Der Autor lehrt Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg i.Br.. Er hatte ein Buch über den Ersten Weltkrieg und anschließend eines über die „überforderten“ Friedensschlüsse von Versailles und anderen Vororten von Paris publiziert. Da brach der Krieg in der Ukraine los. Dieser Krieg wurde ein ganz anderer als vom Initiator geplant. Was als Regime-Change-Operation konzipiert war und nach wenigen Wochen hätte zu Ende gehen sollen, wuchs sich aus zu einem Weltkrieg-I-artigen Langzeit-Ungeheuer. Leonhard wäre der ideale Autor gewesen, alsbald etwas vorzulegen zu den Aussichten, ihn zu beenden. Doch er war mit anderen Aufgaben belegt. So ist das erhoffte Buch aus seiner Feder erst Ende 2023 erschienen, in sehr lesbarer Form. Die im Titel angekündigten „Zehn Thesen“ sind die Kapitel des Buches.
Als Erfahrungsbasis zieht Leonhard zwar auch den Dreißigjährigen Krieg heran, mit seinen durch die extreme Dauer bedingten spezifischen Formen, zu einem ebenfalls langwierigen Ende zu kommen. Der Schwerpunkt aber liegt bei etlichen Kriegen des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts. Zu letzterem zieht er die beiden Weltkriege heran, die man auch als einen fassen kann – das wäre dann der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts. Daneben bilden der Krieg in Vietnam, sodann der so ganz anders, nämlich gewaltfrei, zum Ende gezwungene Krieg in Ägypten (1956) und schließlich die jugoslawischen Nachfolgekriege die Basis. Auf dieser Fülle von Erfahrungen kann man, wenn auch nicht statistisch valide, Wiederholungstendenzen dazu ableiten, „wie Kriege enden“ (können). Da sich in der Geschichte die Randbedingungen jedoch stetig wandeln, ist „statistische Validität“ eh kein angemessener Qualitätsmaßstab.
Würde man das Buch in seinen Inhalten lediglich darstellen, so wäre das fade – bei rein historisch-fachlichen Rezensionen ist das zu besichtigen. Pfeffer kommt erst hinzu, wenn man die Lektüre des Buches als Wahrnehmungstraining für eine eigene Diagnose der Jetztzeit nutzt. Hier werden deshalb zentrale Lehren aus lediglich zwei Thesen hervorgehoben, dann aber – seitens des Rezensenten – in den Kontext des aktuellen Standes des Ukraine-Krieges gestellt. Der Autor selbst vermeidet einen expliziten Bezug der von ihm hervorgehobenen „Wiederholungsstrukturen“ auf den Krieg in der Ukraine. Dabei wäre das nach dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive 2023, des letzten Hoffnungsschimmers Kiews, das autonome Kriegsziel zu erreichen, so fruchtbar.
These 2 lautet: „Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende“. Hinweisen will der Autor damit auf Zweierlei.
- Erstens: Die Natur des Krieges hat sich in den letzten 200 Jahren, mit dem Prozess der Industrialisierung sowie mit der Herausbildung moderner Staatsformen, enorm gewandelt. Es gab die Entgrenzungstendenz, die mit der Zunahme technischer Mittel zu Kriegszwecken und ihrer Energiepotentiale verbunden ist; und es gab das Aufkommen des Nationalismus mit der Neuerung der ideologisch entfesselten Volksarmee. Die regionale Erstreckung sowie das Ausmaß von Gewalt in Kriegen haben damit exzessive Ausmaße angenommen, die zuvor unbekannt waren.
- Entscheidend dürfte zweitens eine Neuerung des Zusammenhangs von Beendigung des Krieges (Friedenschluss) und Herrschaftsform (Legitimität) sein, die sich unter dem Aufkommen von modernen Medien eingestellt hat. Für deren begriffliche Fassung zitiert Leonhard Hannah Arendt:
„Seit dem Ersten Weltkrieg <kann> keine Regierung und kein Staat stark genug sein, eine Niederlage im Krieg zu überstehen.“
Das hat Folgen gehabt.
Ad 1. Die Fähigkeit zur Mäßigung des Siegers gegenüber den Besiegten erodierte mit dem Anstieg des Ausmaßes von Gewalt im Krieg sowie mit dem Aufkommen von Medien als kaum gefilterter Resonanzboden von Volkes Stimme bzw. Stimmung. Mit Abschluss des Amerikanischen Bürgerkrieges wurde noch peinlichst darauf geachtet, Demütigungen zu vermeiden, damit die Besiegten „loyale Bürger der Union“ werden (S. 132). Preußens Ministerpräsident Bismarck setzte nach dem Sieg von Königgrätz (1866) sehr milde Bedingungen für die unterlegene Wiener Regierung durch – übrigens gegen den Willen Wilhelms I.
Ad 2. Es fördert, Kriege durch Stellvertreter führen zu lassen – um auch Niederlagen riskieren zu können. Wenn es jedoch zu einer direkten Verwicklung kommt, dann verlängert dies die Dauer des Kriegs.
Diese Einsicht könnte Konsequenzen haben für die Dauer des Kriegs in der Ukraine. Das gilt insbesondere angesichts der Formel, über ein Ende habe nicht der Waffen liefernde und finanzierende Westen sondern die (ehemals) demokratisch legitimierte Regierung der „souveränen“ Ukraine zu entscheiden. Sie liegen auf der Hand. Die Legende, nach der nicht der Westen Krieg führen lässt sondern die Ukraine souverän Krieg führe, hat offenkundig das Potential, den Krieg zu verlängern.
These 4 lautet: „Das lange Ende. Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht, wird den Kampf fortsetzen, solange es geht.“
- i. eine These, die Kriegsführung als etwas „Rationales“, mit kalkulierter Zweck-Mittel-Relation, vorstellt. Damit steht sie in Spannung zu These 2. Etliche Zeitgenossen sind sogar verführt zu meinen, aus dieser These andersherum schließen zu dürfen: Solange die Ukraine keinen Waffenstillstand anstrebt, ist das als Indiz dafür zu nehmen, dass ihre Militärs mit ihrem professionellen Blick noch Chancen auf dem Schlachtfeld sehen. Das aber ist ein Fehlschluss. Das Motiv für die Fortsetzung könnte weniger militärisch-rational sein als eher im Selbsterhaltungsinteresse einer herrschenden Elite begründet sein – vergleiche These 2. Die militärisch-strategische Aussichtslosigkeit für die Ukraine, erneut in eine entscheidende Offensive kommen zu können, ist die unausweichliche Konsequenz des ihr oktroyierten begrenzten US-Kriegsziels „boiling the frog“ (nach Oberst Markus Reisner). Angesichts dessen hat die Führung der Ukraine anscheinend keine andere Option – sie ist den USA in die Falle gegangen, die Fähigkeiten des russischen Militärs so zu dezimieren, „dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat.“ (Lloyd Austin). In der Berichterstattung in Deutschland zu den beiden aktuell dominanten Kriegen fällt diesbezüglich eine Differenz ins Auge: Dem Regierungschef Israels eine Politik der Kriegsverlängerung aus eigennützigen Motiven zu unterstellen, ist üblich; dasselbe dem jenseits seiner Regierungszeit agierenden Präsidenten der Ukraine zu unterstellen, ist hingegen Tabu.
Wegweisend ist eine weitere Lehre, welche Leonhard anhand des Endes des Vietnam-Krieges anschaulich macht. Sie lautet abstrakt:
„Die … Endphase des Ersten Weltkriegs wie des Vietnamkrieges zeigt exemplarisch …, warum viele Kriegsparteien … darauf setzen, die Gewalt … noch einmal enorm zu steigern. … schließlich zeichnete sich bereits im Ersten Weltkrieg ab, was dann im Vietnamkrieg große Bedeutung erlangte …: Die Frage, wofür Soldaten und Zivilisten in einem langen und verlustreichen Krieg gestorben sind, rührt direkt an die Legitimation des politischen Systems.“
Der Krieg in der Ukraine wird somit wahrscheinlich nicht ohne einen weiteren Gewaltexzess zu einem Ende kommen; und sicherlich wird er nicht ohne eine Revolution in (mindestens) einem der beteiligten Staaten zum Ende kommen. Letzteres wird wahrscheinlich in der Ukraine der Fall sein, was dann alle Beitrittspläne, die auf politiksystemischer Verwandtschaft aufbauen, in Frage stellen wird. Jedenfalls wird eine Dolchstoßlegende wie weiland in Deutschland nach 1918/19 auferstehen, die absehbaren Gebietsverluste werden wie nach jeder Amputation zu dem klassischen Phantomschmerz führen und die Basis für geschichtspolitische Mythenbildung seitens des Gedemütigten darstellen. Doch anders als nach 1918/19 wird der Dolchträger weniger im eigenen Land festgemacht werden als im westlichen Ausland. Das habe die Ukraine erst in den Langfristkrieg gelockt, sie dann aber mangels hinreichender Unterstützung hängen lassen.
An einer Stelle des Buches jedoch kann man denn doch unterstellen, dass sie auf die aktuelle Situation im Kampf um die Ukraine hin gemünzt ist, auf den kommenden Waffenstillstand. Sie zielt auf Friedensverhandlungen und lautet:
„… die zentrale Herausforderung <ist>, möglichst früh, ein möglichst wirksames „Erwartungsmanagement“ zu betreiben:
# durch eine glaubwürdige Kommunikation der Probleme des Friedens;
# durch eine begrenzte, aber realistische Agenda für Friedensverhandlungen …;
# durch den Verzicht auf die ganz große Lösung und damit auf die Verknüpfung unterschiedlicher Konflikte; … Und schließlich
# durch die Ehrlichkeit zu sagen, was sich in diesem Moment regeln lässt, was noch nicht, was auf absehbare Zeit und was auf Dauer nicht.“ (S. 156)
„Glaubwürdigkeit“ und „Ehrlichkeit“ sind die Stichworte, sie beschreiben zentrale Maßgaben an die zukünftige Kommunikation im Westen, die sich zu ändern habe. Kriegsbegleitend nämlich ist die Kommunikation einer Kriegspartei funktional ausgerichtet, also unglaubwürdig und unehrlich. Diesem historischen Muster gemäß hält es die Kriegspartei „der Westen“ auch diesmal. Davon ist abzurücken, soll es zu einem einigermaßen stabilen Schweigen der schweren Waffen kommen – mehr als ein Schweigen dieser Waffenkategorie aber ist realistisch nicht zu erwarten: Die Revolution und der Austrag bestehender Spannungen werden schließlich unter Einsatz von (Klein-)Waffen stattfinden. Die offene Frage ist, was „klein“ angesichts der Mengen verfügbarer Waffen im Kriegsgebiet „Ukraine“ heißen wird.
Der „gerechte Frieden“ jedenfalls ist gegenwärtig ein Wolkenkuckucksheim. Leider.
Nachbemerkung
Der Autor hat sich nach Erscheinen seines Buches vom Sender 3Sat interviewen lassen zu der Frage, was sein Buch für eine Diagnose der Friedensaussichten im Ukraine-Krieg austrage. Er kommt in dem Gespräch zu gänzlich anderen Schlüssen als hier der Rezensent. Das ist methodisch bemerkenswert. Die spannende Frage ist, woran das liegen könnte. Dafür gibt es vier Erklärungsoptionen.
- Ein höchst abstrakter Grund, der in der Ambiguität der historisch verwendeten Begriffe liegt. Die sei so hoch, dass auch erheblich Unterschiedliches darunter subsumierbar ist.
- Unterschiedlich hohe Kenntnisse zum komplementären Gegenstand, der hier herangezogen werden muss, dem Ukraine-Krieg, wofür der Historiker fachlich nicht ausgewiesen ist.
- Mündliche versus schriftliche Form der Äußerung, welche unterschiedliche Grade der Präzision und Reflektiertheit erlauben.
- Oder die auffällig starke Betonung der sog. „Reife“-Theorie eines Friedens, mit Verweis auf die 1938-München-Analogie durch den Autor im Interview, während diese Reife-Theorie im Buch nur im der Einführung kurz vorkommt, aber nicht mit Bezug auf die britische Appeasement-Tendenz der 1930er Jahre eine Rolle spielt.