1.
Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims erschien in der französischen Originalausgabe 2009 und beschreibt einen Prozess der Wiederannäherung an seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie und seine Auseinandersetzung damit. Der 1953 geborene Eribon hatte seine Geburtsstadt Reims und seine dort lebende Familie im Alter von etwa 20 Jahren für lange Zeit, damals im Glauben: für immer, nach Paris verlassen, um der Stigmatisierung als Homosexueller zu entgehen. Reims war für ihn eine „Stadt der Beleidigung“ und innerhalb der Familie kulminierten Herabsetzung und Demütigung in der Person des Vaters, der den Bildungsaufstieg des Sohnes mit Skepsis, vor allem aber seine sexuelle Orientierung mit Widerwillen betrachtete, ohne ihm jedoch den gymnasialen Bildungsweg ernsthaft zu versperren. Während Eribon in Paris durch Postkarten, die er selten schrieb, mit seinen Eltern in sehr spärlichem Kontakt blieb, kam es erst seit der Unterbringung des Vaters in einer Alzheimer-Klinik zu sporadischen Besuchen bei der Mutter, also zur beschriebenen Rückkehr. Die Eltern lebten allerdings seit Längerem nicht mehr in Reims, sondern in Muizon, einer Gemeinde 10 km westlich von Reims mit etwa 2300 Einwohnern. Dorthin waren sie Mitte der 1980er Jahre gezogen, weil beide ihren Worten nach die migrantische Einfärbung ihres Wohnviertels in Reims nicht mehr ertragen wollten. Sein Vater starb am 31.12.2005 im Alter von 76 Jahren.
Eribons Besuche bei seiner Mutter sollten der „Beginn der Aussöhnung“ mit ihr sein, aber auch der Aussöhnung mit sich selbst, der Anerkennung, dass seine soziale Herkunft ein Teil seiner Persönlichkeit ist. Diesen Teil hat er lange verleugnet und verdrängt und diese Verdrängung wirkt bis in widersprüchliche Formulierungen seines Buches hinein. Einerseits beschreibt er seinen Bildungsaufstieg als Abstreifen seiner Herkunft, als radikalen Schnitt und als totale Anpassung an den Habitus seiner Zielgruppe, des Bildungsbürgertums und vornehmlich der linksliberalen, geisteswissenschaftlich gebildeten Intellektuellen. Er spricht von seiner Unterwerfung unter die Normen der Institutionen, in denen sich dieser Aufstieg vollzieht, Gymnasium und Universität, und unter die Normen, die das soziale Leben seines neuen Milieus regeln.
Gleichzeitig relativiert er diese Aussagen, bestreitet ihre Absolutheit und nimmt ihre Radikalität zurück, wenn er behauptet, er sei niemals so weit gegangen, „die Wertvorstellungen der dominierenden Klasse vollständig zu übernehmen“. Er fühle sogar „Hass“, wenn in seiner neuen Lebenswelt mit Verachtung auf das Leben des „gemeinen Volkes“ herabgesehen werde und die Widerstandsaktivitäten der Unteren mit Feindseligkeit betrachtet würden (Bahnstreiks!). Er nennt diese Reaktion auf „klassenrassistische“ Anfeindungen (hierzulande würden die identitätspolitischen Akademiker mittlerweile das Adjektiv „klassistisch“ gebrauchen) seine nicht unterdrückbaren, verbliebenen „Klassenreflexe“. Berichte darüber, ob und gegebenenfalls wie sich diese Reflexe in der Auseinandersetzung mit seinem linksintellektuellen Milieu praktisch bemerkbar machen, bleibt er indes seiner Leserschaft weitgehend schuldig. In der Regel schildert sich Eribon als einen Vereinzelten gegenüber übermächtigen Institutionen. Im Blick auf seine Erfahrungen auf dem städtischen Gymnasium von Reims spricht er ein einziges Mal von „wir Arbeiterkindern“, als diese auf den bildungsbürgerlich-ausschließenden Musikunterricht eines Lehrers mit einer selbstausschließenden Abwehr jeglicher musikalischen Bildung überhaupt reagieren, darin durchaus den englischen „lads“ und ihren Widerstandspraktiken ähnlich, die Paul Willis und seine Forschungsgruppe als Form der Reproduktion von Selbstunterwerfung in Klassenverhältnisse beschrieben haben (1). Von Formen eines „reflektierten Ungehorsams“, eines Begriffes, den er von Michel Foucault übernimmt, finden sich in dem Buch keine Hinweise, obwohl sich Eribon schon als Gymnasiast einer trotzkistischen Gruppe angeschlossen hat. Im Gegensatz zum starken Bekenntnis zu seinen „Klassenreflexen“ steht die anhaltende Wirksamkeit der sozialen Scham, wenn Eribon bei den Paris-Besuchen seiner Eltern alles unternimmt, sie von seinen neuen Freunden und Bekannten fernzuhalten.
Diese widersprüchlichen Erfahrungen und Gefühle verallgemeinert er schließlich zur Erkenntnis, dass man die Herkunft nicht abstreifen kann wie ein alt gewordenes Kleidungsstück, sondern dass Herkunft und das Milieu, in dem man nach dem Bildungsaufstieg lebt, in der Person des Aufsteigers zusammenwirken; mit Pierre Bourdieu, seinem akademischen Lehrer und Freund neben Foucault, spricht er von einem „gespaltenen Habitus“ des „Klassenwechslers“ auf der „Klassenflucht“ vor seiner Herkunft.
Die von Tobias Haberkorn besorgte deutschsprachige Übersetzung erschien 2016. Sie traf auf wohlwollende bis enthusiastische Kritiken und bescherte dem Suhrkamp Verlag einen Longseller. Laut Internetauftritt des Verlages liegt die kartonierte Ausgabe in der 21. Auflage vor (07.03.2022), eine 2023 erschienene Taschenbuchausgabe in zweiter Auflage. Für diesen Erfolg gibt es vorderhand wenigstens zwei Gründe. Einmal wurde das Buch zum Katalysator einer ganzen Reihe von autobiographischen oder autofiktionalen Lebensbeschreibungen deutschsprachiger Bildungsaufsteiger/innen. Dabei fällt auf, dass diese ihr Verhältnis zu ihrer Herkunft nur in seltenen Fällen wie Eribon als radikalen Bruch beschreiben (siehe meine Sammelbesprechung auf dem Blog vom 06.09.2022). Zum anderen fiel das Erscheinen der deutschen Ausgabe, immerhin sieben Jahre nach der französischen Originalausgabe, zusammen mit dem (un-)aufhaltsamen Aufstieg der AfD. Eribon zeigte in der Rückkehr nach Reims an den Mitgliedern seiner Familie, wie aus einstigen Wählern des PCF (Kommunistische Partei Frankreichs) bekennende Rassisten und Wähler des neofaschistischen Front National, seit 2018 Rassemblement National, wurden. Dabei konstatiert das Buch lediglich den Einflussverlust des PCF, ohne ihn zu erklären. Auch liefert Eribon keine Daten darüber, ob das Wahlverhalten der Mitglieder seiner Familie überhaupt verallgemeinerbar ist. Immerhin verweist er selbst darauf, dass es schon immer unter den Arbeitern ein Potential für rechte und bürgerliche Parteien gab, das dem Wählerpotential der linken Parteien gleichkam. Da nun, allerdings mit einer großen Zeitverschiebung, Ähnliches in Deutschland, insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, passierte, sicherte dieser thematische Teilaspekt dem Buch ein nachhaltiges Interesse und eine entsprechende Nachfrage.
2.
Nach dem Tod seiner Mutter veröffentlichte Eribon 2023 einen Nachfolgeband unter der Überschrift Vie, vieillesse et mort d’une femme du peuble. Diesmal dauerte es nicht lange, bis eine deutsche Ausgabe erschien; bereits innerhalb eines Jahres kam sie auf den Markt. Die Übersetzung aus dem Französischen hatte Sonja Finck besorgt, die Übersetzerin der Werke von Annie Ernaux. Aus der Frau des Volkes oder aus dem Volk wurde jetzt eine Arbeiterin, und dies als Haupttitel: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Die erste deutsche Auflage erschien Mitte März 2024, rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse vom 21. bis zum 24. März 2024. Dort stellte Eribon auf zwei Veranstaltungen in Form eines Gesprächs mit einer Moderatorin sein Buch vor. Beide Veranstaltungen waren nach Maßgabe der örtlichen Bedingungen sehr gut besucht. Überhaupt waren die Themen Arbeiterherkunft, „Klassismus“ und Alter auf der Messe unübersehbar präsent und trafen, soweit ich das beobachten konnte, auf eine große Publikumsresonanz.
Das Buch Eribons wird man nur mit Einschränkungen eine Fortsetzung der Rückkehr nach Reims nennen können. Eher ist es ein teilweise wiederholendes Weiterschreiben. Viele und zum Teil auch ausführlichere Angaben zum Leben der Mutter sind bereits aus der Rückkehr bekannt. Mehr noch: Wenn man einige relative Zeitangaben in Eine Arbeiterin genauer einordnen möchte, muss man immer wieder auf das erste Buch zurückgreifen. Abgesehen von den letzten Wochen ihres Lebens erwähnt das neue Buch nur wenig Neues. Das liegt nicht nur an der Ereignisarmut des dargestellten Lebens, sondern vor allem an der Distanz des Autors zu seiner Familie. Die in der Rückkehr geäußerte Hoffnung auf Versöhnung mit der Mutter wird man schon deshalb mit Skepsis betrachten müssen, weil Eribon nur wenige Male im Jahr zu kurzen Besuchen kommt. Bei diesen Treffen erwähnt die Mutter immer wieder Ereignisse aus der Kindheit und Jugend des Sohnes. Eribon reagiert darauf mit Unbehagen, manchmal gereizt, obwohl ihm bewusst sein müsste, dass allein auf diesen Lebensabschnitten die Erfahrungen der Mutter mit ihrem Sohn basieren. Er selbst jedoch stellt nicht die Fragen, deren Beantwortung ihn interessiert hätte, Fragen etwa nach den Gefühlen und Wünschen der Mutter (er kennt durchaus einige Wünsche). Sein Versäumnis kaschiert er mit einer Floskel: „Im Grunde weiß man sehr wenig über die eigenen Eltern.“ Bei den seltenen Besuchen bei der Mutter begegnen sich zwei Menschen, die einander fremd geworden und geblieben sind.
Man könnte sogar bereits am Titel des neuen Buches eine gewisse Verfremdung erkennen: „Eine Arbeiterin“ – das ist eben nicht nur „eine“ Arbeiterin oder „eine“ Frau aus dem Volk, sondern seine Mutter. Es ist die Frau, wie er selbst in der Rückkehr schreibt, die mit aufzehrender Arbeit die Kosten des Bildungsaufstiegs ihres Sohnes mitfinanziert und damit überhaupt seine „Klassenflucht“ ermöglicht hat. Man könnte vermuten, dass Eribon mit diesem Titel die soziale Exemplarität dieses Lebens herausstellen wollte. Zugleich dokumentiert er, ob freiwillig oder unfreiwillig, die steckengebliebene Aussöhnung, die nicht überwundene Distanz zu seiner Familie.
Der Abstraktheit, die aus der Mutter „eine Arbeiterin“ macht, entspricht eine ideelle Operation, die Eribons Distanz zu seinem Herkunftsmilieu überbrücken soll. Er bekennt sich zu seiner „Klassenflucht“, möchte aber nicht des „Klassenverrats“ bezichtigt werden. Im Marxismus seiner Jugend sieht er eine Strategie, politisch auf der Seite der Arbeiter bzw. Arbeiterklasse zu stehen, seiner „Arbeiterherkunft“ die „intellektuelle und politische Treue“ zu halten, somit auch „im übertragenen Sinn“ bei der Mutter und der Familie zu bleiben, obwohl er es in der Familie nicht mehr aushält und sie, nicht übertragen, sondern real, verlässt. Diese Konstruktion gilt für Eribon bis heute, obwohl er den Marxismus schon lange abgelegt hat. An seine Stelle ist nunmehr ein „politischer Standpunkt“ getreten, von dem aus er „mit gutem Gewissen“ sagen könne, „dass ich meine Familie nicht verraten habe“.
Solche Aufspaltung mag funktionieren, hat aber dann ein Problem, wenn die Familie als exemplarisch für die gesamte Klasse genommen wird. Genau dies wird in der Rückkehr, die hier wesentlich selbstkritischer verfährt als Eine Arbeiterin, eingeräumt: „Und der direkte Kontakt zu all dem, was diese Klasse ausmachte und noch immer ausmacht, wurde mir zunehmend unerträglich.“ Die Stilisierung der „Klasse“ zu einem luftigen Ideal der Revolution, zu einem Subjekt ohne Körper ist in der Tat, wie Eribon selbst schreibt, eine Ideologisierung der eigenen realen „sozialen Desidentifikation“, ein Mittel, „um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können“. Insoweit ist sein Abschied von Marxismus und Proletariat folgerichtig: Die „realen Arbeiter“ und ihre Organisationen kommen für ihn als politische Subjekte einer wie auch immer vorgestellten gesellschaftlichen Veränderung nicht in Betracht.
3.
Um Missverständnisse auszuschließen: Nicht der Versuch, das Leben der Mutter als exemplarisch für Frauen ihrer Klasse zu verstehen und darzustellen, ist das Problem, sondern die relative Erfahrungsarmut in der Vermittlung zur besonderen Person. Die in beiden Büchern verstreuten Informationen zur Mutter lassen sich daher in wenigen Absätzen referieren.
Die Mutter wurde 1930 geboren. Über ihren Vater kennt sie nur Erzählungen. Er sei ein andalusischer Gitano (Angehöriger der Roma) gewesen. Eribon ist skeptisch, spricht auch einmal von „Herkunftsmystik“, anerkennt aber ihre Abkunft von einem Einwanderer. Dies betont er, weil er sich darüber wundert, dass ein Einwandererkind mit dunklem Teint wie seine Mutter mit „Hasstiraden“ eines „obsessiven Rassismus“ über Immigranten herzieht, deren Teint ein bisschen dunkler als der ihre ist. Als ungewolltes Kind wird sie von ihrer Mutter einem Waisenhaus übergeben, ab vierzehn ist sie Dienstmagd in bürgerlichen Familien. Als ihr eine großzügige Bürgersfrau anbietet, einen Schreibmaschinenkurs zu finanzieren, um später als Sekretärin arbeiten zu können, scheitert diese Chance daran, dass die nur vage benannte Betreuungsinstanz die Politik verfolgt, die Beschäftigungsverhältnisse ihrer Mündel relativ schnell zu wechseln. So wird die Mutter Putzfrau, heiratet 1950 im Alter von 20 Jahren den späteren Vater Eribons, damals Hilfsarbeiter, der aber dann den innerbetrieblichen Aufstieg zum Facharbeiter und Vorarbeiter nimmt, durchaus vergleichbar mit vielen Berufsbiographien deutscher Un- und Angelernter, die ihren Aufstieg auf den Schultern nachrückender Arbeitsimmigranten machten. Die Mutter gebiert vier Söhne, Didier ist der zweitälteste. 1970 nimmt die Mutter die Arbeit in einer Glasfabrik auf, aus der sie im Alter von 55 Jahren entlassen wird. Ihre Entlassung ist Resultat des Niedergangs der Fabrik, die wenige Jahre später schließt, durchaus symptomatisch für die beginnende Deindustrialisierung der Region.
Im Unterschied zur Rückkehr beschreibt nun Eribon den Eintritt seiner Mutter in das Fabrikleben ausführlich als Prozess der Politisierung in ausgebildeten betrieblich-gewerkschaftlichen und politischen Strukturen. Sie nimmt an Versammlungen und Streiks teil, entwickelt Beziehungen zu Arbeitskolleginnen und -kollegen, geht zu Wahlen. Ihre Einbindung in „Strukturen der kollektiven Meinungsbildung“ verdrängt ihren Rassismus, der erst nach ihrem erzwungenen Herausfallen aus diesen Strukturen in den erwähnten Hasstiraden wieder stärker hervortritt. An die Stelle politischer Informiertheit treten dann exzessiver Fernsehkonsum und die Lektüre eskapistischer Trivialliteratur. So schnell sich mit dem Eintritt der Mutter in den Betrieb ihre Politisierung vollzieht, so schnell zerfällt diese in dem Moment, als sie gezwungenermaßen aus diesen Strukturen herausfällt. Der ökonomische Radikalismus der Arbeiterinnen und Arbeiter endet am Fabriktor, er basiert offenbar auf agitatorischem Mobilisierungswissen, nicht auf einer theoretischen Fundierung, die soziale Interessen über den Bereich betrieblicher Kämpfe und die Lebensarbeitszeit hinaus handlungsanleitend artikulieren könnte.
Als ihr Ehemann 2005 mit 76 Jahren stirbt, empfindet sie zunächst Erleichterung und genießt die „wiedergefundene [?] Unabhängigkeit“. Dieses Gefühl wird gesteigert, als sie sich nach einer zufälligen Begegnung in einen verheirateten Mann aus einem Nachbarort, auch er ein ehemaliger Fabrikarbeiter, verliebt, der sie fortan regelmäßig besucht. Diese schwärmerische späte Liebe beginnt zu erkalten, als sie nach Tinqueux, einem Vorort von Reims umziehen muss. Der Ort ist für den Geliebten schwerer zu erreichen. Zudem erfährt die Mutter selbst die Begrenzungen durch das Alter. Sie hat einige schwierige Operationen, ihre Söhne drängen darauf, entweder zu einem von ihnen oder in ein Heim mit der Möglichkeit des betreuten Wohnens zu ziehen und dort weitgehend selbstständig zu leben. Beides verweigert die Mutter, ausgefüllte Formulare werden Makulatur. Dann beendet der Mann, in den sie verliebt ist, die Beziehung, auch weil die Mutter ihn zu bedrängen beginnt, seine Ehefrau zu verlassen. Sie verliert die Lebenslust, zusammen mit dem Umzug ins Altenpflegeheim sei dies der „Todesstoß“ gewesen. Dieser Umzug ist nun auch aus ärztlicher Sicht geboten, nachdem die Mutter mehrmals in ihrer Wohnung schwer gestürzt war.
4.
Mit der Darstellung des Umzugs in das staatliche Altenpflegeheim in Fismes, dreißig Kilometer nordwestlich von Reims, beginnt Eine Arbeiterin. Allen Beteiligten ist klar, dass dies der letzte Wohnungswechsel der Mutter sein wird. Die Mutter hat keine Widerstandskräfte mehr, um diese angeblich „unvermeidliche“ Entscheidung der Söhne abzuwehren. Sie appelliert an sich selbst, „vernünftig“ zu sein. Als sei er ein außenstehender Kommentator, nennt dies Eribon „furchtbare Sätze, mit denen man sich der Macht der Umstände unterwirft“. Wieder kaschiert er mit dem Indefinitpronomen, dass es um seine Mutter geht. Dieses „man“ macht aus der Unterwerfung der Mutter etwas Schicksalhaftes und gibt ihr den Anstrich des Normalen und Gewöhnlichen. So macht „man“ das eben, was bleibt „einem“ anderes übrig? Er zitiert einen seiner vielen philosophisch-literarischen Gewährsleute, Norbert Elias, mit der Bemerkung, viele Pflegeheime seien „Einöden der Einsamkeit“. Eribon spricht von Vereinsamung und Verlassenheit, nennt dies schicksalshafte „Unvermeidlichkeit“ und ignoriert, dass in seinem Fall zum Begriff der „Verlassenheit“ immer auch diejenigen gehören, die jemanden verlassen. Eribon spricht ausführlich von seinen Beklemmungen, seinem schlechten Gewissen, fragt sich, was er und seine Brüder mit ihrer Entscheidung der Mutter angetan haben, stellt sich aber an keiner Stelle die naheliegende Frage, warum diesmal von keinem der Söhne das Angebot kam, die Mutter zu sich zu nehmen (selbstverständlich unter seit dem ersten Angebot dramatisch anderen Umständen, auf der Basis einer häuslichen Vollzeitpflege).
An zwei Tagen im August 2017 organisiert Eribon zusammen mit einem Bruder den Umzug in das EHPAD in Fismes. Das Akronym steht für Établissement pour l’hébergement des personnes âgées dépendantes, also für eine (öffentliche) Einrichtung für die Unterbringung alter, auf Hilfe anderer angewiesener Personen. Dies, sagt Eribon, entspreche dem begrenzten Familienbudget, fügt aber hinzu, dass die Unterbringung, insbesondere die Verpflegung, in privaten Heimen keineswegs besser sei (2). Er ahnt, was der Mutter bevorsteht, nimmt sich vor, sie „so oft wie möglich“ zu besuchen, damit sie sich nicht allein fühlt. Es bleibt bei den guten Vorsätzen. Nach der Einweisung ins Heim fährt er nach Italien, zurück in Paris fühlt er sich krank, dann hat er Verpflichtungen in Deutschland. Er sieht seine Mutter in den sieben Wochen der ihr verbleibenden Lebenszeit nicht mehr und auch nicht mehr als Tote, weil er, wie bereits vorher beim Tod des Vaters, nicht zu ihrer Bestattung kommt. Das, was er auf 84 Seiten über ihren Heimaufenthalt schreibt, beruht nicht auf eigener Anschauung, sondern zum einen auf den Telefonaten seiner Mutter, die meistens Monologe auf Eribons Anrufbeantworter bleiben, weil sie ihn mit ihren Anrufen nicht erreicht, und zum anderen auf besorgten Anrufen im Heim, um sich in Reaktion auf die abgehörten Klagen über den Zustand seiner Mutter zu informieren oder Verbesserungen ihrer Pflege zu fordern, in der Regel vergeblich. Auf die genannte Textmenge kommt er dadurch, dass er ausführlich Literatur zitiert, die sich allgemein mit den Mühen des Alters befasst; neben dem Bezug auf Elias hebt er Simone de Beauvoirs Buch Das Alter hervor, 1970 erstmals im französischen Original erschienen. So erfüllen die häufigen Referenzen auf diese Literatur die Funktion, die über den besonderen Fall hinausweisende Gültigkeit des von ihm Beschriebenen zu bezeugen, zugleich aber kompensieren sie Eribons Erfahrungsarmut. Einen Anspruch auf soziologische Empirie können seine Literaturbezüge und seine Ausführungen nicht erheben. Als Primärquellen für eine solche Untersuchung könnten der Erfahrungsbericht einer Pflegerin fungieren, auf den sich Eribon bezieht, vor allem aber der Bericht der Bürgerrechtsbeauftragten Frankreichs aus dem Jahr 2021: Rapport – Les droits fondamentaux des personnes âgées accueillies en EHPAD (Die Grundrechte älterer Menschen in den Heimen der EHPAD).
Die genannte Erfahrungsarmut resultiert nicht nur aus Eribons Abwesenheit, sondern natürlich auch aus der äußeren Ereignislosigkeit eines Lebens im Endstadium. Bei abnehmenden körperlichen und geistigen Kräften werden die Menschen vor dem Tod immer weniger Akteure, sondern sie werden zu Individuen reduziert, denen etwas geschieht, sie werden Objekte der Pflege und können sich glücklich schätzen, wenn diese Pflege den Namen verdient und nicht nur Verwahrung ist, und besonders glücklich dann, wenn diese Pflege, so lange es eben geht, dem Konzept einer assistierten Autonomie folgt (3).
Bereits bei der Einweisung in das Pflegeheim bemerkt Eribon die schleppenden Schritte der Mutter. Sie kann nur noch mit Schwierigkeiten gehen und bald nicht mehr alleine aufstehen. Er sieht in diesem rapiden Verfall der Kräfte der Mutter die Langzeitfolgen eines von schwerer körperlicher Arbeit bestimmten Lebens. Dazu kommt ihre Unfähigkeit, mit anderen Heimbewohnerinnen und -bewohnern zu kommunizieren und Bindungen aufzubauen. Sie fühlt sich einsam unter Fremden. Mit dem Verlust ihrer Mobilität zerfällt die Struktur selbst des reduzierten Alltags im Heim. Sie verliert die Orientierung in Zeit und Raum, wird verwirrt und hat Halluzinationen. Je hilfsbedürftiger sie wird, desto mehr wird der Verwahrcharakter des Heimes deutlich. Nachdem die Mutter auf Eribons Anrufbeantworter darüber klagt, dass sie nicht mehr täglich zum Aufstehen aus dem Bett geholt und mobilisiert, nicht bei Bedarf zur Toilette gebracht wird, so dass sie ständig Windeln tragen muss, und nur noch einmal in der Woche geduscht wird, beschwert sich der Sohn bei der Heimleitung und bekommt zu hören, dass zwei Pfleger/innen gebraucht würden, um der Mutter zum Aufstehen zu verhelfen, und dass es zu wenig Personal gebe, um alle an sich nötigen Aufgaben täglich bewältigen zu können. In Einklang mit der Terminologie des erwähnten Berichts der französischen Menschenrechtsbeauftragten nennt Eribon diese Zustände „strukturelle Misshandlung“ der Heimbewohner, spricht von „institutioneller Gewalt“, die ihnen angetan wird. Nachvollziehbar sieht er in diesen Zuständen die Folgen neoliberaler Sparpolitik.
Schon beim Einzug der Mutter in das Heim wurde Eribon von einer Ärztin auf das in der französischen Geriatrie geläufige, wenn auch nicht unumstrittene syndrome du glissement aufmerksam gemacht. Es bezeichnet das schnelle Hineingleiten in einen schlechten Allgemeinzustand nach Einweisung in ein Pflegeheim und begleitend dazu den Verlust des Lebenswillens, die Selbstaufgabe. Eribon erinnert sich, dass die Ärztin sehr insistierend auf die ernsthafte Gefährdung der Heimbewohner in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes aufmerksam gemacht hat, hält diese Warnung jedoch für „eine allgemeine Bemerkung“ und bringt sie nicht mit seiner eigenen Mutter in Verbindung. Letztendlich muss er gestehen, dass er auf die Informationen über den Zustand seiner Mutter, soweit sie zu ihm vorgedrungen sind, „immer zu spät“ reagiert hat.
5.
Wenn man die geschilderten miserablen Bedingungen des Alterns ändern will, kann man nicht auf die Widerstandskraft und Handlungsfähigkeit der von den Zuständen Eingeschränkten rechnen, sondern nur stellvertretend für sie sprechen und darauf hoffen, durch das Öffentlich-Machen skandalöser Zustände Druck auf die dafür Verantwortlichen aufzubauen, damit sie diese Verhältnisse ändern. Die Betroffenen bleiben damit auch das Objekt dieser Anklagen einer kritischen Öffentlichkeit. Während Eribons Lehrer Foucault schon lange den „Tod des universellen Intellektuellen“ verkündet hat, der meint stellvertretend für alle sprechen zu müssen, die keine Stimme haben, und der das allgemeine Interesse gegen Partikularinteressen verteidigt, der die Menschheit vertritt, betont sein Schüler die Bedeutung dieser traditionellen Intellektuellen angesichts mancher Bereiche der gesellschaftlichen Realität. Er nimmt jedoch selbst eine Verkürzung vor, wenn er auf der letzten Seite seines Buches allein „Autorinnen, Künstler und Intellektuelle“ als klassische Akteure der Aufklärung adressiert.
Zu nennen wären auf jeden Fall noch die Seniorengruppen in den Gewerkschaften, die Sozialverbände und natürlich die Angehörigen sowie diejenigen, die in den Heimen arbeiten. Das wären mögliche Partner einer Allianz, die jedoch aufgrund spezifischer Probleme der Akteursgruppen alles andere als einfach herzustellen ist. Die klassischen Intellektuellen können nicht sicher sein, ob ihre Aufklärung „performative Wirkung“ gewinnt. Die Sozialverbände haben ein professionelles Interesse, ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen, im Blick auf die Gebrechlichen können sie anklagen, aber in dieser Gruppe nicht mit Handlungsfähigkeit rechnen. Die Angehörigen werden schnell merken (wie es auch Eribon andeutet), dass der Kleinkrieg mit den Heimleitungen an Grenzen stößt. Letztlich müssen sie immer kalkulieren, ob sie ihren Angehörigen im Heim durch ihre Interventionen mehr nutzen oder schaden. Ein Heimwechsel, wenn er überhaupt logistisch und finanziell möglich ist, könnte die räumliche Distanz zu den untergebrachten Angehörigen vergrößern und damit die Häufigkeit der Besuche reduzieren. Dabei haben viele Angehörigen ohnehin ein schlechtes Gewissen, wenn ein Partner oder die Eltern ins Heim müssen, wenn eine Einweisung ins Pflegeheim gefühlt oder tatsächlich „alternativlos“ ist. Das betrifft die Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen, die Verhinderung von Vereinsamung, aber auch Grundlagen der Mobilisierung, der Körperhygiene und der Ernährung. Wer einen Angehörigen im Heim hat, der nicht mehr selbst essen kann, wird immer oder zumindest häufig von der Sorge geplagt sein, ob der oder die Betreffende ausreichend verpflegt ist, und das Gefühl nicht loswerden, dass man als Angehöriger eigentlich zu jeder Essenszeit präsent sein müsste, um die Aufnahme von Essen und Getränken zu überwachen oder ihre Zuführung gegebenenfalls selbst zu übernehmen.
Eine unmittelbare, performative Verknüpfung mit den Interessen der Gebrechlichen besteht allein beim Pflegepersonal. Das braucht gar nicht selbstlos zu sein. Es genügt, wenn die Pflegerinnen und Pfleger beharrlich ihre Interessen an besserer Bezahlung und besseren Arbeitsplatzbedingungen verfolgen. Mehr Pflegepersonal als Folge eines attraktiven Berufs und Arbeitsplatzes würde auch die Lebensbedingungen der Bewohnerinnen und Bewohner der Heime verbessern. Ausgerechnet diese Gruppe hat Eribon nicht im Blick.
Nun spricht er, bevor er sich seiner letzten und aus seiner Sicht einzigen Karte, den Intellektuellen, zuwendet, durchaus die Seniorengruppen der Gewerkschaften und die Sozialverbände an, unterstellt aber, dass sie auf „traditionelle Protestformen“ fixiert seien und die hilfsbedürftigen Heimbewohner nicht im Blick hätten. Mit den „traditionellen Protestformen“ ist es nicht weit her. Viele gewerkschaftliche Seniorengruppen beschränken ihre Arbeit darauf, Freizeitangebote für ihre nicht mehr berufstätigen Mitglieder zu organisieren: Wanderungen, Werks- und Museumsbesuche, Adventskaffee, vielleicht hier und da ein Vortrag, politisieren aber nicht den Alltag ihrer Mitglieder nach der Lebensarbeitszeit. Dabei mag es zwischen Seniorengruppen der Lehrergewerkschaft GEW und solchen bei ver.di Unterschiede geben. Pensionierte Lehrerinnen und Lehrer haben in der Regel keine materiellen Sorgen, sie sind versorgt.
Wie man es dreht und wendet: Als Akteure einer Politisierung der letzten Lebensphase kommen immer nur diejenigen in Betracht, die diese Phase noch nicht erreicht haben, deren mögliches Engagement also auf Antizipation beruht. Das macht solche Politikfelder schon immer schwierig. Während man aber im Blick auf den Klimawandel sagen kann, dass er alle betrifft und alle handeln müssten, kennt das antizipierte Lebensende Varianten. Der eine glaubt, so alt werde ich ohnehin nicht, warum sich Gedanken ums Morgen machen, lieber den Tag mit den schmalen Freuden des aktiven, erfolgreichen Alterns nutzen. Die andere meint, mein Vater ist uralt geworden, auch ich werde bis zum Tod rüstig bleiben. Die Statistik kennt allerding andere Wahrscheinlichkeiten. Im Jahr 2021 waren von den gesetzlich Krankenversicherten in der Altersgruppe der 60 – 65-Jährigen nur 6,3% pflegebedürftig, bei den 75-79-Jährigen waren es 17% und bei den 85-89-Jährigen schon knapp 50%, bei den 90-Jährigen und denen, die noch älter sind, sind es schließlich 70% (4).
Zudem: Kämpfe um politische Ziele haben einen anderen Zeitrhythmus als das individuelle Leben. Was nützen Aufklärung und Protest denen, die jetzt, in diesem Moment, in den Heimen verdämmern? Werden all die richtigen Forderungen erfüllt sein, wenn es für mich soweit ist?
Daher ist es rational, beides zu tun: politisch- antizipierend zu handeln und individuell zu planen, soweit dies möglich ist. Nach Paragraph 71 Sozialhilfegesetzbuch XII „sollen“ alten Menschen u.a. Leistungen zur Förderung ihrer sozialen Teilhabe oder auch Beratung und Unterstützung im Vor- und Umfeld von Pflege (z.B. in Heimen) sowie in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste oder Leistungen gewährt werden. Dabei soll „die Verbindung mit nahe stehenden Personen“ ermöglicht werden. Anlaufstelle ist z. B. das Referat für Altenhilfe der Gemeinde. Die Stadt Kassel, deren Beratungsangebote ich am besten kenne, gibt jährlich eine etwa 100-seitige Broschüre heraus, die alle Angebote und Adressen für Hilfen im Umfeld Altern enthält, von A Ämterlotsen über L Lesepaten bis Z Zentrum für Altersmedizin/Klinik für Geriatrie. Hinzu kommt ein ebenso umfangreiches jährliches Veranstaltungsprogramm für Menschen ab 60 Jahren. Es wäre dumm, solche Angebote zu ignorieren, aber man muss sich auch ihre Grenzen vergegenwärtigen. Eine Bekannte hat mir erzählt, wie aufwendig ihre Suche nach einem geeigneten Pflegeheim für ihren gebrechlichen Ehemann war und wie glücklich sie über das gemeinsam mit ihm ausgewählte Heim ist. Es kann aber auch geschehen, dass einem das ausgesuchte Heim im letzten Moment abhandenkommt, bevor man es in Anspruch nehmen will. Nach Auskunft von pflegemarkt.com haben 2023 bis zum Dezember 66 Heime, 374 Pflegedienste und 128 Tagespflegestätten Konkurs angemeldet und geschlossen. Insgesamt sind im letzten Jahr 3339 vollstationäre Plätze und 1744 Plätze in der Tagespflege verloren gegangen (5). Die politische Ökonomie des Gesundheits- und Pflegewesens ist und bleibt das relevanteste Handlungsfeld. Die Politik entlässt die Alten nicht in den Ruhestand.
6.
Im umfangsreichsten Kapitel III des Buches trägt Eribon Lebensdaten der Mutter und – in Form von Anekdoten – Erlebnisse mit ihr zusammen, beginnt aber mit einer erneuten Reflexion seiner Identität nach ihrem Tod und in Bezug auf sie. Der einfache Gedanke, der in der Rückkehr immer wieder variiert wird: „Das, wovon man […] sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist“, wird nun mit Hilfe interaktionistischer Theoreme wiederholt: Schon das Herkunfts-Ich entstehe immer in Beziehungen zu anderen Menschen und setze sich aus diesen Beziehungen zusammen, sei somit in sich plural. Aus den frühen Bindungen eines Menschen, seinen Beziehungen in der Familie, bilde sich heraus, was Eribon nunmehr das „Kontinuitätsprinzip“ einer Person nennt. Es ist das Ensemble all dessen, „was die Verbindung des Menschen, der man jetzt ist, zu dem Menschen aufrechterhält, der man früher war“, weiterwirkende Vergangenheit. Mit der Loslösung von Familie und Herkunft in weiteren Lebensphasen entfaltet sich die Dynamik der Diskontinuität eines Lebensweges (eigentlich müsste Eribon hier im Plural sprechen). Beide Momente treten in einer Person in eine bisweilen konfliktbehaftete Verbindung. Wenn Eribon nun schreibt, mit dem Tod der Mutter sei die „letzte Brücke“ zu seiner Vergangenheit, zur Kindheit und Jugend, weggebrochen ist, ist das eigentliches und uneigentliches Sprechen in einem. Tatsächlich geht mit dem Tod der Mutter das Wissen über das Geflecht der Familie verloren. Mit Hilfe ihrer „genealogischen Kenntnisse“ konnte sie noch dem entferntesten Verwandten einen Platz innerhalb der Familienbeziehungen zuweisen. Eribons gleichgültige, man könnte auch sagen: unhöfliche Reaktionen auf Versuche von Verwandten, nach Erscheinen der Rückkehr Kontakt mit ihm aufzunehmen, lassen jedoch vermuten, dass ihn der Verlust dieses Wissens kaum berührt. Im Blick auf die „unbestreitbare Dauerhaftigkeit familiärer Bindungen“ bekommt die Rede von der abgerissenen Verbindung, von der eingestürzten Brücke dann einen Sinn, wenn man diesen herkunftsbestimmten Anteil am Ich als Komplex von Erinnern, Verdrängen und Vergessen versteht. Nun wehrt Eribon aber auch die erinnernden Erzählungen der realen Mutter bei seinen seltenen Besuchen als „Litanei“ ab, die die wechselseitige Fremdheit nicht überwinden könne.
Dennoch weckt der Tod der Mutter Eribons Interesse an die Erinnerung an Kindheit und Jugend und seine Beziehung zur Mutter. Da die Beziehungen des Kindes sprachlich vermittelt sind, er aber weder schriftliche noch mündliche gespeicherte Zeugnisse der Mutter-Sprache besitzt, wird die zufällige Entdeckung eines Wörterbuchs des regionalen Dialekts der Champagne zum entscheidenden Werkzeug seiner Erinnerungsarbeit. Gespräche mit seinen Brüdern kommen offenbar für ihn nicht in Frage. Die Stimme der Mutter im Kopf geht er das Wörterbuch auf der Suche nach Schlüsselwörtern durch, die in ihm die Erinnerung an Ausdrücke, Redewendungen und Wörter der Mutter freisetzen und ihm den Zugang zur eigenen Vergangenheit öffnen. Da er sich die Sprache seiner Kindheit früh abtrainiert hat, obwohl er einräumt, dass seine Mutter gar keinen richtigen Dialekt gesprochen habe, setzt diese deduktive Aneignung der sprachlichen „Bruchstücke“ der eigenen Lebensgeschichte und der der Mutter ein „Umlernen“ voraus, gewissermaßen ein partielles Neuerlernen der Muttersprache. Herkunftssprache und Zielsprache des französischen Bildungsbürgertums bilden analog zur Rede vom gespaltenen Habitus „zwei sprachliche Register“, die sich aber bei den Treffen mit der Mutter einander angleichen, in den Gesprächen kommt es zu Momenten der Vermischung, dann wiederum zur Distanz der Sprechweisen.
Obwohl ich selbst niemals den Umweg über eine deduktive Vergegenwärtigung meiner Mutter-Sprache brauchte, hat mich diese Passage des Buches gleich beim ersten Lesen am meisten interessiert und bewegt. Als meine Mutter vor wenigen Jahren gestorben war, hatte ich die Idee, ein Glossar ihrer charakteristischen Ausdrücke anzulegen. Ein Teil davon ist Bestandteil meiner eigenen Sprache geworden, wenn auch meistens als Zitat. Wenn ich mich mit meiner Schwester unterhalte, schaltet sie oder ich oft die Bemerkung ein, dass unsere Mutter das jeweilige Thema jetzt so oder so formuliert oder kommentiert hätte. Es ging mir nicht um den Klang ihrer Stimme, da besitze ich Sprechdokumente. Vor allem wollte ich ihren Sprachwitz, ihre Lakonie, auch ihre Abwehr von Dünkel, Arroganz und Aufgeblasenheit im Gedächtnis meiner erwachsenen Kinder verankern. Meine Mutter war eine Meisterin des diskreten Schmähs. Arrogante Bürgerdamen nannte sie auf Hessisch-Französisch „Donseln“. Besuche, die ihr ungelegen kamen, von Leuten, die ihr „so lieb wie Leibschmerzen“ waren, kommentierte sie uns Geschwistern gegenüber, selbstverständlich niemals gegenüber dem Besucher: „Den such ich mit der Stalllatern‘.“ Dabei blieb sie freundlich. Sie wollte sich nicht in die „Nesseln“ setzen und nicht in die „Bredouille“ geraten. Das meiste ihrer idiomatischen Ausdrücke ist unmittelbar verständlich, nur wenige Sentenzen sind im oberhessischen Dialekt gesprochen und müssten für meine Kinder in Lautschrift transkribiert werden. Meine Eltern haben sich manchmal untereinander im Dialekt unterhalten. Wir Geschwister haben gelernt, diese Gespräche zu verstehen, aktive Dialektsprecher sind wir beide nicht geworden. Im Vorort der mittelhessischen Universitätsstadt Gießen, in dem wir groß wurden, gab es keine nach Klassen separierten Wohngebiete, Arbeiter und Arzt wohnten in derselben Straße, die Leute sprachen fast klassenübergreifend Allgemeinsprache, oft mit einer mehr oder weniger ausgeprägten mundartlichen Einfärbung. Zur Abschleifung dialektaler Ausprägungen des Sprechens hat Vieles beigetragen: Radio, Zeitungskonsum, etwas später das Fernsehen, vor allem aber generationenübergreifend die allgemeine Schulpflicht. Für heute müsste man noch die Tendenz zur Intellektualisierung von Arbeitstätigkeiten und generell die Verschiebung zu Dienstleistungsberufen nennen. Bei diesen Voraussetzungen war weder meiner Schwester noch mir die Umstellung auf die Sprache der Schule schwergefallen. Meine Eltern konnten auch Hochdeutsch sprechen, vor allem in offiziellen Kontexten, auf Elternabenden des Gymnasiums, mit Ärzten, auf der Bank und auf den Ämtern. Wenn meine Mutter Hochdeutsch sprach, klang immer eine Distanz mit, als müsste sie sich zu dieser Sprechweise zwingen, weil sie ihr von der kommunikativen Situation aufgezwungen war. Aus dem Mund meiner Mutter klangen hochdeutsche Äußerungen immer wie ein Zitat, als wäre sie eine Schauspielerin des epischen Theaters, die die Differenz zwischen sich und der gespielten Rolle in jedem Moment des Sprechens erkennen lässt. Einst musste sie wegen einer Grippeerkrankung eines der Kinder einen Arzt im Sonntagsdienst kommen lassen. Als dieser klingelte und an der Tür barsch fragte: Was ist denn hier los?, entgegnete sie ihm in perfektem Hochdeutsch und spitz: „Herr Doktor, das wollte ich eigentlich von Ihnen wissen!“
Im Unterschied zu Frankreich haben auch die föderale Struktur der Bundesrepublik und das Fehlen einer rigiden zentralistischen Sprachpolitik eine tiefgreifende Diskriminierung des Dialekts verhindert. Eine mundartliche Einfärbung des Sprechens gehört in einigen Regionen des Landes zum guten Ton, zumindest wenn die Sprecher signalisieren, alle situativ gebotenen Sprechvarianten zu beherrschen und den Hörerinnen und Hörern zu verstehen geben: Die mundartliche Färbung gehört zu meiner Individualität und ich kann es mir leisten, sie ab und zu hören zu lassen. Albert Osswald, von 1969 bis 1976 Ministerpräsident Hessens, ist in demselben Vorort geboren wie mein Vater. Wenig jünger als dieser, haben sie in ihrer Jugend manchmal gemeinsam Skat gespielt und blieben sich ein Leben lang als Sozialdemokraten lose verbunden. Osswald ließ es sich nicht nehmen, schon als er Oberbürgermeister Gießens war, auf dem Frühschoppen der jährlichen Kirmes des Vororts für einen Auftritt lang die Kapelle zu dirigieren und dazwischen Kommentare auf Oberhessisch zum Besten zu geben.
Die sprachlichen Hegemoniestrukturen in Deutschland unterscheiden sich von denen in Frankreich. Zudem waren die politischen Führungsgruppen in Gemeinden und in manchen Bundesländern, soweit sie sozialdemokratisch beeinflusst oder regiert waren, anders als die „Eliten“ in Wirtschaft und in den Spitzen der Beamtenschaft und Verwaltungsapparate, schon vor der Bildungsexpansion relativ durchlässig für Aufsteiger, auch dies ein Unterschied zu Frankreich, deren politische „Eliten“ von ENA (Ecole nationale dʼadministration)-Absolventen dominiert werden (6). Wenn ich hier die Aspekte sprachlicher Integration von Nicht-Muttersprachlern einmal beiseitelasse, kann man sagen: Für immer mehr Menschen stehen Herkunftssprechen und Hochdeutsch nicht mehr schroff gegenüber, sondern sie variieren im Feld der Allgemeinsprache. Dort wählen die Menschen auch die Varianten, „Register“, die sie in der jeweiligen Kommunikationssituation für angemessen halten. Es gibt mehr als die von Eribon immer wieder angesprochenen zwei Register: Eltern und Kinder sprechen untereinander anders, als wenn Eltern mit Kindern sprechen, die „Sprache“ des Schulhofes unterscheidet sich vom Sprechen im Klassenzimmer und die Sprache des Dermatologen ist eine andere als die Sprache der Liebe.
7.
Eribon ist überzeugt, dass seine Mutter „ihr Leben lang unglücklich“ war. Wunschlos war sie indes nicht und auch nicht ohne Ehrgeiz. Dabei geht es nicht um den späten Wunsch, Rennfahrerin zu werden, den sie bei einem gemeinsamen Fernsehtag angesichts eines übertragenen Autorennens äußert. Eribon sieht darin den Effekt der „Traummaschine“ TV, Wünsche zu erzeugen, die keine Vermittlung zur Person der Wünschenden, zu ihren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lebensumständen haben. Diese Verbindung besteht allerdings bei ihrer Bereitschaft, Schreibmaschine zu lernen, um als Sekretärin arbeiten zu können, und im Wunsch, Grundschullehrerin zu werden, der an den Kriegsumständen scheitert. Entscheidend ist, dass sie über diesen Erfahrungen des Scheiterns nicht vor den bestehenden Verhältnissen kapituliert und ihren Kindern nur dasselbe Schicksal gönnt, das ihr aufgeherrscht worden ist, sondern zumindest den zweitältesten Sohn Didier in seinem Bildungseifer bestärkt und zum großen Teil seine Bildung finanziert. Wenn dieser schon seine Mutter nicht lieben kann, könnte er ihr wenigstens dafür dankbar sein. Eribon selbst bekennt seine Undankbarkeit und schämt sich dafür, dass sein Abgrenzungsbedürfnis die Dankbarkeit überlagert hat. Dass es nicht nur um Abgrenzung geht, um Freiheit vom einengenden Druck der Familie, sondern dass Eribon dabei bisweilen auch den herablassenden Blick der Oberen übernimmt, macht eine der kleinen Erzählungen deutlich, die er an das Ende von Kapitel III gestellt hat. Er erzählt, dass die Mutter regelmäßig zu den Geburts- und Namenstagen der Söhne jeweils einen Scheck über 20 Euro geschickt habe. Das sei, erkennt er, für die Mutter viel Geld gewesen, behauptet, von dieser Geste gerührt gewesen zu sein, schreibt aber mit schnodderigem Snobismus: „Wir lebten tatsächlich in verschiedenen Welten, wenn sie glaubte, ich würde mir irgendetwas für zwanzig Euro kaufen.“ Das ist aber noch nicht die Pointe dieser Miniatur. Die besteht im kleinlauten Eingeständnis des Protzes, dass die Mutter in ihrem Glauben an die Bedeutung ihres Geschenks nicht so falsch lag: „Gut, immerhin war das der Preis eines Buches.“ Wie so oft konfrontiert Eribon seine Leserschaft mit unaufgelösten Widersprüchen. Einmal übernimmt er bruchlos den Habitus des französischen Bildungsbürgertums, aufgepeppt mit identitätspolitischer Akzentuierung sexueller Diversität und linksliberalem Poststrukturalismus, dann aber ballt er manchmal noch die Faust in der Hosentasche und bekennt sich zu „Klassenreflexen“. So muss es enden, wenn man Reflexe nicht in Bewusstsein überführen kann oder will.
Anmerkungen:
[1] Paul Willis: Learning to Labour. Spaß am Widerstand. Hamburg 2013 (englische Originalausgabe 1977, erste deutsche Ausgabe unter dem Titel „Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule“, Frankfurt am Main 1982)
[2] Zum Vordringen französischer Pflegekonzerne wie Korian und DomusVi in Frankreich und Spanien siehe die ausgezeichnete Dokumentation von Laurence Delleur „Goldgrube Altenheim“ mit erschütternden und empörenden Dokumenten zu den skandalösen Zuständen in diesen Heimen, von arte am 14.05.2024 ausgestrahlt, Wiederholung am 27. 05., 9 Uhr, auf arte Mediathek verfügbar bis zum 19.08.2024.
[3] Hierzu Deutscher Ethikrat: Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme 2012. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-demenz-und-selbstbestimmung.pdf
[4]Antje Schwinger u.a. (Hrsg.): Der Pflege-Report 2023. Versorgungsqualität von Langzeitgepflegten. Springer 2023. S. 237. Open-Access-Publikation: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-67669-1
[5] Die oben erwähnte Dokumentation von Laurence Delleur zeigt, wie man einen bereits eingenommenen Heimplatz verlieren kann. In Großbritannien sind Heime dann Objekte von Private Equity Fonds, wenn der Baugrund, auf dem Heime stehen, Gewinne verspricht. Sie kündigen den Bewohnerinnen und Bewohnern, was offenbar sehr schnell geht, und errichten lukrativere Immobilien auf dem Areal. Die Dokumentation zeigt, wie schwierig es für die Angehörigen wird, eine neue ortsnahe Unterkunft für ihre vollzeit-pflegebedürftigen Familienmitglieder zu finden, wenn dies auf einem Schlag 60-90 Menschen genau so ergeht.
[6] Nach einer Untersuchung von Michael Hartman kamen im Jahr 2006 unter der Anzahl der jeweiligen Regierungsmitglieder in Frankreich 6,2% aus der Arbeiterklassen, in Deutschland waren es hingegen 18,8%. Die höchste Quote von Regierungsmitgliedern mit Arbeiterherkunft unter den untersuchten Ländern erreichte Österreich mit 36,3%. Siehe M. Hartmann: Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2007, S. 222. Mittlerweile stellt Hartmann auch bei der politischen „Elite“ eine Verdrängung von Menschen mit Arbeiter- und Mittelschichtenherkunft und eine Angleichung der europäischen Länder fest. Einen Grund dafür sieht er in der „Akademisierung“ der SPD-Mitgliedschaft.
Dankeschön für die ausführliche und tiefgründige Besprechung.
Gerald Warnke