„Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen“, schrieb Adolf Hitler im Februar 1930 in einem Brief an einen Nazi-Sympathisanten in den USA. „Dort sind wir heute die ausschlaggebende Partei. Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.“ Dabei hatte die NSDAP gerade mal 11,3 Prozent der Stimmen gewonnen, also weit weg von der Mehrheit. Und doch diese Selbstgewissheit des braunen Führers. Zum ersten Mal war die NSDAP nach der Wahl am 8. Dezember 1929 Teil einer Regierung geworden, was keine großen Proteste auslöste, hier und da kam es zu kritischen Äußerungen. Hitler, kommentierte später der Historiker der TU Chemnitz, Alexander Gallus(52), sei begeistert gewesen von der Symbolkraft des thüringischen Weimar. Er habe die demokratische Verfassung Weimars gehasst, die Stadt aber, in Goethe und Schiller gelebt hatten, geliebt.
Nein, Berlin ist nicht Weimar, die Verhältnisse heute sind andere, räumen Historiker ein. Wir leiden nicht unter dem Trauma der Niederlage des Ersten Weltkrieges mit hohen Reparationen und Gebietsverlusten, es gibt auch keine Dolchstoßlegende, die Zeiten sind andere, gewiss, die Demokratie wirkt stabiler als die von Weimar, die wenig Zeit hatte, sich beliebt zu machen bei seinen Bürgerinnen und Bürgern. Und doch gibt es warnende Stimmen, den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD nicht zu unterschätzen. Schließlich ist sie in Thüringen bei der letzten Landtagswahl stärkste Partei geworden. Eine Partei, die vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird und deren Landeschef Björn Höcke als Faschist bezeichnet werden darf. Diese AfD hat gerade bei der Konstituierung des neuen Landtags in Erfurt bewiesen, wie man mit Tricks demokratische Spielregeln außer Kraft setzen kann. Wie man ein Spektakel organisiert zu Lasten der Demokratie, die man ohnehin zerstören will. Das mit dem Hohen Haus nehmen die Rechtsextremen ohnehin nicht so genau, eher machen sie sich lustig über demokratische Institutionen, weil sie die beseitigen wollen. Am Ende siegte die Demokratie, es wurde ein CDU-Mann Landtagspräsident. Aber wir stehen ja erst am Beginn der Legislaturperiode, da kann noch manches passieren, die AfD hat mit ihren über 30 Prozent eine Sperr-Minorität, die entscheidend sein kann bei der Wahl von Verfassungsrichtern zum Beispiel. Und wie wird das werden, wenn sie ihre Verfassungsrichter einsetzen kann, nach dem Vorbild der PIS in Polen?
Hitler sah in Thüringen 1930 einen Testlauf für die Machtübernahme der Nazis im Reich. Die NSDAP hatte bei den Landtagswahlen 1929 einen Stimmenanteil von 11,3 Prozent erzielt, eine Verdreifachung ihres bisherigen Anteils. Und weil die konservativen-rechtsbürgerlichen Parteien(Thüringer Landbund, Wirtschaftspartei, Deutschnationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei) nicht mit der SPD regieren wollten, öffneten sie den Nazis die Tür zum Eintritt in eine Regierung. Erstmals wurden NSDAP-Mitglieder Minister. Und Hitler wusste, wo man den stärksten Einfluss nehmen konnte. Er schaltete sich persönlich in die Gespräche ein, reiste nach Weimar und setzte durch, dass sein Gefolgsmann Wilhelm Frick Innenminister und Volksbildungsminister wurde. Hitler schätzte Frick, der stand schon 1923 beim Hitler-Putsch loyal auf und an seiner Seite, musste wie er ins Gefängnis.
Hochverräter wird Innenminister
Aber dass ausgerechnet ein verurteilter Hochverräter Innenminister wurde, der für Recht und Ordnung zu sorgen hatte, zuständig für die Polizei, das wirkt heute eher befremdlich. Für Hitler war gerade das ausschlaggebend. Er schrieb: „Dem Innenministerium untersteht die gesamte Verwaltung, das Personalreferat, also Ein- und Absetzung der Beamten, sowie die Polizei.“ Und ähnlich skizzierte Hitler die Bedeutung des Volksbildungsministeriums, zuständig für das Schulwesen von der Volksschule bis zur Universität in Jena und das Theaterwesen. „Wer diese beiden Ministerien besitzt und rücksichtslos und beharrlich seine Macht in ihnen ausnützt, kann Außerordentliches wirken.“ Was Frick tat, in dem er z.B. Sozialdemokraten aus den Ämtern entfernte und NSDASP-freundliche Genossen einsetzte. Dies gelang ihm mit Verordnungen. Der „Vorwärts“ kommentierte das Geschehen einst: „Die Nationalsozialistische Partei erklärt so oft, als es nur verlangt wird, dass sie auf die Verfassung von Weimar pfeift. Ihre Redner versichern von der Tribüne des Reichstags, dass sie die politischen Führer der Mehrheit des deutschen Volkes aufzuhängen und zu köpfen beabsichtigen, falls sie an die Macht gelangen. Ausgerechnet diese Partei des Hochverrats und der Morddrohung soll künftig in Thüringen das Polizeiministerium führen. Wir nehmen selbstverständlich nicht an, dass der künftige führende Polizeiminister nun die Thüringer Sozialdemokraten verhaften und an den Galgen hängen wird. Wir stellen jedoch fest, dass der künftige Thüringer Polizeiminister ein Hochverräter ist.“ Nein, hängen hat er sie nicht lassen, aber ins KZ hat er sie getrieben, sie foltern und ermorden lassen.
Der Mustergau Thüringen wird zum Experimentierfeld für die Nazis. Dort zeigten sie mit der rigorosen Politik von Frick, wie man Beamten-Apparate säubert, die Bevölkerung gleichschaltet und nationalsozialistisches Gedankengut umsetzt. Vieles von dem, was nach 1933, nach dem Ermächtigungsgesetz geschah, wurde in Thüringen erprobt. Dass die NSDAP nach dem Hitler-Putsch verboten war, spielte de facto keine so große Rolle im Lande. Frühere NSDAP-Mitglieder traten schon bei den Landtagswahlen 1924 für die Vereinigte Völkische Liste an(was die bürgerlich-konservative Koalition duldete) und die erreichte die Aufhebung des NSDAP-Verbots noch im selben Jahr. Auch Hitlers Redeverbot wurde zurückgenommen, 1926 konnte die NSDAP ihren ersten reichsweiten Parteitag in Weimar abhalten. Der Historiker Gallus, der diese Entwicklung beschrieben hat, kommt zu dem Fazit: „Thüringen wurde zum Sprungbrett der NSDAP“.
Es verwundert aus heutiger Sicht, dass der Innen- und Schulminister Frick derart herrschen konnte, die NSDAP verfügte doch nur über einen bescheidenen Regierungsanteil: 11,3 Prozent. Und doch gelang ihm die „Unterwanderung der Demokratie“(Gallus), wie es Hitler angekündigt hatte: „mit rücksichtloser Entschlossenheit eine Nationalisierung einleiten“. Durch eine Art Ermächtigungsgesetz für Thüringen am Parlament vorbei, die anderen Koalitionspartner ließen ihn gewähren, das Schicksal von Sozialdemokraten, die aus ihren Ämtern flogen, interessierte die Bürgerlichen nicht so sehr, auch weil der Riss zwischen Rechten und Linken sehr tief war.
Kulturkampf der Nazis
Nach der „Säuberung der Polizei“ startete Frick eine Art Kulturkampf. „Wir werden in Thüringen das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten stellen“. An der Uni Jena ließ Frick einen Lehrstuhl für „Rasseforschung“ einrichten. Chef wurde der als „‚Rasse-Günther“ bekannte Philologe Hans. F. K. Günther. Diese Uni Jena spielte schon früh eine unrühmliche Rolle, indem die Klinikerschaft Ende 1922 beschloss, „die ersten vier Bänke ihres Auditoriums Ariern vorzubehalten.“ Drei Jahre später stellte die NSDAP im Landtag den Antrag, „die Jenaer Uni für ausländische Juden und jüdische Dozenten zu sperren“.
Es begann das, was wir als entartete Kunst erleben mussten, auch die spätere Bücherverbrennung hatte hier ihren Ursprung. Kunstwerke von Kandinsky und Klee wurden aus dem Weimarer Schloss entfernt, Werke von Barlach gerieten auf die Verbots-Liste wie auch das Anti-Kriegs-Buch von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neuen“ aus dem Schul-Unterricht verbannt wurde. Stattdessen wurde das Schulgebet eingeführt, natürlich in NS-Sprache umgesetzt: „Ich glaube an mein liebes deutsches Volk und Vaterland- Ich weiß, dass Gottlosigkeit und Vaterlandsverrat unser Volk zerriss und vernichtete.“ Die NSDAP blieb nur bis 1932 an der Regierung, Frick stürzte nicht über ein Misstrauensvotum, sondern weil NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel Vertreter der eigenen Koalition als Gruppe von „trottelhaften Greisen, Verrätern und Betrügern“ verunglimpft hatte. Das Aus währte nicht lange , wie Sauckel vorhergesagt hatte: „Wir kommen wieder“, rief er und schon bei der Neuwahl im Juli 1932 kletterte die NSDAP auf sagenhafte 42,5 Prozent der Stimmen.
Wilhelm Frick machte unter Hitler weiter Karriere, als Reichskanzler ernannte Hitler Frick zum Reichsinnenminister. Bei den Nürnberger Prozessen wurde Frick als einer der Hauptkriegsverbrecher angeklagt und hingerichtet.
Dammbruch Thüringen? Wie konnte das passieren damals? Das kleinbürgerliche Milieu verspürte auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Angst , nach Weltkrieg und Inflation wieder alles zu verlieren. Das national gesinnte Bürgertum Weimars war der Boden für Hitlers nationalsozialistische Propaganda, sein völkisches Reden, seine Aggressionen gegen Juden gefiel manchem Bürger aus Neid, weil man selbst nichts hatte. Man hätte Hitlers NSDAP verbieten können, man hätte Hitler einsperren können, man ließ ihn aber vorzeitig aus der Haft in Landsberg frei, weil längst seine Gesinnungsgenossen in den Behörden saßen? Die NSDAP konnte beinahe widerstandslos aufsteigen und das Reich kapern, weil Demokraten wieder einmal vor Antisemiten, Rassisten, Monarchisten und Verächtern des Staates auswichen, statt ihnen die Stirn zu bieten? In der „taz“ las ich ein Zitat, das für sich spricht: “ Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“
Wagner für Verbot der AfD
Nein, Berlin ist nicht Weimar, die AfD nicht die NSDAP, Höcke nicht Hitler. Und doch gilt es wachsam zu sein, wie der Historiker Alexander Gallus es gefordert hat. „Wachsam sein und die Ursachen für das Entstehen des Rechtsextremismus zu erforschen.“ Vor wenigen Jahren versuchte die AfD Höcke schon einmal in Thüringen durch die Hintertür an die Macht zu kommen. Mit den Stimmen der AfD ließ sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen, die Linken-Vorsitzende warf Kemmerich die Blumen vor die Füße. Die FDP als Steigbügelhalter für den Faschisten Höcke? FDP-Mann Kubicki jubelte über die Wahl seines Freidemokraten, der die kleinste Partei im Landtag vertrat. Ob er nicht merkte welches Schurkenstück da gerade gespielt worden war? Es hagelte Proteste, die Kanzlerin Angela Merkel schaltete sich auf ihrer Auslandsreise ein in das Geschehen, um das Schlimmste zu verhindern. Kemmerich musste nach nur einem Tag zurücktreten. Wie naiv muss man sein, wenn man auf solche Tricks der Rechtsextremen reinfällt? Man darf ihnen nicht auf den Leim gehen, ihnen nicht die Hand reichen, keine Bündnisse eingehen. Der Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung, der frühere SPD-Chef und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck warnte anlässlich dieser Wahl 2020 eindringlich vor Kooperationen mit der AfD, vor Bündnissen mit völkisch-rechtsnationalen Kräften und der Illusion, diese einhegen und ins parlamentarische-demokratische System integrieren zu können.
Thüringen, immer wieder Thüringen und die Deutsch-Nationalen. Thüringen, das Sprungbrett für die Nazis, so hat es Jens-Christian Wagner, Historiker und -Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora gesagt. „Hier wurde de facto in den 20er Jahren vorbereitet, das dann 1933 reichsweit umgesetzt wurde. „Wir haben nun einmal die historische Erfahrung gemacht, was für ein Horror entsteht, wenn völkisch-nationale Gedanken sich mit der Macht verknüpfen. Deshalb fordert Wagner: „Wenn eine Partei erwiesenermaßen antidemokratische Ziele vertritt, wenn eine Partei erwiesenermaßen daran arbeitet, die freiheitlich-.demokratische Grundordnung Deutschlands umzustürzen, dann muss eine Demokratie wehrhaft sein und eine solche Partei verbieten. Insofern spricht mit Blick auf die AfD sehr viel dafür, tatsächlich diese Partei zu verbieten.“