Seinen fünfundachtzigsten Geburtstag begeht Helmut Kohl in seinem Haus in Oggersheim, einem Vorort der Chemiehauptstadt Ludwigshafen. Von seinem schweren Hirn-Schädel-Trauma, erlitten bei einem Sturz, hat er sich bis heute nicht mehr richtig erholt. Das Sprechen fällt ihm nicht leicht, sodass er sich kaum noch öffentlich äußern kann. Seine Sinne stehen mehr auf Empfang. Er verfolgt aufmerksam, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die er einst nach der Wiedervereinigung auf den CDU-Pfad und in die Minister-Ämter brachte, seine Partei und seine Politik führt.
Viele politische Freunde sind dem ehemals übermächtigen Kohl nicht geblieben. Gewiss, es gibt zu seinem Geburtstag einige Grußadressen und Glückwünsche – etwa auch von Herrn Kissinger –, doch viele seiner früheren Gefolgsleute – von Blüm bis Geißler –, die für ihn durch’s Feuer gingen, halten Distanz. Die CDU in Rheinland-Pfalz wird ihre Geschäftsstelle in Mainz nun mit seinem Namen schmücken, doch sonst spielt der Mann, der so viele Jahre Vorsitzender seiner Partei war und ihr Schlagkraft verlieh, kaum noch eine Rolle.
Das mag Helmut Kohl mit Bitterkeit erfüllen, doch noch bitterer wird er die Geschichte seiner eigenen Familie empfinden. Seine erste Frau Hannelore beging Selbstmord, seine Söhne Walter und Peter gingen auf Distanz zu ihrem Vater – vor allem, als er Maike Richter heiratete. Hinzu kamen rechtliche Auseinandersetzungen, zunächst wegen der Spendenaffäre, dann mit seinem Ghostwriter. Wer das politische Erbe Kohls in Zukunft deuten darf und soll, scheint noch ungeklärt. Maike Kohl-Richter versucht es wohl an sich zu ziehen wie einst Brigitte Seebacher bei Willy Brandt.
Helmut Kohl sah sich selbst stets als Enkel Adenauers und setzte dessen politisches Erbe in seiner Zeit fort. Die klare Westbindung Deutschlands, die Einigung des von zwei Weltkriegen geschüttelten Europas und die Wiedervereinigung des geteilten Vaterlandes waren für Kohl die größten Herzensangelegenheiten. Dafür hat er hart und erfolgreich gearbeitet. Und Helmut Kohl war gewiss einer der politisch erfolgreichsten Kanzler unserer Republik. Als „Kanzler der Einheit“ wird er in die Geschichtsbücher eingehen, denn er hat in einem historischen Moment die Chance für die Wiedervereinigung des seit Jahrzehnten durch den Eisernen Vorhang geteilten Deutschlands erreicht. Das war nur möglich, weil er dafür zuvor ein großes Vertrauenskapital in den USA und bei anderen westlichen Partnern geschaffen hat, weil er gegenüber Michail Gorbatschow, dem damaligen Führer der Sowjetunion, den richtigen Ton fand und die deutsche Wirtschaftskraft ins Feld führen konnte.
Helmut Kohl war ein Kanzler, der seine politischen Ziele konsequent und unerschütterlich verfolgte. Wegen dieser Strategie ist er oft genug kritisiert und hart attackiert worden. Sowohl in seinen eigenen Reihen musste er Hindernisse überwinden als auch in den Medien viele Vorurteile abbauen. Am Rande seines Kanzler-Weges stehen nicht wenige Opfer, denn Kohl kannte nur eins: entweder Freunde mit totaler Gefolgstreue oder Feinde, die er zum Teil brutal beiseiteschob. So verwundert es nicht, dass er durchweg gute Wahlergebnisse erzielte, obwohl er nie als der glanzvolle Regierungschef in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
Am Ende schaffte er es zudem nicht, seine eigene Nachfolge zu regeln. Ob Klaus Töpfer oder Wolfgang Schäuble – alle potenziellen Kandidaten der CDU für das Kanzleramt lehnte er innerlich ab. Seiner Meinung nach „konnten sie es nicht“, waren nicht fähig, sein politisches Lebenswerk – etwa die Einführung des Euros – durch- und fortzusetzen. Bei der Bundestagswahl 1998 musste Helmut Kohl seine bitterste Niederlage hinnehmen: Gerhard Schröder (SPD) zog in das Kanzleramt in Berlin, das sein Vorgänger so intensiv und hingebungsvoll geplant hatte und gern als „Kanzlerpalast“ in der alten und neuen Bundeshauptstadt bezogen hätte.
Nach der Spendenaffäre und der einzigartigen „Vertreibung“ durch einen Beitrag von Angela Merkel in der FAZ (Frankfurter Allgemeinen Zeitung) zog Helmut Kohl sich mit einigem Groll nach Oggersheim quasi wie in ein freiwillig gewähltes Exil zurück. Seine CDU hat wieder an Boden gewonnen und dominiert mit Angela Merkel das politische Geschehen. Doch Kohl verfolgt dies nicht mit der Gelassenheit des Alters und in zufriedener Ruhe, sondern macht hin und wieder mit kritischen Bemerkungen auf sich aufmerksam. Vor allem arbeitet er immer noch an seinem persönlichen Image und rechnet mit denjenigen ab, die ihn stets unterschätzt, die seine Förderung von vielen Leuten in Ämter und Mandate nicht richtig gedankt und die ihm bis heute nicht ausreichend seine politische Großartigkeit für Deutschland und Europa gewürdigt haben.
Zum 85. Geburtstag wird es am 3. April in der Tat keine großen „Staatsfeierlichkeiten“ für Helmut Kohl, den Superkanzler, geben. Vielleicht gelingt jedoch bei der von der Konrad-Adenauer-Stiftung geplanten Geburtstagsfeier Mitte diesen Jahres die Versöhnung mit dem „CDU-Riesen“, mit dem „Kanzler der Einheit“ und mit dem Menschen Helmut Kohl.
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