Am 10. Oktober 1981 demonstrierten über 300000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von Atomwaffen in Europa. Wie sollte die kleine Stadt am Rhein mit diesen Menschenmassen fertig werden? Was, wenn es zu Gewaltausbrüchen käme? Es wurde an die RAF-Zeiten, den Herbst der Republik erinnert, gemahnt, gewarnt. Die Union warf den Demo-Veranstaltern Nähe zu Moskau vor. Bonner Geschäftsleute verriegelten und verrammelten ihre Läden, die Fensterscheiben wurden mit Holzplatten vernagelt aus Angst, ihnen würden die Scheiben eingeschmissen. Und? Nichts passierte. Es blieb friedlich, wie es Heinrich Böll von den Demonstranten erbeten hatte. Der Literaturnobelpreisträger aus Köln, gesundheitlich angeschlagen, hatte die zumeist jungen Teilnehmer an den Anti-Atomwaffen-Protesten zur Besonnenheit aufgerufen und sie gemahnt, wenn sie Steine in den Händen hätten, diese doch bitte leise fallen zu lassen.
Vergleiche hinken, keine Frage. Auch ein Vergleich 1981 mit 2024 tut das, die Lage in der Welt ist eine andere, der Krieg ist durch den Überfall Russlands in die Ukraine zurück in Europa. Die USA und Deutschland haben vereinbart, Raketen u.a. in Deutschland zu stationieren, damit man sich wehren, verteidigen könne gegen mögliche Angriffe aus Russland, das Raketen in Kaliningrad aufgebaut hat, dem einstigen Königsberg, Raketen, die Deutschland treffen könnten. Gefahr im Verzug, könnte man den deutschen Verteidigungsminister Pistorius interpretieren, der am Abend dem ZDF-Moderator Christian Sievers Rede und Antwort stand. Der SPD-Kanzler Olaf Scholz hat die Vereinbarung mit US-Präsident Biden getroffen. Also haben wir bald wieder Rheinland-Pfalz als Land der Rüben, Reben und Raketen, als Flugzeugträger der USA? Wo bleibt der Aufschrei der Friedensbewegung? Was sagen die Grünen dazu, die einst als Anti-Kriegs-Partei gegründet worden waren? Wo sind die Linken in der SPD? Deutschland gerät mal wieder zwischen die Fronten, mehr noch, es steht im Zentrum möglicher Angriffe aus Moskau.
Moralische Instanz
Heinrich Böll war eine moralische Instanz der Republik, die man ihm zuwies abseits aller übler Anfeindungen von konservativer Seite. Böll stand einer Persönlichkeit wie Willy Brandt sehr nahe, dem Friedensnobelpreisträger und ehemaligen SPD-Kanzler, der seine eigenen Erfahrungen in Deutschland gemacht hatte. Böll war kein Partei-Politiker, aber er war grundlegend gegen jeden Krieg und Aufrüstung, er wusste, wovon er redete, er war Soldat im 2.Weltkrieg. Einer wie Henrich Böll hatte sich für verfolgte Autoren eingesetzt und Alexander Solschenizyn in seinem Haus in der Eifel aufgenommen. Seine Werke wurden früh ins russische übersetzt und in der alten Sowjetunion vielfach gelesen. Wenn man so will, ist er ein literarischer Vorbereiter der späteren Politik der Entspannung und der Aussöhnung mit dem Osten, wie sie Brandt und sein enger Berater Egon Bahr gemacht haben. Und dieser Heinrich Böll zählte sich zur Friedensbewegung, nicht als Angehöriger einer ihrer Organisationen, sondern „ich unterstütze diese Bewegung als Staatsbürger und Zeitgenosse. Grundsätzlich sehe ich es als außerordentlich wichtig an, auf die Absurdität weiterer Rüstung – die in diesem Stadium ein Irrsinn ist- hinzuweisen.“
Auf der größten Demo in der Geschichte der Bundesrepublik sprach Böll zusammen mit Erhard Eppler, dem Sozialdemokraten, mit Heinrich Albertz, dem Ex-Berliner Bürgermeister, mit dem Sänger Harry Belafonte und der Grünen Petra Kelly zu den Hunderttausenden: „Die Politiker haben ja die Wahl, uns zu apathischen Zynikern zu machen. Das ist sehr leicht geschehen. Sie können es haben, sie können eine gelähmte Bevölkerung auf der ganzen Welt haben, die gelähmt ist von diesen Waffenpesten und Waffenzahlen. Wir wollen uns nicht lähmen lassen.“
Am Vorabend der Demo tobte im Bonner Parlament eine hitzige Debatte, ein erbitterter Streit über pro und contra der Kundgebung, auch über die Frage, ob man sie zulassen dürfe. Vorweg dies, sie wurde zugelassen und erwies sich als ein Muster an Friedfertigkeit. Als Bonner Korrespondent der WAZ war ich dabei, bin mitgelaufen mit den verschiedenen Gruppen, habe mit dem einen oder anderen geredet, darüber geschrieben. Nie gab es ein Anzeichen von Gewalt, nie wurde ein Demonstrant gewalttätig. 1985 urteilten die höchsten deutschen Richter zum Versammlungsrecht, an der Friedens-Demo 1981 in Bonn sollten sich Behörden im Vorfeld anderer Groß-Demonstrationen ein Vorbild nehmen. Quasi ein Musterbeispiel einer Demonstration(so die Rheinische Post), die ja immerhin nur ein paar Hundert Meter entfernt von Kanzleramt und Bundeshaus stattgefunden hatte. „Dabei“, so die Zeitung weiter, „ist der Bonner Hofgarten am Tag der Demo zu einem Schauplatz des Kalten Krieges geworden.“
Die Interessen Moskaus
Die Debatte im Bundestag war hoch-emotional und sie beschäftigte sich weniger mit Raketen vom Typ SS 20-so hießen die sowjetischen- noch mit Pershing oder Cruise Missile- so die amerikanischen. Vielmehr wurden Liedermacher kritisiert, wurde über Sambagruppen hergezogen oder über blaue Luftballons mit Friedenstauben drauf gespottet. Die Union hätte gern die Kundgebung verbieten lassen. CSU-Mann Friedrich Zimmermann, später Innenminister unter Helmut Kohl, zürnte: „Diese Veranstaltung dient eindeutig den Interessen Moskaus, sie ist in ihrer Stoßrichtung gegen die offizielle Politik der Regierung gerichtet“. Oppositionschef Helmut Kohl(CDU) warf der SPD des Kanzlers Helmut Schmidt vor, mit der kommunistisch gesteuerten Friedensbewegung zusammenzuarbeiten. Die Rede von der Volksfront machte mal wieder die Runde. Der Stammtisch frohlockte ob der Polemik. Genüsslich hielt die Opposition den Finger in die Wunde, wusste sie doch, dass Helmut Schmidt ein Verfechter des Nato-Doppelbeschlusses war, wenn nicht gar einer ihrer Erfinder, aber sie kannte natürlich die Diskussion innerhalb der SPD. Oskar Lafontaine war einer der Wortführer der Linken in der Partei, Erhard Eppler immerhin auch mal Entwicklungshilfeminister der SPD-geleiteten sozialliberalen Regierung. Und es war ja nicht von der Hand zu weisen, dass auch der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt Sympathien für die Friedensbewegung hegte. 1981 flog Brandt gegen den Willen des Kanzlers Schmidt nach Moskau, um mit KP-Chef Breschnew über die Raketen-Fragen zu sprechen. Am Ende der Bundestags-Debatte sprach sich das Parlament für den Nato-Doppelbeschluss aus, ließ aber ausdrücklich die Kundgebung darüber zu. Die Union scheiterte mit ihrem Vorhaben, den Demo-Aufruf für unvereinbar mit den sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik zu erklären.
An der Kundgebung nahmen auch Soldaten der Bundeswehr wie der niederländischen Armee in Uniform teil. „Soldaten gegen Raketen“ stand auf einem Plakat, das sie in Händen hielten, auf anderen Plakaten wurde dafür plädiert: „Petting statt Pershing“. Die Straßen der Stadt waren überfüllt, wer irgendwohin wollte, musste warten oder sich mit der Menge bewegen, es war halt eng, aber friedlich. Hin und wieder priesen Wurst-Verkäufer ihre Waren an. In der Luft kreisten Hubschrauber.
Haupt-Redner war Heinrich Böll, er beschwor die Gewaltfreiheit und spottete ein wenig über die „Agents Provocateur“, gemeint vermutete Stimmungsmacher in der Menge, die stören wollten, bezahlt von wem auch immer. Böll sagte: „Wir alle hier oben und die Organisatoren erklären uns bereit, wenn Sie diskret zu uns kommen, Ihnen den Verdienstausfall zu ersetzen“. Nichts passierte, nirgendwo kam es zu Gewalt. Die Menschenmassen gingen am Abend auseinander, einige in die nächste Kneipe, um noch ein Kölsch zu trinken, andere nahmen noch Teile des Mülls mit. Später wurde die Demo auch „Demonstration auf Samtpfoten(zitiert nach RP) genannt. Ein Demonstrant schrieb auf die mit Brettern vernagelten Schaufenster: „Jetzt bin ich extra aus Moskau gekommen, um hier einzukaufen“.
Geschichte geschrieben
Über die Erfolge oder Auswirkungen der Friedensbewegung in den 80er Jahren mag man streiten. Geschichte hat sie geschrieben mit ihren gewaltfreien Aktionen in aller Welt. Richtig ist, dass sich viele junge Leute mit ihr politisch sozialisiert haben. Man denke an Debatten auf evangelischen Kirchentagen, an Friedenwochen, die Blockade von Mutlangen(u.a. mit Heinrich Böll und Dieter Hildebrandt). Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Schmidt von Helmut Kohl abgelöst durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Die Außen- und Sicherheitspolitik, wozu der Nato-Doppelbeschluss gezählt hat, hat gewiss eine Rolle gespielt, entscheidend für den Wechsel der Liberalen unter Hans-Dietrich Genscher zur Union mit Kohl war aber wohl mehr die Sozial- und Wirtschaftspolitik, wie sie Graf Lambsdorff für die FDP in seinem Wende-Papier aufgeschrieben hatte, das Scheidungspapier schlechthin. Ob es zutraf, dass der Westen die Sowjetunion totgerüstet hat mit dem Nato-Doppelbeschluss? Oder hat doch eher die Entspannungspolitik 1989 zur Implosion der UdSSR geführt?
Noch ein Wort zu den Grünen. Der Blog-der-Republik hat am 18. März 2024 das Austrittsschreiben des Grünen-Gründungsmitglieds Ulfried Geuter veröffentlicht. „Ich war einmal froh und stolz, ein Grüner zu sein“, heißt es in dem Schreiben. Geuter weist dann auf das Nein der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer zum Irak-Krieg hin, darauf, dass Joschka ‚Fischer dem US-Verteidigungsminister Rumsfeld auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Stirn geboten habe und anderes. „Heute, wo Anton Hofreiter und Annalena Baerbock das Wort in der grünen Außen- und Sicherheitspolitik führen, kann ich es nicht mehr. ..Heute, wo es nicht mehr oberstes Ziel grüner Außenpolitik ist, Kriege zu beenden und Leid zu vermeiden, sondern, wo sie nur eine Richtung kennt: immer mehr und schlagkräftigere Waffen zu liefern, um dann eventuell mit dem Colt auf dem Tisch verhandeln zu können.“
Die Älteren werden sich noch an die Songs erinnern, die die Friedensbewegung gesungen hat: „We shall overcome some day. “ Oder auch: Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unser Widerstand nicht.. Oder wie Heinrich Böll sein Mitwirken in Mutlangen(u.a. mit Oskar Lafontaine, Petra Kelly, Erhard, Eppler, Dieter Hildebrandt, Wolf Biermann, Helmut Gollwitzer, Günter Grass) formulierte: „…weil ich es zu einfach finde, nur vom Schreibtisch aus oder gelegentlich in einem Interview oder anlässlich einer Veranstaltung eine so ernste Sache zu vertreten. Es ist auch der Wunsch, mit all den Menschen, die so viel opfern, mich zu solidarisieren. Und so schlimm ist die Strapaze für mich nicht.“
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ titelte 2019 in einem Rückblick über den Nato-Doppelbeschluss: „Die Kernspaltung der Gesellschaft.“ Der Text begann mit den Zeilen: „Abrüstung durch Wettrüsten“.
Bildquelle: Nederlands: Collectie / Archief : Fotocollectie Anefo, public domain
Danke für die Erinnerung an ein Ereignis, das zu meinem Lebenswerk zählt. Ich war damals 21 Jahre alt. 1981 war mein persönliches 1968. Wir waren die 81er. Obwohl wir viel mehr waren als die 68er, hat sich ein solches historisches Selbstbewusstsein leider nicht durchgesetzt. Bis heute gibt es praktisch keine historische Literatur über die Friedensbewegung der 1980er Jahre, kaum Zeitzeugeninterviews, keine organisierten Archive. Ich habe mein Archivmaterial aus der Zeit dem Stadtarchiv Aachen überlassen. Das Haus der Geschichte in Bonn hat mir meine Jeansjacke mit rund fünfzig Friedensbuttons abgekauft. Wer noch solche Dinge hat: Bitte sichert sie auf ähnliche Weise rechtzeitig, ehe eure Kinder alles wegwerfen.
Übrigens: Wer ist die Friedensbewegung? Du selbst bist sie. Wenn du eine Friedensdemo vermisst, musst du eine organisieren. Es gibt keine Behörde und keine Firma, die das für dich erledigen wird.