„Wählen ist wie Zähneputzen. Wenn man es unterlässt, werden sie braun.“ schrieb ein Unbekannter in Bonn sorgfältig über den Schlitz eines Briefkastens. Tausende demonstrierten dafür, dass sich möglichst viele an der Europawahl beteiligten. Die meisten beabsichtigten, demokratische Parteien zu unterstützen. Es blieb ein Wunschtraum. Europa wählte nach nationalen Kriterien konservative bis rechtsextreme Parteien. Die Ausnahme bildeten jene Länder, die bereits Erfahrung mit autoritären Regierungen hatten (Polen/ Ungarn). In Westdeutschland dominierte die CDU trotz Friedrich Merz. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Reformen zurzeit nicht erwünscht sind. Denn die haben mittlerweile einen schlechten Klang. Wenn die FDP, die Partei der real existierenden Egoisten, Reformen ankündigt, halten die Bürgerinnen automatisch die Taschen zu. In den Bundesländern der ehemaligen DDR, dort, wo der Frustlevel besonders hoch ist, konnte man den Eindruck gewinnen, dass es möglich ist, für die AFD einen Besenstiel als Kandidaten aufzustellen. Nur schön braun muss der sein. Das Bild trog, denn bei den kommunalen Nachwahlen am selben Tage konnte sich keiner der populistischen Kandidaten durchsetzen. Man kannte sie offensichtlich aus der Nähe. Bei denen vom fernen Europa war das den Wählerinnen offensichtlich gleichgültig.
Einige waren ja auch keine echten Europakandidaten. Sahra Wagenknecht, Friedrich Merz und Olaf Scholz ließen sich im Wahlkampf nach vorne schieben, ohne dass sie ihre Parteien als Kandidaten aufgestellt haben. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil kritisierte im Wahlkampf die AFD, weil sie bei dem Europa der Vaterländer bleiben wollte. Ja, mit Verlaub, Herr Vorsitzender, genau das wollen die AFD-Wähler doch. Stillstand. Und vor allem Ruhe in der Koalition. Kein Streit um den kleinsten Vorteil. Um der angeblichen Profilierung willen. Schließlich wurden alle drei Regierungsparteien dafür schmerzhaft abgewatscht. Am heftigsten hat es die Grünen getroffen. Denn bei ihnen war die Fallhöhe vom Anspruch zur politischen Realität besonders hoch. Sie haben ihre Prinzipien, wie faule Äpfel, in der Regierungsverantwortung über Bord geworfen. Die einst aus der Friedensbewegung hervorgegangene Partei brauchte ein Konzept zur Beendigung der Kriege in der Ukraine oder in Israel zustande. Die Außenministerin ist offensichtlich überfordert. Sie sollte zurücktreten. Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der SPD, hatte bereits vor Monaten das „Einfrieren“ des Krieges in die Debatte geworfen. Ein erster gangbarer Schritt, den die Grünen nicht aufgriffen. Eine Reise von tausend Meilen beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt. Es gibt nie genügend Beispiele für das Einfrieren eines Konfliktes in der eigenen Geschichte. So wurde das Saarland nach dem Kriege zunächst als Kriegsbeute Frankreichs von Deutschland abgetrennt. In einer freien Abstimmung votierten die Saarländerinnen für Deutschland. Die Mauer fiel durch den Mut der Ostdeutschen und die Entschlussfreudigkeit von Michail Gorbatschow. Putin muss wie wir alle eines Tages abtreten. Ob sein Nachfolger ein „Eisenfresser“ (Aufrüster) oder ein Reformer seien wird, liegt auch an der Ukraine und uns. Wenn uns die Geschichte eins lehrt, dann dass immer alles im Fluss ist. Unsere Prioritäten dürfen sich nicht in Lieferungen von Waffen erschöpfen. Was ist mehr wert? Menschenleben oder auf ein paar tausend Quadratkilometer Erdoberfläche zu verzichten?
Die SPD als Regierungspartei leidet sichtbar unter einem Kanzlermalus. Aber die Kanzlerpartei wird trotzdem mit ihm in den Wahlkampf 2025 ziehen. Denn in dieser Partei gilt seit langem der Mitleidsbonus. Beispiel: Der jetzige Generalsekretär schlug als Juso-Vorsitzender vor, BMW zu verstaatlichen. Er wurde für diesen Unsinn in der Öffentlichkeit heftig gescholten. Er wurde zum Bundestagsabgeordneten gewählt und flugs zum Generalsekretär befördert. Die Ex-Ministerpräsidenten Hans Eichel (Hessen), Peer Steinbrück (NRW) und Sigmar Gabriel (Niedersachsen) verloren alle ihre Wahlen in ihren Bundesländern und damit auch den Job als Ministerpräsident. Auch sie beförderte man schleunigst zu Bundesministern. Olaf Scholz ist auch nicht durch Eignung und Befähigung in das Amt gekommen. Er wurde, wie auch bei den Grünen, von der Parteispitze ausgemauschelt. Einst schrieb der Ex-Chefredakteur der Illustrierte „Stern“ Hans Ulrich Jörges, dass Olaf Scholz nach dem desaströsen G20-Gipfel in Hamburg für höhere politische Aufgaben wohl nicht mehr geeignet sei. Wie wir wissen, sah die SPD das anders. Bei seinem Amtsantritt verkündete der Kanzler, in die Fußstapfen von Helmut Schmidt zu treten. Deshalb sei ihm heute empfohlen, doch einmal in den politisch ökonomischen Orientierungsrahmen 85 zu schauen, der unter Leitung des damaligen Verteidigungsministers Helmut Schmidt entworfen und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das auf 12 Jahre ausgelegte Programm war eine Konkretisierung und Quantifizierung der staatlichen Aufgaben. Vorgesehen war eine kontinuierliche Fortschreibung, also keine allgemeinen Grundwerte oder allgemeines Blabla. Nur ein Beispiel: Die versandete Vermögensverteilung. Die Kommission, mit ihren zwei Stellvertreten Hans Apel und Jochen Steffen (der rote Steffen), alle zwei Diplomvolkswirte schlugen eine spürbare Verteidigung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen vor. Angesichts der skandalösen Vermögensverteilung in der Bundesrepublik ist es an der Zeit dieses Thema wieder in die politische Diskussion der Gesellschaft zu rücken. Die Idee stammte von dem SPD-Politiker und Porzellanfabrikant Philip Rosenthal, der eine solche Beteiligungsform schon realisiert hatte, indem er seine Mitarbeiter am Zuwachs des Unternehmens beteiligte. Vielleicht traut sich die SPD mit ihrem Koalitionspartner Grüne mit den Themen Sicherheit und Vermögensbildung eine heilsame Unruhe in die Gesellschaft zu tragen.
Foto: Die Mitbegründerin der Grünen und Pazifistin Petra Kelly war an der Demonstration vor dem Atombunker bei einer Demonstration im Ahrtal. Sie würde sich sicher über ihre lautstarken Milizisten, wie Anton Hofreiter, die in der Bundestagsfraktion den Ton angeben, wundern.