D-Day, Tag der Entscheidung, erklärten wir dem Enkel, der nachfragte. Wie soll er das wissen, was vor 80 Jahren, am 6. Juni 1944, in der Früh begann mit der größten Invasion in der Weltgeschichte. Und es war der Anfang vom Ende der Nazi-Herrschaft über Europa, der Sieg der Alliierten über die Hitler-Diktatur sollte noch fast ein Jahr dauern und viele Millionen Menschen das Leben kosten. Der 6. Juni 1944 markierte die Wende im 2. Weltkrieg, nunmehr sahen sich die Deutschen im Westen einer zweiten Front gegenüber, wodurch, darum hatte Stalin seit Jahren gebeten, die Rote Armee an der Ostfront entlastet wurde und den Druck auf Berlin erhöhen konnte. Mit dem 6. Juni zeichnete sich zugleich das ab, was man die Nachkriegsordnung nannte, festgelegt in den Konferenzen der Alliierten. Einer, der vor zehn Jahren bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an den D-Day, der Landung der Alliierten Streitkräfte in der Normandie noch dabei war, fehlt dieses Mal: Wladimir Putin, Russland Präsident, ist nicht eingeladen. Weil er den Frieden in Europa gestört hat mit seinem Krieg gegen die Ukraine. Und auch darum ist die Zusammenkunft der Staatsmänner des Westens am 6. Juni 2024 in der Normandie, von USA-Präsident Biden über Englands König Charles zu Frankreichs Staatspräsident Macron bis hin zu Deutschlands Bundeskanzler Scholz und anderen so eminent wichtig. Es ist ein Zeichen der Einheit, und da auch Ukraines Präsident Selenskyi geladen ist, wirkt es wie ein Signal an Putin und die Welt: die Ukraine wird militärisch und finanziell noch stärker unterstützt als bisher.
Ein Enkel von Konrad Adenauer hat sich zu Wort gemeldet in einem Interview der „Frankfurter Rundschau“: Paul Bauwens-Adenauer. „Europa ist das Wichtigste“, erklärte Adenauers Enkel, nicht Deutschland“. Das sind Worte an die Adresse der vielen Europa-Skeptiker und Europa-Kritiker wenige Tage vor der Wahl zum Europa-Parlament, zu dem 350 Millionen Frauen und Männer in der Europäischen Union aufgerufen sind. Adenauers Enkel sieht das Werk in Gefahr, an dem sein Opa mitgewirkt hat, später tatkräftig unterstützt von Frankreichs späterem Staatspräsidenten General de Gaulle, der am D-Day noch im Exil in London lebte und erst nach der geglückten Landung heimatlichen Boden wieder betrat. Ja, ich nenne bewusst de Gaulle(und nicht Schuman, Monnet, de Gasperi, Spaak, und all die anderen politischen Pioniere Europas) weil er sich damals, als die Alliierten ihn noch nicht dabei haben wollten, nach vorn drängte. Es ging schließlich um sein Frankreich. „Die Nationalstaatsidee ist spätestens 1945 bankrott gegangen“, sagt Bauwens-Adenauer. „Die Lehre für Europa war doch, der Nationalstaat ist nicht die Zukunft. Vor allem wir Deutschen sollten das gelernt haben. Deutschland müsse deshalb die treibende Kraft der europäischen Integration sein.“ Wie Frankreich es uns vormacht, gerade Macron treibt Olaf Scholz an.
Jeder einzelne europäische Staat ist zu klein, um sich behaupten zu können, auch die Achse Paris/Berlin ist nicht stark genug, wir brauchen die gesamte europäische Union angesichts der russischen Aggression, chinesischem Machtstreben, einer drohenden Rückkehr von Trump ins Weiße Haus. Die Herausforderungen sind riesig, da ist die Klimakrise, der Migrationsdruck, die mögliche Gefahr neuer Pandemien. Einer allein ist da überfordert. Wir brauchen europäisches Denken statt populistischer Interessen, die keine Lösungen anbieten, sondern nur polemisieren. Adenauer und de Gaulle haben die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gegen Widerstände durchgesetzt, der Erbfeind wurde begraben, die deutsch-französische Freundschaft ist das Ergebnis, von dem wir alle leben und die den europäischen Einigungsprozess vorangetrieben hat. Nationalisten wie der AfD-Mann Höcke und Sahra Wagenknecht sind Beispiele für die Torpedierung Europas, dazu gehört für mich Ungarns Orban, der lieber seine Verwandtschaft mit europäischen Geldern versorgt und europäische Projekte behindert. Es ist Geschichtsvergessenheit, die hier zu Tage tritt, wenn die erwähnten Leute die europäische Idee verhöhnen und die EU als gescheitert anprangern. Dabei hat sie den meisten Menschen Wohlstand gebracht und Europa einen jahrzehntelangen Frieden.
Zurück zur Normandie, der größten Landung in der Weltgeschichte. Drei Millionen Soldaten hatten die West-Alliierten an der Küste Südenglands zusammengezogen. Mehr als 5000 Schiffe lagen in den Häfen am Kanal, 7000 Kampf- und 2000 Transportflugzeuge standen bereit, 18000 Fallschirmjäger waren auf den Einsatz vorbereitet. Hitler und seine Generäle rechneten schon länger mit einem Invasions-Versuch, aber sie verkalkulierten sich, sie erwarteten den Angriff von England aus beim Landungsort Pas-de-Calais- weil die Entfernung von Dover kürzer ist- und nicht bei Cherbourg. Noch in der Nacht landeten Fallschirmjäger hinter den von deutschen Truppen besetzten Linien in der Normandie, zwischen San Mère Église und Caen. Der deutsche Atlantikwall, eine 2700 km lange mit Bunkern und Festungen ausgestattete Linie entlang der französischen Atlantik-Küste, von Hitler als unüberwindbar bezeichnet, war kein großes Hindernis für die Alliierten. Der Wall war einst von Zwangsarbeitern der einheimischen Bevölkerung errichtet worden.
Die Entscheidungsschlacht
Die Nachricht über die Invasion wurde von US-General Dwight D. Eisenhower morgens um 9.30 Uhr über die BBC verkündet, mittags um 12 Uhr informierte der britische Premierminister Winston Churchill das Parlament, um die Nachricht, auf die das britische Volk lange gewartet hatte, zu vermelden. Um 18 Uhr am Abend folgte die Rede vom General de Brigade, Charles de Gaulle: „Die Entscheidungsschlacht hat begonnen“.
Am Tag der Invasion weilte Generalfeldmarschall Erwin Rommel in seiner schwäbischen Heimat, seine Frau hatte Geburtstag. Der Führer hielt sich in Berchtesgaden auf und verschlief die Invasion, weil er sich mit Getreuen und Gästen länger unterhalten und gefeiert hatte. Erst am Abend wurde die deutsche Öffentlichkeit informiert. „In der vergangenen Nacht hat der Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten Angriff auf Westeuropa begonnen.“ Aber die Nazis hatten sich vertan mit der Örtlichkeit, die Panzer waren an anderer Stelle stationiert wie auch die Flugzeuge.
Am 6. Juni 1944 spielte der im amerikanischen Exil lebende Bertolt Brecht Schach, als er die Nachricht von der Invasion hörte. Brecht hatte gerade sein Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ zu Ende geschrieben. Nicht weit entfernt von Brecht feierte ein anderer Deutscher, Thomas Mann, seinen 69. Geburtstag. Er hatte Deutschland schon in den 30er Jahren verlassen, er war von einer Dichter-Lesung in der Schweiz nicht mehr in die Heimat zurückgekehrt. Mann schrieb an seinem „Doktor Faustus“. Kurz zuvor hatte US-Präsident Roosevelt im Rundfunk den Einmarsch alliierter Truppen in Rom bekanntgegeben. Und nun wandte sich Roosevelt erneut an das amerikanische Volk, um zu verkünden, „that troops of the United States and our allies were crossing the channel.“ Und dann bat der Präsident, in dieser kritischen Stunde „to join with me in prayer.“ Mit ihm zu beten. Ernest Hemingway saß während der Angriffswelle in einem Boot und berichtete später darüber.
Heinrich Bölls Brief an seine Frau
Heinrich Böll war schwer verwundet und erlebte den 6. Juni in einem ungarischen Lazarett. Seiner Frau Annemarie schrieb er einen Tag danach: „Das ist ein unglaublich wichtiges Ereignis, diese Invasion, das kann wirklich zur Entscheidung des Krieges noch in diesem Jahr führen. Wäre es nicht toll, wenn uns endlich einmal ein Zeichen vom Beginn des Endes leuchten würde; ach, dieser wahnsinnige, verbrecherische Krieg muss bald zu Ende gehen.“
Für alle Gegner und Verfolgten des Nazi-Regimes bedeutete die Nachricht von der Invasion Hoffnung auf Freiheit, Leben, Überleben. In Dresden ersehnte der Romanist Viktor Klemperer, ein Jude, ein Ende der Tyrannei. Er leistete Zwangsarbeit, fürchtete eine Deportation in ein KZ. In seinen Tagebüchern (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten) schrieb er am 8. Juni: „Ich kann nichts mehr hoffen, es ist mir fast unvorstellbar, das Ende dieser Tortur, dieser Sklavenjahre zu erleben.“ Klemperer starb 1960 in Dresden.
Noch leben einige wenige der einstigen Soldaten, die am 6.Juni 1944 dabei waren, als die größte Landung der Weltgeschichte stattfand, um Hitler aus Frankreich und all den anderen von den Nazis besetzten Ländern zu verjagen. Ein weltgeschichtliches Ereignis, das nicht vergessen werden darf. Das die Basis schuf für das Narrativ über ein Europa der Freiheit, der Gleichheit, der Solidarität, der Demokratie. Es soll und darf nicht vergessen werden, dass es die Rote Armee war, die vor allem Hitlers Wehrmacht in die Knie zwang- unter riesengroßen Verlusten. Auf 25 Millionen Tote werden die Opfer der NS-Herrschaft und des von den Nazis angezettelten Weltkrieges allein auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion geschätzt, darunter viele Millionen Tote in der Ukraine.
Aber es stimmt, mit dem 6. Juni 1944 konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein, wann Hitlers Zivilisationsbruch zu Ende gehen würde, den der Nazi-Führer über die Welt gebracht hat. Insofern kann man den 6. Juni als Tag der Freiheit feiern und zugleich als Mahnmal, weil diese Freiheit heute wieder bedroht wird. Mit Putins „Mordfeldzug“(SZ) ist der Krieg zurückgekehrt nach Europa, man hatte das kaum für möglich gehalten.
Freiheit triumphiert
Und doch triumphiert die Freiheit, bejubeln wir die Werte, die in unserem Grundgesetz festgelegt sind, darunter die Würde des Menschen, die unantastbar ist. In Deutschland, ja in Europa. Das jetzige Zusammentreffen der Regierungschefs und Präsidenten der demokratischen Welt in der Normandie steht dafür, die wenigen Überlebenden von damals verlangen das von uns, diese Werte zu sichern, für sie zu kämpfen. Für das Europa der Freiheit und des Friedens, ein Europa der Gleichheit und der offenen Grenzen. In dem wir reisen können, wie wir wollen, fast ohne Kontrolle, mit einer Währung, in einem Europa, indem wir Deutschen überall Freunde haben. Aber wir müssen aufpassen, die Feinde der Demokratie sind unterwegs, sie wollen Europa zerstören. Dem müssen wir uns entgegenstellen. Mit allen Kräften. Wie hatte Winston Churchill 1940 angesichts der Nazi-Bedrohung gesagt: „We shall never surrender“- wir werden uns niemals ergeben. Gemeint dem Faschismus und Nationalsozialismus. Und er hat Wort gehalten im Kampf gegen die „monströse Tyrannei“, die beispiellos für menschliche Verbrechen stand.
Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Ja, es ist noch Luft nach oben. Aber das, was ist, ist schon so gut, dass wir nicht zulassen dürfen, dass es kaputt gemacht wird. Die freie Welt ist frei. Und sie muss es bleiben. Dass Russland nicht an der Fußball-Europameisterschaft, die in wenigen Tagen in unserem Land beginnt, teilnehmen darf, hat Moskau einem Präsidenten Putin zu verdanken. Sein Krieg hat vieles verändert. Schade. Irgendwann werden wir auch Urlaub machen können in Russland, vielleicht die Fluss-Kreuzfahrt auf der Wolga von St. Petersburg nach Moskau nachholen können, die wir auf dem Schirm hatten, ehe Putin die Ukraine überfiel. Irgendwann muss dieser Krieg beendet werden, wie jeder Krieg. Auch daran müssen die demokratischen Staatenlenker arbeiten. Der 6. Juni 1944 steht dafür. Damals hatte kaum jemand daran geglaubt. Am 8. Mai 1945 war die Welt befreit, Deutschland, Europa. 1989 fiel die Mauer, von jetzt auf gleich.
Der 6. Juni 1944 gibt Anlass zur Hoffnung. Weil Freiheit und Demokratie stärker sind.