Endlich ist sie da – die „andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“, so der Untertitel des Essays von Ilko-Sascha Kowalczuk „Freiheitsschock“. Er ist gerade als Buch im C.H.Beck Verlag erschienen. Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, wuchs in Ost-Berlin auf. Er ist Historiker und lebt in Berlin und Bayreuth. Mit seinem Essay setzt sich Kowalczuk auf dem Hintergrund der Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer seit der Friedlichen Revolution 1989/90 mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation und Befindlichkeit vieler ostdeutscher Bürger:innen auseinander und hinterfragt sehr kritisch eine „ostdeutsche“ Identität. Seine Grundthese lautet: „Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ostdeutschen Gesellschaft erlitt ab Herbst 1989 einen Freiheitsschock. Freiheit bedeutet, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen und sich das Recht herauszunehmen, mitreden, mitgestalten, mitentscheiden zu wollen. Freiheit ist keine Voraussetzung, um freiheitlich zu leben … In der Freiheit zu leben, setzt aber ein Staatsgebilde voraus, das die Rahmenbedingungen dafür bietet.“ (S.10) Kowalczuk spürt in seinem Buch dem nach, „warum so viele Ostdeutsche … so große Probleme haben, Freiheit und Offene Gesellschaft nicht nur als Zumutung, sondern als eine Chance zu sehen, die ihnen die Möglichkeit bietet, sich zu entfalten. Tatsächlich hat ein größerer Teil der Ostdeutschen einen ‚Freiheitsschock‘ erlitten, als es darum ging, nun das Heft des Handelns und die Gestaltung eigener Wege in die Hände zu nehmen.“ (S.10-11)
Besonders lesenswert sind die Abschnitte zur AfD („Keine demokratische Alternative“, S.173ff), in der Kowalczuk den völkisch-nationalistischen Charakter der AfD scharf analysiert, und zum „Prinzip Sahra Wagenknecht“(s.164ff), eine Abrechnung mit einer Leninistin, die sie (nicht nur für Kowalczuk) bis heute geblieben ist. Mit guten Argumenten kommt Kowalczuk zu dem Schluss: „Das BSW ist programmatisch eine Schwesterpartei der AfD.“ (S.171) Das erklärt übrigens auch, dass das BSW weder in Thüringen noch in Sachsen auf Kosten der AfD Stimmenzuwachs hat.
Kowalczuk legt in seinem Buch auch sehr schlüssig dar, worin das gründet, was ich derzeit Straßenwahlkampf in vielen Gesprächen erlebe: Da schlägt einem eine unmäßige Verbitterung und Wut von allzu vielen Bürger:innen entgegen – oder mit den Worten von Kowalczuk: „Wir befinden uns in einer Spirale der Empörung und Geringschätzung.“ (S.143) Das Land steht am Abgrund … die Wirtschaft bricht zusammen … die Ausländer werden uns bald beherrschen … nichts funktioniert mehr … und dann wird auch noch in der Ukraine Krieg geführt, in dem all das Geld verpulvert wird, das uns hier fehlt – so schallt es aus vielen Kehlen – und nur wenige sind bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen und sich bewusst zu machen „Wir brauchen keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft – das ist das Wesen von Demokratie und Freiheit.“ (S.143) Zu dieser Kompromissgesellschaft gehört auch die Erkenntnis, dass „zur Einheit … immer auch die Vielfalt, der Gegensatz (gehört) … So sieht nämlich Einheit aus, überall auf der Welt: Vielfalt hinnehmen.“ (S.122)
Ich kann nur jedem und jeder, der:die die Stimmungslage in den ostdeutschen Bundesländern zu verstehen versucht, empfehlen, dieses Buch aufmerksam zu lesen. Kowalczuk liefert viele gute Argumente für Gespräche mit Nachbarn, am Arbeitsplatz, im Schrebergarten. Vor allem aber ist sein Buch ein Plädoyer für die engagierte Beteiligung eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin für Freiheit und Demokratie, gerade weil „Freiheit und Demokratie … auch für jeden Einzelnen weitaus anstrengender als das angepasste, unauffälliger Leben in der Diktatur (sind).“ (S.217)
Zum Autor: Christian Wolff, 1949 in Düsseldorf geboren, studierte evangelische Theologie in Wuppertal und Heidelberg. 1973/74 war er Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) an der Universität Heidelberg. Nach dem Vikariat trat er 1977 die Pfarrstelle an der Unionskirche in Mannheim-Käfertal an. Von 1992 bis 2014 war er Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig, seit 1998 1. Pfarrer und Pfarramtsleiter.
In der SPD müssen wohl die Nerven blank liegen, wenn in einem parteinahen Blog, nicht nur in diesem Beitrag, auch in einigen anderen, derart wütend über das BSW, namentlich über Sahra Wagenknecht hergezogen wird. Wutbürger – diesmal nicht aus den Reihen der AfD, sondern aus dem linken (?) Spektrum.
Für die Behauptung, dass Wagenknecht eine Leninistin sei, wird kein Beleg gebracht. Auch die Begründung der Aussage, das BSW sei programmatisch eine „Schwesterpartei“ der AfD, überzeugt nicht. Der Autor stützt sich darauf, dass „das BSW weder in Thüringen noch in Sachsen auf Kosten der AfD Stimmenzuwachs hat“. Das stimmt, aber das zeigt ja nur, dass das BSW gerade nicht die „Schwesterpartei“ der AfD ist. Das wird auch durch die Europawahl bestätigt. Die BSW-Wähler kamen zum weitaus größten Teil von SPD, Linken, Union und FDP. Dabei hat jede dieser Parteien, am meisten jedoch die SPD, mehr Stimmen an das BSW verloren als die AfD.
Weder Christian Wolff noch Ilko-Sascha Kowalczuk kennen offenbar das Programm der AfD. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik verlangt die AfD z. B. die Abschaffung der Vermögens- und Erbschaftssteuer, die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den nationalen Steuersystemen, die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit, die Gewährung bestimmter Sozialleistungen nur für „einheimische Deutsche“. Zudem will die AfD Bundeswehr und NATO stärken, die Wehrpflicht wieder einführen und die Bundeswehr in der Bevölkerung fest verankern. Mit einigen dieser Forderungen dürfte sie näher bei der Regierung sein als beim BSW.