg.
Das ist übrigens keine neue Erkenntnis. Man musste sie von Anfang an gewinnen. Wer geglaubt hat, man könne Putins imperiale Besessenheit heilen, indem die Ukraine „den Krieg gewinnt“, ohne ihn ins russische Territorium zu tragen, war von Beginn an unehrlich. Man kann nicht einmal ein Fußballspiel gewinnen, bei dem man sich ausschließlich auf die eigene Spielhälfte beschränkt – schon gar nicht, wenn die gegnerische Mannschaft dreimal so groß ist. Es hatte schon einen Sinn, dass der Bundeskanzler sich auf das Ziel beschränkte, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen. Hofreiter und mit ihm auch viele Vertreter meinungsleitender Medien forderten aber immer wieder das Bekenntnis ein, die Ukraine müsse ihn gewinnen. Bemerkenswert ist, dass andere Sprachrohre wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Norbert Röttgen (CDU) den Lautstärkeregler deutlich zurückgedreht haben.
Ich erinnere mich allzu gut an das Interview des Anton Hofreiter am 27. Februar 2024 im „heute journal“, in dem er dem Kanzler die Ablehnung der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern als Schwäche und Verantwortungslosigkeit ausgelegt hat. Was von Oppositionsseite durchgehen mag, ist als vom Koalitionspartner der Kanzlerpartei benannter Vorsitzender des Europaausschusses eine inakzeptable Fehlleistung. Offenkundig ist die Selbsterkenntnis der Hofreiterschen Denkschule so schmerzhaft, dass man die Beruhigung des eigenen Gewissens nur findet, wenn man die anderen als verantwortungslose Träumer oder gar Freunde Putins in Misskredit bringt. Vielleicht hat das seinen Anteil daran, dass die schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine bestehende Absicht der USA, in Europa und dort nur in einem deutschen Ballungsgebiet Raketen großer Reichweite zu stationieren, ohne jede Debatte akzeptiert wurde.
Um es klar zu sagen: wer auf Diplomatie setzt und glaubt, man könne mit Putin zu einer Regelung kommen, die auf Treu und Glauben basiert, wäre wirklich naiv. Aber allen zu unterstellen, sie hätten Verständnis für den Kremlchef, wenn sie versuchen, sich in seine Denke hineinzuversetzen, führt geradewegs in eine blindwütige Konfrontation, die leicht in einer Katastrophe enden kann. Jemanden verstehen wollen und Verständnis für ihn haben, sind zwei grundverschiedene Dinge.
Was für eine Treuherzigkeit spricht aus der Haltung der Hardliner hierzulande, dass ein skrupelloser Mann, dessen Wohl und Wehe im eigenen Land davon abhängt, seinen Herrschernimbus zu wahren, nicht alle ihm verfügbaren Register zieht, bevor er kleinlaut beidreht und seine (womöglich auch physische) Existenz damit besiegelt wäre? Zu diesen Registern gehört bekanntermaßen sein Atomwaffenarsenal.
Dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten am 3. Oktober in Berlin mit der Friedensbewegung auf die Straße gehen, ist gut. Dass Ralf Stegner dort spricht und den Wunsch nach Frieden nicht der einseitigen Interpretation anderer überlässt, ist noch besser. Deshalb gibt es einen eigenen Aufruf.
Ein Ende des massenhaften Sterbens auf beiden Seiten lässt sich nur durch ein abruptes Schweigen der Waffen erreichen. Wenn keine Seite der anderen traut, geht das ganz sicher nicht allein über vertragliche Abmachungen ohne Durchsetzungsautorität, Kontrolle und – im Fall der Verletzung – im Vorhinein beschriebene glasklare Sanktionen. Auch das schließt die Gefahr eines Krieges nicht vollkommen aus. Aber es ermöglicht, das Damoklesschwert in die Bevölkerungen aller beteiligten Länder hinein weithin sichtbar zu machen. Die Menschen in allen Ländern wollen keinen Krieg. Aber in allen Ländern sieht die Mehrheit die Schuld an den Gräueln bei den anderen.
Daraus kann es nur eine Schlussfolgerung geben: Es braucht Vermittler mit Zugang zu allen Seiten und der notwendigen Autorität. Und es braucht die Bereitschaft aller Beteiligten, sich auf einen sofortigen, kontrollierten und gegebenenfalls mit Sanktionen bewehrten Waffenstillstand einzulassen, dem dann aller Voraussicht nach langwierige Friedensverhandlungen folgen müssen. Im Ergebnis läuft das auf etwas hinaus, das nicht nur für Anton Hofreiter ein rotes Tuch sein dürfte: das Einfrieren des heißen Konflikts. Die Alternative heißt Krieg, mindestens für die Ukraine, schlimmstenfalls weit darüber hinaus. Gegen dieses Spiel mit dem Feuer gehe ich am 3.10. mit auf die Straße und wünsche mir viele, die es auch tun. Trotz aller zu erwartenden Versuche, den Aufruf zum Frieden zu diskreditieren.