Haushaltsdebatte. „Einzelplan 40: Allgemeine Finanzverwaltung“. Viele Zahlen. Viel Geld für die einen, viel zu wenig für die anderen. Das prangerte die sozialdemokratische Abgeordnete Jeanette Wolff an, als sie in der Debatte am 22. Juni 1955 das „Bundesentschädigungsgesetz“ kritisierte und Finanzminister Fritz Schäffer vorwarf, für die „Wiedergutmachung“ von Nazi-Opfern viel zu wenig Mittel bereit zu stellen. Darüber hinaus stellte sie ein großes Ungleichgewicht zwischen den bescheidenen „Wiedergutmachungszahlungen“ für Witwen der in Konzentrationslagern umgekommenen Nazi-Opfer und den satten Pensionsansprüchen für Witwen fest, deren Männer „in der Nazizeit im Heere sehr hohe Stellen bekleidet haben“.
Für Wolff versteckt sich hinter dieser Ungerechtigkeit weit mehr als eine finanzielle Schieflage. Sie sieht darin eine generelle Schwäche der Demokratie, „die es nicht wagt“, gegen die Ewig-Gestrigen vorzugehen. Wie im Brennglas beschreibt sie in ihrer Rede den Zustand der Republik, in der die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen behindert wird und sich die ehemaligen Täter als Opfer gerieren.
Sie prangert an: Es sei notwendig, „hier in aller Öffentlichkeit einmal auszusprechen, was im Sinne der jungen Demokratie sein muss – wenn wir nämlich in den Zeitungen lesen, wie vorsichtig man ist mit Urteilen gegen jene, die in der Nazizeit Morde auf ihr Gewissen geladen haben“. Und weiter: „Es sind Urteile, die so milde ausfallen, dass wir glauben, in jenen Kreisen der ewig Gestrigen ist der Gedanke aufgetaucht: Wie schwach ist diese Demokratie, dass sie es nicht wagt, gegen ihre eigenen Mörder vorzugehen!“
Jeanette Wolff weiß, wovon sie spricht. Sie hat als Belastungszeugin in einigen Prozessen gegen KZ-Verantwortliche ausgesagt und erfahren, wie hoch der Druck der Täter und ihrer Gesinnungsgenossen auf die Richter war. Sie selbst, 1988 als Jeanette Cohen im westfälischen Bocholt geboren, war Jüdin, schloss sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Sozialdemokratie an. Unter den Nazis wurde sie 1933 zunächst als Sozialdemokratin inhaftiert, 1942 wurde sie als Jüdin in das KZ Riga deportiert. Ihr Mann und eine Tochter wurden von den Nazis ermordet. Sie überlebte und kehrte nach dem Krieg nach Berlin zurück, wo sie sich gleich wieder in der SPD engagiert und mit gleich großem Engagement für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde einsetzte.
Sie kam nach Deutschland zurück mit dem festen Willen beim Aufbau der Demokratie zu helfen und der Lebensdevise: „Ich habe mich entschlossen, nicht zu hassen.“ 1952 kam sie auf Drängen von Paul Löbe als Berliner Abgeordnete in den Bundestag. Ihr Mut, ihr Einsatz für die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur ist jetzt noch einmal in einem von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas herausgegebenen Buch über weibliche Abgeordnete im ersten Bundestag (bezeichnender Titel: „Der nächste Redner ist eine Dame“) noch einmal beschrieben worden. Die Historikerin Nathalie Weiss, die das Buch für den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages konzipiert hat, hält es für einen „Skandal“, dass die Verdienste dieser Jeanette Wolff heute nahezu in Vergessenheit geraten sind. Hassen wollte sie nicht, aber aufklären über die Vergangenheit und den teils reaktionären Zustand der Republik um jeden Preis.
Im Protokoll ihr Rede vom 22. Juni 1955 ist das eindrucksvoll nachzulesen, warnte sie doch: „Wir haben im Interesse der Abwehr der Untergrabung der Demokratie daran zu denken, dass wir den Opfern aus der Nazizeit gerecht werden müssen. Das wäre die beste Abfuhr für jene, die immer noch glauben, die immer noch glauben, in der Bundesrepublik oder in Berlin ihre Ansprüche geltend machen zu können, und die laut rasselnd von einem Wiederaufbau Deutschlands in ihrem Sinne sprechen, jene ewig Unbelehrbaren und jene auch Boshaften, die unter der Devise, demokratisch zu sein, die Demokratie unterminieren und Dynamitpatronen unter den Bau unseres jungen demokratischen Staates legen.“
Jeanette Wolff blieb Abgeordnete bis 1962. Von 1965 bis 1975, ein Jahr vor ihrem Tod, war sie stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Für Paul Spiegel, den späteren Vorsitzenden des Zentralrats war die Frau, die wegen ihrer rhetorischen Schärfe „Trompete“ genannt wurde, eine der beeindruckendsten jüdischen Frauen des 20. Jahrhunderts.
Erstveröffentlichung in www.vorwaerts.de
Bildquelle: Von Omerzu – Eigenes Werk, FAL, via Wikipedia