2014 war das Jahr, in dem an den Ausbruch des 1. Weltkriegs erinnert wurde, den großen Krieg, wie ihn unsere Nachbarn genannt haben, weil sie ihn auf ihrem Boden erlebten und erlitten, Belgier und Franzosen. Und nicht zu vergessen der Krieg im Osten. Das Deutsche Reich blieb von den Schlachten à la Verdun verschont, bekam aber die Schrecken des Krieges sehr schnell durch die Opfer zu spüren, die dem anfänglichen Jubel folgten, und die verwundeten Soldaten, die in den schnell eingerichteten Lazaretten medizinisch behandelt wurden. Mahnend wurde der vielen Millionen Toten im letzten Jahr gedacht, vor allem auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine. Die große Sorge schwang da oft mit, ob denn die Welt schon wieder aus den Fugen geraten sei. 100 Jahre waren seit Sarajewo vergangen. Und jetzt, 2015, rücken die nächsten noch viel schwereren Gedenken näher. Am 8. Mai wird es 70 Jahre her sein, dass der 2. Weltkrieg zu Ende ging, der mehr als 55 Millionen das Leben kostete, ein Krieg, von den Nazis und Adolf Hitler vom Zaun gebrochen.
Wir reden in diesen Tagen auch über andere Jubiläen. Über Otto von Bismarck, der vor 200 Jahren geboren wurde, den man gern lobt für seine Sozialgesetzgebung und Reichseinigung, dabei leicht außer Acht lässt, dass er ein Reaktionär war, der mit den Sozialisten und Katholiken umgesprungen ist, als wären es seine Feinde. Und was Bismarck von der Pressefreiheit hielt? Nichts. Im Sommer diesen Jahres werden wir der Schlacht von Waterloo vor 200 Jahren gedenken, bei der die Herrschaft von Napoleon über Europa letztendlich beendet wurde.
Die schweren Tage aber sind die, die mit dem Kriegsende 1945 zu tun haben. Das vernichtend geschlagene Deutschland lag in Trümmern. Der 8. Mai, Ende der Diktatur und Aufbruch in eine neue Zeit zugleich, eine Zeit, in der sich führende Politiker in Europa an die Arbeit machten, um Grenzen und Vorurteile zu überwinden, damit der alte Kontinent endlich Frieden findet. Ein Grund zum Danke sagen, Danke an die Nachbarn, dass sie uns Deutschen nach den schlimmen braunen Zeiten wieder die Hand reichten. Wer Auschwitz gesehen hat, kehrt in Demut wieder nach Hause.
Tag der Befreiung von den Nazis
Der 8. Mai, den der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede aus Anlass des 40. Jahrestags der Kapitulation von Nazi-Deutschland zu einem Tag der Befreiung vom Joch der Hitler-Diktatur erhob, befreit nicht durch uns selbst, sondern durch die Alliierten, die Amerikaner, die Briten, die Franzosen und die Russen, die im übrigen den größten Blutzoll zahlen mussten: 27 Millionen Russen kamen im 2. Weltkrieg ums Leben.
Wir werden der Schrecken gedenken, die die Nazis über Europa gebracht haben, Untaten, durch die Millionen Menschen buchstäblich vernichtet wurden. An die Befreiung des KZ in Auschwitz-Birkenau unweit der schönen Stadt Krakau am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee wurde schon vor Monaten in den Medien erinnert. Am 11. April 1945 wurde das KZ in Buchenwald in der Nähe der Schiller- und Goethe-Stadt Weimar befreit, wenige Tage später, am 15. April 1945, hatte der Schrecken für die Insassen des KZ Bergen-Belsen ein Ende, am 29. April 1945 schließlich, kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Reichs, wurde das KZ Dachau von seinen Peinigern befreit. Allein fünf bis sechs Millionen Juden aus allen Teilen Europas fanden in den KZ den Tod, Tausende, Zehntausende von Sinti und Roma wurden umgebracht, die Zahlen schwanken zwischen 200 000 und 500 000, so ist es nachzulesen im historischen Standardwerk von Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens.
Deutsche Katastrophe
Die Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis in einer eigens dafür geschaffenen Todes-Maschinerie, mit Gaskammern, hergestellt von deutschen Firmen, war ein „Menschheitsverbrechen“, begangen von einer Nation, die sich einst das Volk der Dichter und Denker nannte, aus dem binnen weniger Jahre ein Volk der Richter und Henker wurde, ein Volk, das „kulturell zum Westen gehörte und eben darum an westlichen Maßstäben gemessen wurde und gemessen wird“. So hat es Winkler ausgedrückt und dabei einen anderen berühmten deutschen Historiker, Friedrich Meineck, zitiert, der nicht zu Unrecht von der „deutschen Katastrophe“ gesprochen hatte.
100 Jahre Ausbruch des 1. Weltkriegs, 70 Jahre seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Als Mahnmale mögen die Kriegerdenkmäler allüberall gelten oder die Friedhöfe mit den gefallenen Soldaten aus aller Welt. Wenn die Steine, die für die Toten stehen, sprechen könnten…
70 Jahre. Am 30. April 1945 nahm Hitler sich das Leben und kurz darauf war der Krieg zu Ende. Noch einmal dazu Heinrich August Winkler: „Als sein Reich zusammenbrach, waren die meisten Deutschen wie benommen: Dass ihre frühere Begeisterung für den „Führer“ die Verbrechen erst möglich gemacht hatte, mit denen sie nun von den Siegern konfrontiert wurden, wollten 1945 nur wenige einsehen.“
Ein bisschen mehr Demut
70 Jahre, in diesem Fall sind es im Juli 2015 71 Jahre her. Ein Beispiel aus der deutsch-griechischen Geschichte, so wie es gerade die „Süddeutsche Zeitung“ wieder mal gemacht hat. Sie erinnert an einen Griechen namens Argyris Sfountouris, der das Massaker der Nazis im griechischen Dorf Distomo 1944 überlebte und heute, 61 Jahre später, ein Fernsehstar geworden sei, wie die SZ schildert. In der ZDF-Politsatire „Die Anstalt“ hatten sie ein Foto des Griechen gezeigt, als er vier Jahre alt war. Am Arm seiner Schwester sei er aus dem brennenden Haus geflohen, eine Entschädigung habe er nie bekommen. Erst 2003 habe der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Ermordung von 218 Zivilisten in Distomo eines der abscheulichsten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs genannt, für Agyris Sfountouris mindestens eine Genugtuung. Deutsch-griechische Geschichte, über die nachzudenken sich lohnt. Nein, wir müssen nicht in Schutt und Asche gehen. Aber ein bisschen mehr Demut im Umgang mit unseren heutigen Freunden. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der selbst die Nazi-Zeit erlebt hat, drückte es so aus: Scham statt Schuld sollte die Haltung der Deutschen sein.
Heute streiten wir über Europa, den Euro, die Kosten und darüber, wer was bezahlt und wer der große Gewinner ist. Es mag ja vieles unfertig sein in diesem Europa, das im übrigen dringend mit Russland zusammenarbeiten muss und natürlich mit Putin. Es ist unser Europa. Niemand muss sich in diesem Europa vor einem übermächtigen Deutschland fürchten, nicht die Polen, nicht die Holländer, nicht die Franzosen, nicht die Belgier. Seit 1945, seit 70 Jahren, hat es keinen Krieg mehr gegeben zwischen den angeblichen Urfeinden Deutschland und Frankreich. Allein das ist es wert, für Europa zu kämpfen. Gerade 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs.
Und jetzt, heute. Paris und Berlin, Hollande und Merkel Hand in Hand. Beim Abkommen von Minsk. Franzosen helfen den Deutschen, sie stehen an ihrer Seite und kümmern sich um die Folgen des Flugzeugabsturzes, suchen nach den Opfern, bieten Quartiere und Verflegung an. Eine Solidarität, ja eine Freundschaft, wie man sie sich nicht besser vorstellen kann. Europa besteht nicht nur aus Zahlen und Kosten, Europa, das sind die Menschen, das sind wir alle.