Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung der Johannes-Rau-Gesellschaft in der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund am 11. September 2024
Meine lieben Freundinnen und Freunde,
um es gleich vorwegzunehmen: Das, was ich Ihnen heute vortragen möchte, ist weder verklärende Nostalgie noch der Versuch eines intellektuellen Beitrags zur nordrhein-westfälischen Geschichtsschreibung – hier in der Vertretung des Bundeslandes, dessen Ministerpräsident Johannes Rau fast 20 Jahre war.
Mein Bedürfnis, 20 Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident und fast 19 Jahre nach seinem Tod hier in Berlin über das Politikverständnis Johannes Raus zu sprechen, hat zwei aktuelle Anlässe.
Der erste eher technisch-organisatorische ist, dass ein erweiterter Kreis um politische Weggefährten Johannes Raus im Januar dieses Jahres die Gründung der Johannes-Rau-Gesellschaft vollzogen haben. Wir meinen, aus gutem Grund.
„Die Johannes Rau-Gesellschaft möchte“ – so steht es auf deren Website – „das Politikverständnis und den Politikstil, die Grundüberzeugungen und die praktische Politik von Johannes Rau für aktuelle politische Debatten fruchtbar machen… Das gilt für die noch wachsende Bedeutung gleicher Bildungschancen, für das gute Miteinander unterschiedlicher Kulturen, für die Rolle von Kunst und Kultur in einer Welt, die sich immer schneller verändert, für den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, für die friedliche Lösung von Konflikten zwischen Völkern und Staaten, aber auch im eigenen Land.“
Wer Johannes Rau persönlich erlebt hat, weiß, dass es in jedem der genannten Themenfelder beredte Beispiele dafür gibt, wie er sehr sensible Themen, die – wie man heute sagen würde – Wut- und Empörungspotenzial enthielten, moderiert und (das ist manch einem kritischen Begleiter entfallen) durch seine Art einer Lösung zugeführt, ja sogar Weichen gestellt hat.
Der zweite Anlass ist ungleich gewichtigerer: Wir fallen von einem Tiefpunkt des Vertrauens in die Politik und die politisch Handelnden auf den nächsten. Tiefs, die wir für überwunden gehalten haben. Nimmt man als Maßstab dafür Wahlumfragen und den Ausgang der jüngsten Landtagswahlen, dann trifft es derzeit die SPD besonders hart. Aber es ist beileibe kein Befund, der sich allein auf die Kanzlerpartei bezieht. Wir erleben eine Form der politischen Vorteilssuche, die nicht dadurch geprägt ist, dass man einen Wettlauf gewinnen will, indem man schneller läuft als die anderen, sondern indem man die anderen zum Straucheln bringt, um als Erster durchs Ziel zu gehen.
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Ich will die alten Zeiten nicht verklären und heute auch nicht wiederholen, was Raus Biograph Ulrich Heinemann in diesem Jahr in seinem voluminösen Werk „Johannes Rau – Der Besondere“ akribisch herausgearbeitet hat. Ich empfehle aber allen die Lektüre, weil sie zeigt, dass Nahbarkeit, spürbares Interesse am Gegenüber, dass fairer, an der Sache orientierter Umgang mit politischen Wettbewerbern und feinsinniger Humor nicht im Gegensatz zu erfolgreichem Krisenmanagement und richtungsweisenden politischen Entscheidungen stehen. Im Gegenteil: sie können Wege ebnen. Das Buch zeigt auch, dass eine klare Haltung guten Ergebnissen nicht im Weg steht.
Ich möchte mich auf die Qualitäten des Johannes Rau beschränken, von denen ich glaube, dass sie auch heute unter ganz anderen Rahmenbedingungen noch Orientierung geben können.
Das, worüber ich sprechen möchte, basiert vor allem auf selbst Erlebtem. 14 Jahre lang habe ich in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei des Ministerpräsidenten Rau gearbeitet, sieben Jahre davon als sein Sprecher. Ich habe danach als Staatssekretär und Minister das Wirken weiterer vier sehr unterschiedlich agierender Ministerpräsidentinnen und -präsidenten unmittelbar erleben dürfen. Und schließlich habe ich in zwei Jahren als Vorsitzender der SPD auf der Bundesebene einen tiefen Einblick in den bundespolitischen Betrieb und das handelnde Personal gewonnen. Glauben Sie mir: Das ergibt ein ganz eigenes, komplexes Mosaik. Ich möchte keinen Stein davon missen. Und ich bin nach allem überzeugt davon, ein bisschen mehr Rau täte auch der aktuellen Bundespolitik gut.
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Johannes Rau war weder ein Heiliger noch frei von Fehlern. Er hatte den Machtwillen, ohne den man weder in der Politik noch in der Wirtschaft oder anderen Bereichen der Gesellschaft hohe Führungspositionen erreicht – und sie erst recht nicht 20 Jahre lang behält. Wer ihn auf einen harmoniesüchtigen Bibelkenner oder Witzeerzähler reduzieren will, ist schon deshalb auf der völlig falschen Spur unterwegs.
Rau wusste allerdings: Wer nach Macht strebt und gewinnt, hiterlässt auf seinem Weg auch Verlierer. Die alte Weisheit „man trifft sich immer zweimal“ kennen alle, zu beherzigen scheinen viele sie nicht. Viele der Widersacher Raus fanden sich nach einem hart geführten Wettbewerb nicht auf dem Abstellgleis wieder, sondern blieben in bereichernder Weise eingebunden bis ins Kabinett hinein.
Seine besondere Stärke lag darin, dass er die von ihm formulierte Erwartung an politisch Handelnde, die da lautete „Die Menschen müssen spüren, dass man sie mag“ selber überaus ernst genommen hat. Man hatte nie das Gefühl, dass er erst eine Barriere überwinden musste, um auf seine Gesprächspartner zuzugehen – nicht in der Chefetage der Wirtschaft, nicht in der Uni (sein Streitgespräch mit Rudi Dutschke war im Vorhinein hoch umstritten und im Nachhinein legendär), nicht in der Kneipe um die Ecke und nicht in anderen Parteien.
Seine Kritiker haben daraus geschlossen, dass das zwangsläufig zu Lasten klarer Positionen und klarer Entscheidungen gehen müsse. Ich kann daraus nur schließen, dass diese Leute Nahbarkeit und Humor für mangelnde Ernsthaftigkeit halten. Ein schwerwiegender Irrtum.
Johannes Rau erging es wie manch einer Theaterinszenierung: von der Kritik geschmäht und vom Publikum geliebt. Dass sich Johannes Rau so wenig in das kollektive Bewusstsein der Hauptstadt eingegraben hat, mag daran liegen, dass die meisten hier der Versuchung erliegen, eher auf die professionellen Kritiker als aufs Publikum zu achten. Umso erwähnenswerter ist gerade deshalb der Kommentar des von mir hoch geschätzten SZ-Kolumnisten Heribert Prantl zum Ende der Amtszeit Raus als Bundespräsident, überschrieben mit „Chapeau, Herr Präsident, adieu!“. Darin schreibt Prantl, „ein unterschätzter Mann (habe) sich als ein Präsident von unerhörter Klarheit erwiesen.“ Man achte auf die Doppeldeutigkeit des Adjektivs „unerhört“!
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Sein offenes Auftreten verbunden mit Fingerspitzengefühl für sein Publikum und mit dem, was er „die Macht des Wortes“ nannte, haben ihm Möglichkeiten gegeben, Themen anzusprechen, die die meisten lieber umschiffen. Das war und ist vielen gar nicht (mehr) bewusst.
Eines der für mich eindrucksvollsten Beispiele dafür ist seine Tischrede als Bundespräsident anlässlich des Abendessens zu Ehren des israelischen Staatspräsidenten Moshe Katsav am 9.12.2002. Dort sagte er: „Terrorismus ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch der Einsatz militärischer Mittel kann aber gewiss nur Ultima Ratio sein, wenn es darum geht, Gefahr abzuwehren. Jeder weiß doch, dass eine dauerhafte Lösung nur friedlich sein kann, mit Gewalt erzwingen lässt sie sich nicht, von keiner Seite. Der jahrzehntelange Kampf um Sicherheit, unter ständiger Bedrohung, führt zu Verstrickung, vielleicht verengt er auch den Blick. Es ist nicht leicht, von außen zu raten. Mir scheint sicher: Rein militärisch ist das Nahostproblem nicht zu lösen. Der Teufelskreis der Gewalt muss durchbrochen werden. Zerstörung und Erniedrigung führen nicht weiter – sie schwächen nur die Friedenswilligen, und ohne sie lässt sich keine gute Zukunft für alle bauen.“
Zur Aktualität dieser Aussage muss man nichts sagen. Weder für Rau noch für seine israelischen Gäste hat dabei je in Frage gestanden, dass er ein großer, ehrlicher Freund Israels war. Hätte er sonst als erster Deutscher in der Knesset reden dürfen, auf Deutsch?
Nicht nur international hat er diese bemerkenswerten Zugänge eröffnet. Er hat auch gesellschaftspolitisch Klartext geredet. Als ein Beispiel dafür nenne ich seine Rede beim Jahreskongress des Wissenschaftszentrums NRW am 18.11.1997. Sein Thema: „Vordenken und Nachdenken – der verantwortliche Umgang mit der Zukunft“:
„Wir kommen, so scheint mir, dem Punkt näher, an dem wir fragen müssen: Wieviel soziale Ungleichheit verträgt der soziale Friede, der ein eigener Wert, aber auch ein wichtiger Standortfaktor ist? Wir müssen fragen, ob nicht eine gleichmäßigere Verteilung – nicht nur der Lebenschancen, sondern auch der realen Lebensbedingungen – ein Wert ist, an dem es uns mangelt.“
Hier zeigt sich die sanfte Klarheit, mit der er oft Position bezog – durch die Formulierung eines erkennbar festen Standpunktes in Frageform, der dann schnell wieder Ausrufezeichen folgen konnten:
„Für falsch, ja gefährlich halte ich die Vorstellung, dass eine Schwächung der Politik infolge der wirtschaftlichen Globalisierung ganz gut sei, weil die Politik entweder ohnehin versage oder zu viel Einfluss habe. Wenn wir den Primat der Politik – demokratisch legitimierter Politik – insgesamt aufgäben – sei es in den Regionen, auf staatlicher oder auf internationaler Ebene, dann wäre das fatal. Wenn die Menschen das Vertrauen in die politische Gestaltbarkeit ihrer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lebensbedingungen verlören, dann wäre auch die breite Zustimmung zu unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bedroht. Das wäre dann wahrhaft Staatsgefährdung durch Politikversagen.“
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Er hatte eine klare Linie, ohne selbstgewiss daherzukommen. Sein Credo war: „(Meine) Aufgabe nehme ich gern wahr. Ich kann sie nur wahrnehmen, wenn es den Schulterschluss mit anderen gibt, und zwar mit denen, die nicht sind wie ich, die nicht die gleichen Schwächen haben wie ich, damit wir einander ergänzen…“. Eigene Schwächen einzugestehen und sich mit Menschen umgeben zu wollen, die die eigenen Defizite ausgleichen, liegt nicht jedem. Wer sich die Riege von Ministerinnen und Ministern in seinen Kabinetten ansah, wusste, dass Raus Credo keine hohle Phrase war. Und wer zum Kreis seiner engsten Mitarbeiter gehörte, weiß bis heute: Jede und jeder von uns konnte irgendetwas nicht, aber zusammen konnten wir fast alles.
Hier in Berlin ist in den Ampel-Jahren besonders in meiner Partei, aber nicht nur da, oft die Rede davon, dass Politik zu schlecht erklärt würde. Zeitgleich kommt dann die empörte Gegenrede, dass es nicht um besseres Erklären, sondern um besseres Machen gehe. Es geht um beides! Wer nicht erklärt, wem das Sensorium für die Stimmung abgeht, die man nicht nur im Fachgespräch erfährt, der ist auch eingeschränkt beim „Machen“. Wer von uns hätte nicht schon erlebt, dass sie oder er einen Sachverhalt erst richtig durchdrungen hat, indem man ihn anderen zu erklären versucht hat?
Der Witzerzähler, der Skatspieler, der Geburtstagsbriefschreiber – und zwar persönlicher Briefe, nicht vorgedruckter Grußkarten mit einem klugen Zitat aus eigens dafür verfügbaren Ratgebern – hatte damit ein Instrumentarium an der Hand, Kontakt und Bindung zu schaffen und aus der sich daraus oft ergebenden gegenseitigen Kommunikation Dinge aus dem Alltag zu erfahren, die kein Expertenkongress zutage gefördert hätte. Nicht selten hat sich dabei erwiesen, dass mit Fingerspitzengefühl eingesetzter Humor Türen öffnen und die Bereitschaft zur Einigung fördern kann – und der Popularität keinen Abbruch tat. Gerhart Baum hat vor einigen Monaten gesagt, er vermisse den „Wärmestrom“ von Berlin ins Land hinein. Ich glaube zu wissen, was er meinte.
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Ein Blick auf das PolitikerInnen-Ranking des Politbarometers von heute lässt einen frösteln, wenn man den Newsletter der Forschungsgruppe Wahlen seit 30 Jahren bezieht. Mit einem negativen Wert auf der Skala von minus fünf bis plus fünf konnte man damals vielleicht Platz 7 von 10 erreichen. Heute reicht das oft für Platz 2. Ja, das ist gewiss auch Ausfluss eines Verfalls von Respekt vor denen, die nicht auf den Zuschauertribünen Platz nehmen und sich für das Gemeinwesen in die Arena begeben, aber nicht nur.
Es gibt schließlich auch heute die, die herausragen. Das gilt neben dem derzeitigen Dauerspitzenreiter auch für den aktuellen Ministerpräsidenten von NRW, wenn er von den Befragten in die Liste der zehn wichtigsten Politiker gewählt wird. Nun kann man in beiden Fällen nicht gerade von Humoristen sprechen, aber wer Rau erlebt hat, findet auch hier deutliche Spuren des Rau’schen Politikstils.
Die Art und Weise, wie Johannes Rau an die Bewältigung der großen Herausforderungen heranging, erinnert mich an einen der vielen Lehrsätze, die uns Willy Brandt in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender im Juni 1987 mit auf den Weg gegeben hat:
„Und doch, sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist.“
Wohl gemerkt: Nicht „zu weit“ entfernen. Das bedeutet nicht, aufs Vorangehen zu verzichten und nur Themen nach Umfragelage und Medienecho anzupacken. Es geht nicht ums Folgen, sondern ums Führen. Es geht darum, die Menschen, für die und mit denen man Politik macht, nicht aus dem Blick zu verlieren. Richard von Weizsäcker hat es so beschrieben: „Die Kunst der Politik besteht darin, das langfristig Notwendige kurzfristig mehrheitsfähig zu machen.“ Andersherum: Es geht nicht darum, nur dem kurzfristig Mehrheitsfähigen hinterherzulaufen und dabei das langfristig Notwendige zu ignorieren. Je größer das Vertrauen in eine/n Politiker/in, desto mehr Freiraum hat sie bzw. er für beherztes Vorangehen und desto widerstandsfähiger wird man gegenüber populistischen Diskreditierungsversuchen.
Führen nicht einfach als Durchsetzen des eigenen Kopfs, sondern als Überzeugen mittels menschlicher Autorität und Mitnehmen der „Geführten“ zu verstehen und Geschlossenheit als Ergebnis einer vorhergehenden, wo nötig auch kontroversen Debatte zu begreifen statt aus dem Elfenbeinturm Fakten zu schaffen und Folgsamkeit zu erwarten – das sind Eigenschaften, die ihren Wert nicht verloren haben.
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In der Regierungszeit des Ministerpräsidenten Johannes Rau ist Nordrhein-Westfalen 1994 vollständig aus der Kernkraft ausgestiegen. Es wäre eine Falschdarstellung, Rau als den Treiber dahinter zu sehen. Er war zunächst sogar Bremser, weil er zuerst alle Pros und Cons abwägen wollte. Am Ende der Debatte mit denen in Kabinett und Parteiführung, die – ganz nach seinem ausdrücklichen Wunsch – anders waren als er, hat er den Ausstieg nicht nur gewollt. Er hat die gewonnene Überzeugung dann auch im Schulterschluss mit Kabinett, Fraktion und Partei durchgesetzt.
Eine andere Eigenschaft, die neben so großen Themen vernachlässigbar erscheinen mag, verdient Erwähnung: Wer das Innenleben einer Partei kennt, weiß, dass sich darin Menschen auch für Ziele engagieren, die je nach Großwetterlage bei der Mehrheit in Partei und Wählerschaft eher zu den Posterioritäten gehören. In schwierigen Zeiten stören Fragen, die vom Mainstream für Luxus gehalten werden, der – wenn überhaupt – in bessere Tage hinein vertagt werden sollte. Rau hätte diese Kontroversen nie dafür missbraucht, sich mit populistischen Tiraden gegen die vermeintlichen Außenseiter Applaus zu verschaffen. Auf heute übertragen heißt das, dass Johannes Rau vermutlich weder gendern noch sich vegan ernähren würde, aber er würde auch niemanden diskreditieren, dem oder der das ein wichtiges Anliegen ist. Immerhin war er es, der in NRW aus der Behördenbezeichnung „Der Minister für…“ „Das Ministerium für…“ gemacht und die Vornamen mit auf die Amtszimmertüren hat schreiben lassen. Das war zu Zeiten, als einige Beamte ihren Vornamen noch aus Protest mit TippEx zu eliminieren versucht haben.
Ich könnte noch viele Beispiele und Anekdoten anführen. Etwa, dass er Briefe in Sprechsprache und nicht in der viel distanzierteren Schreibsprache gehalten wissen wollte – ohne Wörter, die man im Gespräch mit den Bürgern nie benutzen würde. All diese Beispiele würden belegen, dass Umgang auf Augenhöhe, Verständlichkeit, „einander achten, aufeinander achten“ die Leitmotive waren, mit denen er das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger gewonnen hat. Gerade in schwierigen Zeiten mit vielen umstrittenen Themen wird es nur selten den Fall geben, dass alle in allen Punkten mit der Meinung einer Politikerin/eines Politikers übereinstimmen. Dann kommt es besonders darauf an, dass die Leute sagen: „Ich stimme ihr oder ihm zwar nicht in allem zu, aber man spürt, dass sie oder er die bzw. der Richtige ist, um uns in dieser kritischen Zeit durch die Untiefen zu führen.“
Um es noch einmal mit der schon zitierten Abschiedsrede Willy Brandts zu sagen: „Dabei gilt es dann nicht zu vergessen, dass große Dinge noch nie durch Intelligenz allein bewirkt wurden. Sozialdemokratische Politik muss Herz und Verstand, Leib und Seele haben.“
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„Die Johannes Rau-Gesellschaft möchte“ – so habe ich die Website der Gesellschaft eingangs zitiert – „das Politikverständnis und den Politikstil, die Grundüberzeugungen und die praktische Politik von Johannes Rau für aktuelle politische Debatten fruchtbar machen.“ Hat das hier Gesagte unter den heute geltenden Rahmenbedingungen überhaupt noch einen Wert?
Haben die sozialen Medien, die Einschränkung, Gedanken nur in TikTok-Schnipseln an die Frau oder den Mann zu bringen, haben der Verlust gegenseitigen Respekts und besonders der vor denen, die sich für unser Gemeinwesen engagieren, hat die Dominanz des Ich über das Wir und die Verherrlichung von „Kompromisslosigkeit“ und „Ungeduld“ die Landschaft so verändert, dass die beschriebenen Eigenschaften out sind? Oder können sie so adaptiert werden, dass wir dem Ziel Johannes Raus, das Leben der Menschen glaubhaft jeden Tag ein bisschen besser zu machen, damit vielleicht sogar näherkommen als mit dem Politikstil, wie wir ihn augenblicklich erleben?
Mein ein bisschen ironisches Fazit lautet: Allein damit käme die SPD nicht zwingend auf 52,1 Prozent der Stimmen wie bei der Landtagswahl 1985. Deutlich mehr als 15 Prozent sind aber allemal drin, wenn die SPD nicht im Mantel einer Koalition verschwindet, sondern als Kopf sichtbar ist. Wenn sich alle Verantwortlichen auf nahbares Erklären mit Offenheit für den Dialog besinnen. Wenn man sich der Macht des Wortes und im Umkehrschluss der Gefahr des unbedachten Wortes bewusst ist. Wenn man so agiert, dass die Menschen spüren, dass man sie mag. Und wenn man sich eigener Unzulänglichkeiten bewusst ist und ebenso weiß, dass daraus im Schulterschluss mit Menschen, die anders sind als man selbst, ein starkes Ganzes werden kann.
Bildquelle: Roland Gerrits / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons