* (Zitat aus dem FAZ-Aufmacher vom 08.07., mit einer Nahaufnahme von Nagelsmann mit tränennassen Augen)
Ob man Fußball für die wichtigste Nebensache unseres Daseins hält, ist eine Frage der Perspektive. Fußball ist aber nicht völlig unwichtig. Man braucht kein Gesellschaftstheoretiker zu sein, um zu verstehen, dass es sich beim Sport um einen ideologischen Staatsapparat handelt. Die Aufgabe dieser Apparate besteht darin, bei den Subjekten einer Gesellschaft Einverständnis mit ihrer Unterwerfung unter die Herrschafts- und Machtverhältnisse, in denen sie leben, zu erzeugen. Das sub-jektum ist das Unter-Worfene, das sich frei wähnt. In der Sprache der FAZ wird diese Einordnungsfunktion der ideologischen Apparate verrätselt: Sport sei ein „Symbol“ (Alfons Kaiser: Ziemlich losgelöst, FAZ, Freitag, 05.07.2024). Immerhin: damit ist der Schritt zum Begriff der Symbolpolitik, um die es geht, nicht mehr weit.
Das Erlebnis des Sportes soll ein Gemeinschaftsgefühl schaffen zwischen denen, die nicht nur kulturell verschieden sind, sondern die real ungleich, eben, um es plakativ zu sagen, arm oder reich, Unternehmer oder Lohnabhängige sind, nationale Versöhnung über alle Klassenschranken hinweg. Kulturellen Differenzen kann man leicht Rechnung tragen. Christian Kamp lobt in seinem Kommentar „Sind wir wieder wer?“ in der FAZ vom 8. Juli den DFB für die Wendigkeit, die beinharten Traditionsnationalisten durch „Schwarz-Rot-Gold“ und die Anhänger und Anhängerinnen von identitätspolitischer Diversität „mit einer Alternative in Pink“ zu einer Eintracht in der „Zeitenwende“ verschmelzen zu wollen: Landsertyp und grüner Nerd auf den Tribünen und Stehplätzen im „Traum“ verbunden. Bald auch vielleicht in den Schützengräben.
Das Problem: Die herbeigesehnte Einheit von Fußballnationalmannschaft und „Deutschland“, diese „weltmeisterliche Selbstgewissheit“ vor den Fernsehgeräten, in den Fan-Zonen der Städte und in den Automobilen „Traumdeutschlands“ stellt sich nur ein, wenn sie auf dem Sockel des sportliche Erfolgs steht. Damit war es in den vergangenen Jahren ziemlich zappenduster und daher war es auch um die Neuauflage eines „Sommermärchens“ 2.0 denkbar schlecht bestellt. Deutschlandfahnen an den Fenstern, Fregattenbeflaggung am Kleinwagenheck oder Schwarz-Rot-Gold-Kondome um die Rückspiegel sah man eher selten. Trotz des Nagelsmann-Hypes blieben die Fans erfreulich skeptisch und das Ausscheiden der deutschen Mannschaft gegen Spanien gibt dieser Skepsis Recht.
Wer unter diesen Bedingungen eine kritische Bestandsaufnahme der Verantwortlichen erwartet, kennt die Deutschen schlecht. Schon als sie 1918 ihren „Krieg der Illusionen“(Fritz Fischer) verloren hatten, schrien die nationalistisch verblödenden Medien und Politiker etwas von „Im Felde unbesiegt“. Daher lautet die erste Umdeutung der Niederlage: Wir sind gar nicht wirklich besiegt worden, der verdiente Sieg wurde uns gestohlen. Den Dolch soll diesmal ein englischer Schiedsrichter, Anthony Taylor, zum Stoß angesetzt haben. Er habe „den Deutschen“ einen angeblich fälligen Elfmeter verweigert und sie dadurch um den Sieg gebracht. Man muss der FAZ zugutehalten, dass sie sich erst gar nicht auf diesen Holzweg begeben hat. Tobias Rabe legt auf der Seite 23 der Montagsausgabe nicht nur detailliert die Handspiel-Regel auseinander („Das große Rätsel Handspiel“), auf derselben Seite bringt Christopher Meltzer die Sache auf den springenden Punkt: Die deutsche Mannschaft sei „eine sehr gute Mannschaft“ gewesen, die spanische jedoch ist „eine sehr, sehr gute.“
Anthony Taylor hat noch eine andere Rolle gespielt: So wie die „Eliten“ des großen Deutschland in den Kriegen, die sie angezettelt haben, durchaus geahnt hatten, dass sie ihren Gegnern strategisch unterlegen sind, aber glaubten, sie könnten diese Unterlegenheit durch taktische Schachzüge (Blitzkrieg) überspielen und die an Ressourcen überlegenen Gegner überrumpeln, so ging es seit den gehäuften Niederlagen der „Flick-Ära“ selten um Strategisches, um spielerische Defizite bzw. Fähigkeiten, sondern im Mittelpunkt der medialen Geräusche standen Körpersprache, Robustheit, Mentalität, Einsatz, Aufopferung, Entschlossenheit mit letzter Konsequenz und Zusammenhalt der Mannschaft, von Kamp verdichtet zu „Leidenschaft“. Es ging und geht also um Sekundärtugenden, die man für das Überleben in vielen Konstellationen benötigen mag, die aber Spielwitz nur im geringen Maß ersetzen können. Letztlich handelt es sich um wortreiche Ermutigungen zum Foulspiel. Genau so wurden die süffisanten Bemerkungen in den Medien, die Spanier würden körperbetontes Spielen gar nicht mögen und kämen damit nur ganz schlecht zurecht, von der deutschen Nationalmannschaft verstanden, die sich der fulminanten Spieleröffnung der spanischen Mannschaft nur mit vermehrtem und teils bösartigem Foulspiel erwehren konnten. Der spanische Offensivspieler Pedri González erlitt durch ein Foul von Toni Kroos eine so schwere Knieverletzung, dass er nach acht Minuten vom Platz musste und bis zum Ende des Turniers ausfallen wird. Um noch einmal auf den Schiedsrichter zu sprechen zu kommen: Hier wäre durchaus nach der gelben auch die rote Karte möglich gewesen. Ganz offensichtlich hat Kroos vom Schiedsrichter einen Bonus aufgrund des bevorstehenden Endes seiner Profilaufbahn bekommen. Darüber spricht man in Deutschland seltener.
Die wichtigste Variante bei der Umdeutung der Niederlage besteht darin, die sportliche Niederlage (halbherzig) einzuräumen und gegen einen vermeintlichen Erfolg auf anderem Gebiet aufzurechnen und darüber kleinzureden. Dieser Erfolg besteht in einer schiefen Diagnose und in Appellen, das Symbol (Fußball) auf das Symbolisierte (Gesellschaft und Staat) zu übertragen. Dies sei Nagelsmann in „einer Art Ruck-Rede“ (Kamp) gelungen. Mit diesem fragwürdigen Lob wird allen Ernstes das Geschwätz bedacht, es habe bis zum Ausscheiden der Mannschaft aus dem Turnier „eine Symbiose zwischen Mannschaft und den Menschen im Land“ gegeben. Die müsse sich als „nachhaltig“ erweisen (auch bei Niederlagen? Spekulation auf den Masochismus der Massen?), vor allem aber sei „diese Symbiose in weit wichtigeren Dingen fortzusetzen“. Man wird von Nagelsmann ein nachvollziehbares, argumentierendes Fazit des Abschneidens der von ihm trainierten Mannschaft im Wettbewerb erwarten können, aber er sollte sich in seinem eigenen Interesse von problematischen Thesen dieser Tragweite fernhalten. Wann wurde das letzte Mal in Deutschland so unverblümt von „Symbiosen“ geredet, wo es nicht um Zoologie, sondern – idealer Weise – um vernünftige, zurechnungsfähige Individuen geht? Wenn Nagelsmann nicht weiß, in welche reaktionäre Traditionen er sich mit seinem unbedachten Gerede einordnet, die Redakteure von FAZ (und BILD und andere), die darüber in Verzückung geraten, werden es wissen (müssen). Und weiter Nagelsmann: „Wir müssen zurück zur Gemeinsamkeit, ein bisschen weg von dieser unfassbaren Individualität, hin zu einer geschlossenen Gruppe. Das hat das Fußballturnier gezeigt. Aber das Fußballturnier hat nur eine ganz kleine Relevanz für dieses Land. Wir haben viele andere Dinge, die wir, glaube ich, so nutzen können, dass das Fußballturnier ein Vorbild dafür ist.“ Das Harmloseste, was sich über diesen Kulturkonservatismus sagen lässt: Er ist hilf- und wirkungslos. Man kann nicht unbeschränkt mobile und flexible Arbeitskräfte fordern, permanente Selbstoptimierung, vorbehaltlose Verwertungs- und, wenn es sein muss, Opferbereitschaft in den kommenden Welt-„Ordnungs“-Kriegen einfordern und gleichzeitig intakte Familien, Verwandtschaften und stabile Vereine herbeiwünschen. Man kann einer Mega-City nicht das Kulturleben eines Dorfes überstülpen. Das ist nicht mehr als die substanzlose Predigt von „Sehnsüchten“, „Stimmungen“, Glaube und Hoffnungen, Gemeinschaftsgefühl, Worte, die an die verfluchte Ideologie der „Volksgemeinschaft“ angrenzen. Hilfsbereitschaft, auch Nachbarschaftshilfe beim Heckenschneiden, Rücksicht, Respekt sind menschenrechtliche Normen, die keine Nationalfarben brauchen. Das Problematischste an Nagelsmanns vermeintlicher „Ruck-Rede“ ist die Formulierung von der „geschlossenen Gruppe“. Diese allein gibt der Erinnerung an die Zeiten der „Volksgemeinschaft“ ihr Recht; sie ist in der Sache berechtigt, keine Rhetorik und Polemik. Selbst wenn die Journalisten der FAZ diesen Anklang verdrängen und verschweigen, müssten sie sich dennoch die Frage stellen, wie unter diesen Voraussetzungen die Gewinnung einer „Alternative in Pink“ gelingen kann (die mittlerweile, wie verwässert auch immer, im Profil des modernen „Post“-Faschismus auffindbar ist).
Christian Kamp, der von einer „Ruck-Rede“ spricht, bremst seinen apologetischen Überschwang, wenn er einräumt, dass das nur nach einer „frohen Botschaft“ klingt, der allerdings der „Realitätstest“ noch bevorsteht, z.B. in den kommenden Wahlen. Daran wird klar: Es geht den Journalisten der FAZ nicht nur und im Moment nicht einmal vordringlich um die Frage, wie die Unteren bei den Stangen des Bestehenden zu halten sind, sondern um die Sorge, dass der politische Basiskonsens, der die bürgerlichen Parteien von SPD, CDU, FDP über Grüne bis hin zur AfD in unterschiedlicher Ausprägung verbindet, immer weiter erodiert. Man merkt es an der Berichterstattung über die Wahlen zum französischen Parlament. Der Schreckensname für die bürgerliche „Mitte“ ist seit dem Wahlabend nicht Marine Le Pen, sondern Jean-Luc Mélenchon.
Dass Tränen nicht lügen, ist ein deutscher Schlager-Irrtum. Treffend war die Wahl des deutschen EM-Liedes. „Völlig losgelöst“ – nämlich von den sportlichen und den gesellschaftlichen Realitäten. Und die deutschen Fans haben mit Inbrunst mitgesungen, ohne zu wissen, was sie da singen: das Lied von der Wirklichkeitsferne, vom Verlust der Bodenhaftung. Befeuert von eskapistischen Sehnsüchten und dem realitätsblinden Irrationalismus der Gefühlsmobilisierung, in „Symbiose“ mit einem „Major Tom“, der dann anders heißen wird, zurück nach Langemarck und vorwärts zum erneuten Griff nach der Weltmacht, wenigstens aber nach der nächsten Weltmeisterschaft.