Es gibt literarische Werke, die über ein Land, eine Gesellschaft oder historische Ereignisse mehr aussagen als jedes Geschichtsbuch. Und es gibt Bücher, die selbst Geschichte geschrieben haben. In den USA hat zum Beispiel Harriet Beecher Stowe mit „Onkel Toms Hütte“ die Geringschätzung und Missachtung der Menschenwürde der Sklavenhaltergesellschaft in den Südstaaten derart eindrucksvoll thematisiert, dass die Vorgeschichte des amerikanische Bürgerkriegs (1861-1865) nicht ohne dieses Werk erklärt werden kann. Abraham Lincolns oft zitierter, anerkennender Satz über „die kleine Dame, die diesen großen Krieg begonnen hat,“ ist historisch nicht zweifelsfrei belegt. Aber er sagt etwas über die Wirkung aus, die ein Buch haben kann.
Beecher Stowe veröffentlichte ihren Roman 1852. Neun Jahre später kam es zum Sezessionskrieg, an dessen Ende die Abschaffung der Sklaverei stand. Fast zwanzig Jahre später, nämlich 1884, erschien ein Werk, dass sich ebenfalls mit dem Thema der Sklaverei in der Zeit vor dem Bürgerkrieg beschäftigte. Allerdings wurde dieses Werk aus einem anderen Grund zur Weltliteratur. Der berühmte Satz von Ernest Hemingway, dass die gesamte moderne amerikanische Literatur auf dieses Buch von Mark Twain zurückgeht, nämlich auf „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, ist oft zitiert und interpretiert worden. Diese Bewertung zielte vor allem auf die Sprache, die Twain seinem Ich-Erzähler Huckleberry Finn in den Mund legte und in deutschen Übersetzungen nur schwer wiederzugeben ist. Bei uns zählt das Werk eher zur Jugendliteratur – leider. Dennoch wird wohl jeder, der das Buch gelesen hat, so wie Huck tiefe Sympathie für den schwarzen Sklaven Jim empfinden. Jim ist bei Twain die zweite Hauptperson des Romans. Als er an einen Sklavenhändler verkauft und damit von seiner Familie getrennt werden soll, flieht er zusammen mit Huck, der sich den Erziehungsversuchen der weißen Gesellschaft entziehen will.
Jim wird in einem Roman des schwarzen amerikanischen Autors und Literaturwissenschafters Percival Everett zur Hauptfigur. Wer Twains Werk über die Abenteuer des Huckleberry Finn noch als Jugend- und Abenteuerroman in Erinnerung hat, sollte unbedingt Everetts Buch „James“ lesen, das sich dem gleichen Stoff widmet und Hemingways Satz wörtlich nimmt. Everett erzählt Hucks und Jims Abenteuer nämlich aus der Perspektive von Jim, der jetzt als Ich-Erzähler fungiert. Jim nennt sich konsequenterweise James, was seinen Anspruch signalisiert, nicht mit der Kurzform seines Namens quasi klein gemacht zu werden. Das Buch sollte man, wenn möglich, in der Originalsprache lesen, obwohl auch die deutsche Übersetzung den Perspektivwechsel gut wiedergibt und die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Sklaverei eindrucksvoll nachempfinden lässt. Everett greift nur die Episoden auf, die Huck und Jim gemeinsam erleben, und schildert deshalb die Abenteuer Hucks logischerweise nicht, die dieser bei Twain getrennt von Jim alleine erlebt. Dies erlaubt dem Autor eine Konzentration auf sein eigentliches Thema und sorgt für einen stringenten Erzählstrang und eine fesselnde Lektüre.
Der Perspektivwechsel von Huck zu Jim wird verstärkt und gleichzeitig ironisiert dadurch, dass Jim bzw. James und die anderen Sklaven, wenn sie unter sich sind, nicht die von den Weißen erwartete, kindliche und unbeholfene Sklavensprache benutzen, sondern sich ganz normal und stellenweise elaboriert über Gott und die Welt unterhalten. Sie spielen den Weißen Einfältigkeit und Unterwürfigkeit vor – und können sich darüber amüsieren. Der tiefgründige Humor Twains wird von Everett gespiegelt und weitergeführt. Überhaupt ist der Protagonist James, der sich selber das Lesen und Schreiben beigebracht hat, ein intelligenter und mit den Philosophen der europäischen Aufklärung vertrauter Mann, der die unmenschlichen und verbrecherischen Handlungen der weißen Sklavenhalter erleidet, ohne ihnen entfliehen zu können. Die grausamen Szenen des Buches, die es durchaus gibt, handeln von Züchtigungen, Vergewaltigungen und Mord. Und James selbst verursacht den Tod anderer, ja, er erschießt sogar einen der weißen Peiniger.
Das Ende des Buchs ist bewusst offengehalten. Everett verknüpft es zeitlich mit dem Beginn des Bürgerkriegs, womit der Leser vielleicht hoffen kann, dass es ihm gelingt, mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in Freiheit zu leben. Aber wie die Geschichte der weiteren Unterdrückung der vormaligen Sklaven und der fortgesetzten Rassentrennung in den USA nach dem Bürgerkrieg und bis weit in unsere Zeit hinein weiterging, weiß der historisch gebildete Leser natürlich auch. In diesem Zusammenhang sei nur auf die jüngst erschienene Biografie über Martin Luther King von Jonathan Eig hingewiesen.
„James“ wurde von der Kritik bereits kurz nach dem Erscheinen zu Recht gefeiert. Der Roman steht in der Tradition der großen Werke der amerikanischen Weltliteratur. Er wird nicht Geschichte schreiben, aber er lässt dieses dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte besser verstehen, als es so manches wissenschaftliche Werk vermag. Das Buch ist nicht nur ein literarisches Ereignis, sondern es regt auch dazu an, sich intensiver mit der Geschichte der Sklaverei in den USA zu befassen. Das macht es besonders lesenswert.
Percival Everett, James. Roman, Hanser Verlag München, 336 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-446-27948-3