Was ist größer – das Erstaunen oder das Erschrecken über die Zustimmungswerte zur AfD in ostdeutschen Bundesländern wie Thüringen und Sachsen? Oder beides? Wesentlich wichtiger ist allerdings die Beantwortung der Frage: Wie kann eine als gesichert rechtsextrem eingeordnete Partei eine solche Unterstützung erhalten?
Die Diskussion darüber steht erst am Anfang, obwohl viele anregende Artikel und Bücher dazu erschienen sind. Aber diese Erkenntnisse finden sich in der Arbeit der meisten demokratischen Parteien nicht oder noch nicht wieder.
Das Erstarken der AfD ist im Osten wie im Westen zu registrieren, allerdings mit großen Unterschieden – quantitativ bei Wahlen und Umfragen grob geschätzt um den Faktor 2. Es sollte allerdings alarmieren, dass es auch in Westdeutschland eine stabile Basis für die AfD gibt: Untersuchungen und Umfragen wie die des Münchner Jugendinstituts haben seit vielen Jahrzehnten immer wieder festgestellt, dass 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild haben – ein Potential, das immer wieder auch bei Wahlen von der NPD, der DVU oder den Republikanern zumindest teilweise mobilisiert werden konnte. Die AfD ist in der Ausschöpfung am erfolgreichsten.
Es ist zudem auch aus anderen Gründen nicht hilfreich mit dem Zeigefinger auf den Osten zu zeigen. Ein wesentlicher Faktor für die Stärke der AfD in den östlichen Ländern liegt in der Schwäche der demokratischen Parteien in Bezug auf die Verankerung vor Ort, der geringen Anzahl ihrer Mitglieder sowie in der Auszehrung relevanter zivilgesellschaftlicher Organisationen wie den Kirchen oder Gewerkschaften, die wesentlich für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess sind. Diese Lücke wird im Osten stark von der AfD besetzt. Auch im westlichen Teil Deutschlands sinken seit langem die Mitgliederzahlen dieser Vereinigungen und Parteien (mit Ausnahme der Grünen). Das kann bedeuten, dass auch hier die Bedingungen für populistische und rechtsextreme Kräfte wie der AfD günstiger werden.
Auch in anderer Hinsicht wäre eine selbstkritischere Herangehensweise der vor allem von aus dem Westen stammenden Parteienführungen notwendig. Die ständige und verächtliche Abwertung der Regierung und der Politiker konkurrierender Parteien leistet populistischen Tendenzen Vorschub und untergräbt einen Wesenszug der parlamentarischen Demokratie – die Kultur des Meinungsstreites und der Kompromissfindung.
Vor allem aber gibt es scheinbar einfache Antworten, die für die Bekämpfung der AfD untauglich sind und in die Irre führen. Hier sei insbesondere darauf hingewiesen, dass die von führenden Vertretern der CDU/CSU wird immer wieder aufgestellte Behauptung, dass die Politik der Bundesregierung für die Erfolge der AfD verantwortlich sei, weitgehend unsinnig ist. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass das Erscheinungsbild der Dreier-Koalition abschreckend wirkt und Menschen zum Protest verleiten kann. Aber welche Gründe sollte es dafür geben, deswegen gleich eine bekannte rechtsextreme Partei zu wählen? Die AfD (auch die Sarah-Wagenknecht-Partei BSW) versucht auf vielen medialen Kanälen durch Denunziation der Politik der Bundesregierung Stimmen zu gewinnen. Es kann als gesichert gelten, dass dies nur einen geringeren Teil der potentiellen AfD-Unterstützer ausmacht – auch deswegen, weil die größte Oppositionspartei im Bundestag, die Union, in den ostdeutschen Bundesländern ausweislich der zahlreichen Umfragen von dieser Proteststimmung fast gar nicht profitiert, teilweise sogar an Zustimmung einbüßt.
Ein Erklärungsversuch besteht darin, die Migrationskrise und die (unzureichenden) Antworten der Bundesregierungen und der etablierten Parteien als Ursache des Erstarkens der AfD einzuordnen. Dafür spricht zunächst,
- dass die AfD seit der großen Flüchtlingskrise 2015/16 erstarkt ist und
- dass in vielen westeuropäischen Ländern rechtspopulistische Parteien ebenso vor allen mit rassistischen Ressentiments groß geworden sind.
Rassistische Positionen und Ressentiments sind in weiten Teilen der Gesellschaft, in Ost und West, breit verankert. Jedes neue Flüchtlingsboot im Mittelmeer und jeder abscheuliche Anschlag von Islamisten wird von der AfD genutzt, um ihre Politik der Ausgrenzung, der Missachtung von Menschenrechten und der Beförderung des völkischen Denkens im Sinne der sogenannten Remigration zu befördern.
Allerdings zeigt eine nähere Betrachtung, dass es hier beachtliche Unterschiede zwischen den östlichen und westlichen Ländern gibt:
– Aufgrund der geringen Erfahrung mit Menschen mit Migrationsgeschichte in der DDR,
– der Ausgrenzung von Arbeitsmigranten aus Vietnam, Kuba und einigen afrikanischen Ländern durch spezielle Wohneinrichtungen
– sowie der auch im Vergleich zur Bundesrepublik fast nicht erfolgten breiten Aufarbeitung der Hitlerdiktatur
ist die Neigung zur Abwertung und Ausgrenzung sowie die Bereitschaft zur auch militanten Abwehr von Menschen mit Migrationshintergrund und Andersdenkenden im Osten des Landes stärker entwickelt.
Im Westen gibt es ähnliche Erscheinungen, aber auch ein davon abweichendes und differenzierteres Bild. Eine große Mehrheit der Bevölkerung hat keine Probleme mit einer migrantisch geprägten Gesellschaft und vertritt humanistisch geprägte Grundpositionen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Gleichzeitung verbreitet sich ein Gefühl der Verunsicherung und Hilflosigkeit angesichts der vermuteten oder tatsächlichen Größenordnung der nicht geplanten Zuwanderung sowie der unzureichenden Integrationsanstrengungen der verschiedenen staatlichen Ebenen (Kommunen, Länder und Bund). Erwartet und zu Recht gefordert wird Humanität und Ordnung. Und das auch im Wissen, dass der Migrationsdruck auch auf Grund der Klimakrise zunimmt. Dieses Thema erklärt teilweise, warum die Stärkung der AfD zwar auch in den westdeutschen Bundesländern festzustellen ist, aber nicht die Größenordnung in den ostdeutschen Bundesländern erreicht.
Eine andere Begründung für die extrem hohen Zustimmungswerte der AfD im Osten besteht darin, dass sich viele Menschen abgehängt fühlen und Bürger 2. Klasse seien. Die Tatsachen widersprechen dem. Seit vielen Jahren erklären 80 Prozent in den ostdeutschen Bundesländern „Mir persönlich geht es gut“, aber „Ostdeutschland geht es „total schlecht“. Thüringen ist in vielem wie Sachsen ein blühendes Bundesland. Die Renten sind angeglichen. Innenstädte gut renoviert.
Zwar sind längst nicht alle Probleme, die sich im Zuge der Wiedervereinigung ergeben haben, gelöst. Aber laut einer neueren Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach liegen die größten Differenzen zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen auf anderen Feldern. So behaupten 27 Prozent der Befragten mehr als im Westen, dass wir in keiner Demokratie lebten und die Bürger nichts zu sagen hätten (54 zu 27 Prozent). 28 Prozent mehr als im Westen wünschen sich einen Ausbau der Kontakte zu Russland (53 zu 25 Prozent). Dies deckt sich mit anderen Untersuchungen. Danach lehnen im Ergebnis Zweidrittel der Ostdeutschen das westlich liberale Staatssystem ab und sind für ein autoritäres Staatssystem.
Die Zustimmung zur AfD fällt also deswegen in den östlichen Bundesländern weitaus höher aus als im Westen, weil die Mehrheit der Ostdeutschen „Freiheit und Demokratie … nicht als inneres Bedürfnis“ ansehen (Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker). Sie sind nicht der Demokratie angekommen bzw. verstehen Demokratie nicht als Parteien-Demokratie mit durch Verfassung geschützten Regeln und Aushandlungsprozessen, sondern als Staatsform, in der es um „die Verwirklichung des unmittelbaren Volkswillens“ (Steffen Mau, Soziologe) geht. Umgekehrt wird jedes Problem direkt der Regierung, aktuell dem etablierten Parteien-System zugeordnet. Das ist, wie der Soziologe Steffen Mau ausführt, mit einem tief sitzenden Ressentiment und einer Frustkultur verbunden.
Die Grundlagen dafür wurden durch eine über Jahrzehnte gehende ideologische Dauerbeschallung (1933-1945, 1949-1990) besonders in der Zeit der DDR gelegt. Mehr oder weniger, weitgehend nicht aus Überzeugung folgte die Mehrheit der Ostdeutschen den Vorgaben der Regierung. Das gab Sicherheit. Die Freiheit von der DDR-Diktatur erlebten sie als Verlusterfahrung. Klare Regeln verschwanden, eine neue Unübersichtlichkeit verlangte ständig eigene Entscheidungen. Eine Alternative dazu wurde und wird gesucht, die Führung verspricht, Unwillige ausgrenzt und bekämpft und einfache Antworten auf komplizierte Sachverhalte verspricht.
Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum eine Partei wie die AfD mit untauglichem Programm, gegen die Interessen ihrer Wähler gerichteter Politik, ständig Lügen verbreitenden und Recht brechenden Politikern im Osten besonders verfängt.
Es ist davon auszugehen, dass die Verankerung der AfD im Osten nicht schnell und einfach schwindet. Die demokratischen Kräfte stehen vor einer Langzeitaufgabe. Die eigene Verankerung in der „Mitte der Gesellschaft“, die Stärkung der demokratischen Parteien, die Gewinnung von Jugendlichen breitem Umfang für demokratische Beteiligungsprozesse für soziale und ökologische Aufgaben, die Wahrnehmung der Aufklärungsfunktion demokratischer Medien und die Eroberung sozialer Medien durch demokratische Kräfte sind einige Stichworte für ein breites Aufgabenpaket zur Zurückdrängung der AfD und anderer verfassungsfeindlicher Kräfte. Hinzu kommen muss in jedem Fall, die Anwendung von Recht und Gesetz gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen.