Seit 1989, als Tim Berners-Lee das World Wide Web erfunden hat, erleben wir einen grundlegenden Wandel des Mediensystems, der in seiner Qualität eigentlich nur noch mit der Erfindung des Buchdrucks zu vergleichen ist.
Zwar weichen die Angaben über die Mediennutzung, über die Reichweite und über die Wirkung der einzelnen Medien je nach Untersuchung deutlich voneinander ab, aber die Tendenz ist eindeutig: Vor allem, wenn man auf die nachfolgenden Generationen schaut, verlieren die klassischen Medien, insbesondere die Zeitungen, aber auch das programmgebundene, lineare Radio und das das öffentlich-rechtliche wie das private Fernsehen dramatisch an Bedeutung – zumal für die Verbreitung von Informationen -, während das Medium Internet als Kommunikationsplattform sowohl im Hinblick auf
- die Nutzungsmöglichkeiten,
- die Nutzungszeit als auch hinsichtlich
- des Meinungsbildungsgewichts kontinuierlich zunimmt,
ja inzwischen sogar die Führungsrolle übernommen hat.
Die Zeitungsverlage strangulieren sich selbst
Die tägliche Auflage der Tageszeitungen ist von 27,2 Millionen seit anfangs der 90er Jahre auf 10,9 Millionen gesunken.
Bei der auflagenstärksten Zeitung, nämlich von BILD/BZ hat sich die tägliche Auflage in den letzten 10 Jahren von 1,5 Millionen Zeitungen auf rund 823 Tausend Exemplaren nahezu halbiert.
Die verkaufte Auflage der FAZ ging in der zurückliegenden Dekade um rund 113.000 auf etwas über 192.000 zurück. Auch die Süddeutschen Zeitung (SZ) erlitt seit 2015 einen Auflagenrückgang um mehr als 100.000 Exemplare und lag zuletzt bei täglich rund 280.700 Exemplaren.
Axel Springers „Die Welt“ verkauft sich an Werktagen nur noch zu knapp 36.000 Exemplare und liegt inzwischen hinter der taz.
In 40% der Kommunen droht ein Sterben der Lokalzeitungen.
Derselbe Negativtrend besteht auch bei Nachrichtenmagazinen und Publikumszeitschriften.
Verkaufte der Spiegel 1995 noch über eine Million Exemplare, so waren es 2023 nur noch etwas über 700 Tausend. Noch dramatischer büßte seit Mitte der 90er Jahre der Focus an Auflage ein, nämlich von 715.500 Exemplaren auf 237.100 und der Stern sackte von 1,25 Millionen auf 310.400 Exemplare ab. Bei den Printerzeugnissen hält einzig der Buchmarkt einigermaßen seine Stellung. Die Anzeigen- und Beilagenumsätze, vor allem die Werbeumsätze der Zeitungen haben sich innerhalb der letzten Dekade halbiert.
Nimmt man, wie etwa der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree, die Werbung als Indikator für die Bedeutung der verschiedenen Medien, dann sind seit 2020 die digitalen Medien zu den Leitmedien geworden und er prognostiziert, dass diese in fünf Jahren drei Viertel aller Webeeinahmen auf sich ziehen werden. (BigTech muss weg, 2023)
Zwar hat sich die Auflage der sog. E-Paper seit 2011 auf insgesamt 2,5 Millionen verzwanzigfacht, die Vertriebserlöse der digitalen Zeitungen können jedoch – bisher jedenfalls – die sinkenden Erlöse bei den meisten gedruckten Zeitungen nicht kompensieren und liegen insgesamt betrachtet noch im einstelligen Prozentbereich der Gesamterlöse der Verlage.
Gegen die weit verbreitete „Kostenlos-Mentalität“ der Internet-Nutzer haben es bezahlpflichtige Angebote noch schwer.
Nur noch die Hälfte der lesefähigen Bevölkerung greift täglich zu einer gedruckten Zeitung. Nur noch jeder Fünfte (nämlich 21 %) nutzt Printmedien als Nachrichtenquelle. Und die Zeit, die für die Lektüre aufgebracht wird, ist kontinuierlich zurückgegangen.
Je kleiner die Auflagen der Zeitungen, desto geringer die Werbeeinnahmen, desto kleiner die Redaktionen, desto weniger tiefschürfend die Berichterstattung, desto geringer die journalistische Qualität und – im Ergebnis – desto größer der Verlust an Glaubwürdigkeit und damit wiederum der Verlust an verkaufter Auflage.
Ein aktuelles Demokratie-Monitoring der Universität Hohenheim hat ermittelt, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Bundesbürger meinen, dass sie von den klassischen Massenmedien systematisch belogen werden, dass die Medien und die Politik Hand in Hand arbeiten und nur das bringen, was die Herrschenden vorgeben, um die Bevölkerung zu manipulieren.
Nebenbei bemerkt: Unter den AfD-Anhängern sind sogar um die 80 Prozent dieser Meinung. Die „Lügenpresse“-Vorwürfe sind im Osten Deutschlands sogar noch verbreiteter als im Westen.
Angesichts der negativen Nachrichtenlage lässt sich darüber hinaus aktuell beobachten, dass ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung sich von Informationen abwendet und sich ins Private zurückzieht. Mit dieser „News Avoidance“ – wie das neudeutsch heißt – könnte das gemeinsam geteilte WIR in der Gesellschaft schwinden.
Wir erleben einen – wie der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, es nannte – schleichenden „Abschied von der Öffentlichkeit“.
Die Zeitungsverlage sind dabei, sich selbst zu strangulieren. Dabei wäre – wie das frühere Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, zurecht meint – die große Frage nicht, wie schafft man Klicks, Reichweite, Auflage? Die entscheidende Frage laute vielmehr: Wie schafft man Vertrauen? Dann kämen auch wieder Klicks, Reichweite und Auflage. (Prantls Blick v. 20.09.2020)
In vielen europäischen Staaten gibt es inzwischen eine direkte oder indirekte Presseförderung, etwa über eine Förderung des Vertriebs oder einen reduzierten Mehrwertsteuersatzes. Die in Deutschland geplante Förderung der digitalen Transformation des Verlagswesens konnte bislang jedoch noch nicht umgesetzt werden.
Großes Vertrauen in das öffentlich-rechtliche Fernsehen
Nach vielen Umfragen haben um die 70 Prozent der Befragten noch immer Vertrauen in das öffentlich-rechtliche Fernsehen als Institution und etwa genauso viele halten die Programme für glaubwürdig. Dabei erreichten im letzten Jahr das ZDF einen Marktanteil von 14,6 Prozent, die Dritten Programme der ARD zusammengenommen einen Anteil von 13,8 Prozent, das Erste einen Anteil von 11,9 Prozent. Mit Abstand folgen RTL mit 10 Prozent, Vox gleichauf mit Sat.1 mit 4,7 Prozent, ProSieben mit 3,0 Prozent Marktanteil. Obwohl über 80 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk unverzichtbar sei und einen wichtigen Beitrag zur Meinungsbildung leiste, würden inzwischen 42 Prozent der Bürger den Rundfunkbeitrag nicht freiwillig bezahlen. (Haubrich, R. Wie divers ist die ARD? in Die Welt v. 12.11.2020, S. 3)
Weitaus weniger glaubwürdig werden die Informationen in sozialen Netzwerken eingeschätzt, YouTube erreicht hinsichtlich der Glaubwürdigkeit noch den höchsten Wert von 18 Prozent. Nur noch einstellige Prozentzahlen bei der Frage nach der Glaubwürdigkeit schaffen Twitter (neuerdings in X umbenannt), Facebook oder Instagram.
Dem großen Vertrauensbonus des Fernsehens steht allerdings geradezu ein „Generationsabriss“ bei der Nutzung gegenüber
Die Mehrheit der Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist über 65 Jahre alt. (Plickert, P. in der FAZ 7.1.2019, S. 16)
Das Fernsehen bleibt zwar das Informationsmedium mit der höchsten Tagesreichweite, bei den unter 50-Jährigen wurde es allerdings schon vom Internet überholt.
Im Hinblick auf die Bedeutung bei der Mediennutzung hat das Internet das Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Fernsehen sogar schon gewonnen. Für nur noch 28,7 Prozent der 14- bis 29-Jährigen ist lineares (das heißt programmgebundenes, zur selben Zeit gesendetes und empfangenes) Fernsehen wichtig, für mehr als die Hälfte dieser Altersgruppe, nämlich 55,8 Prozent ist Video-on-Demand am wichtigsten.
Manche sprechen – jedenfalls im Unterhaltungsbereich – sogar von einer „Kannibalisierung“ des linearen Fernsehens durch die Streaming-Dienste – vor allem beim jüngeren Publikum.
38 Prozent, also nahezu 4 von 10 Menschen ab 14 Jahren, geben an, dass ihnen das Internet am wichtigsten ist, um sich über das Zeitgeschehen in Deutschland und aller Welt zu informieren.
Dabei werden natürlich nicht nur originäre Onlineangebote genutzt, sondern auch Angebote der klassischen Anbieter. Aber gut 30 Prozent der 14- bis 24-Jährigen erreichen journalistische Angebote über das aktuelle Weltgeschehen kaum noch.
Bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren liegt die Quote dieser „gering Informationsorientierten“ laut einer im letzten Herbst veröffentlichten Studie des Hans-Bredow-Instituts bei sogar bei 45 Prozent.
Die Jugendlichen bevorzugen unterhaltende Inhalte und Themen die sie persönlich tangieren. TikTok inzwischen als Hauptquelle, gefolgt von Instagram und YouTube statt Tagesschau sind angesagt.
Vor dem Hintergrund, dass eine funktionierende und lebendige Demokratie auf informierte Bürgerinnen angewiesen ist, sollte es Anlass zur Besorgnis sein, dass eine tiefe Informationskluft zwischen der nachwachsenden Generation und den Älteren zu beobachten ist.
Angesichts dieses hier nur kurz skizzierten Wandels im Medienkonsum stellt sich die Frage, ob das Internet, die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen kann?
Meine kurze Antwort ist: Ergänzen nur teilweise ja, ersetzen – bisher jedenfalls – nein!
Richtig ist: Durch das Internet bleiben wir mit beliebig vielen Menschen in Kontakt.
Wir können Sprachmeldungen, Bilder und Videos austauschen und zeitgleich empfangen. Wir erhalten Informationen und wir können recherchieren in einem Umfang wie nie zuvor. Wir können unser Wissen verbreitern und verbreiten, wir können uns Kampagnen anschließen und politischen Druck ausüben und für Meinungen werben. Nie zuvor war es so einfach, an eine so große Fülle von Informationen und Medieninhalten weltweit und jederzeit zu gelangen, wie heute. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) werden diese Angebote sogar noch deutlich erhöht.
Solche großartigen Potentiale sind nach wie vor gegeben und all die schlechten Dinge, an denen man sich stört und die einen besorgt machen müssen, liegen nicht in der Technik. „Sie sind absichtlich eingebaut“ sagt der Medienjournalist Michael Moorstedt.
Im Netz gibt es nach groben Schätzungen allein in Deutschland etwa 200.000 Blogs
(Blogs das sind öffentlich einsehbare, häufig nicht-professionelle, aber häufig auch journalistische Tagebucheinträge mit einem eigenen Internetauftritt.) Solche Blogs werden monatlich etwa 800 Millionen Mal aufgerufen werden.
Darüber hinaus gibt es eine nicht mehr überschaubare Zahl an sog. „Influencern“. Das sind überwiegend jüngere Personen, die meist eines der großen sozialen Netzwerke nutzen um Lebensstile, Schönheitspflege, Mode, Hobbys oder Produkte anzupreisen. Diese Influencer haben oft hundertausende Zugriffe. Das Video von Rezo mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ vor der letzten Europa-Wahl wurde z.B. 16 Millionen Mal aufgerufen
Neben den nach wie vor reichweitenstärksten professionell- journalistischen Webangeboten (also etwa bild.de oder Spiegel.de), gibt es eine große Zahl sog. „alternativer Medien“, die häufig an den Rändern des politischen Spektrums liegende Inhalte ihrem Publikum anbieten. Wie z.B. „Tichys Einblick“, die „Achse des Guten“ auf der rechten politischen Seite oder auf der eher linken Seite etwa die „Nachdenkseiten“, die ich – bis sie in die eher verschwörungserzählende Ecke abgedriftet sind – bis 2015 selbst mit herausgegeben habe.
Der weitaus größte Teil der Internetkommunikation findet in den „Sozialen Medien“ statt
Neben solchen Blogs oder eigenständigen Websites findet allerdings der weitaus größte Teil der Internetkommunikation in den „Sozialen Medien“ (man sagt auch „Social Media“) statt.
Soziale Medien reichen von Instagram über das chinesische TikTok oder Facebook bis hin zu den Kurzmitteilungsdiensten, den sog. Instant Messengers, also dem seit der Übernahme von Elon Musk im Niedergang befindlichen Kurz-Nachrichtendienst Twitter, alias X, über WhatsApp oder Signal, bei dem der Betreiber keinerlei Zugriff auf Nutzerdaten hat, bis hin zu den Videoportalen, wie etwa YouTube. Hinzugekommen ist auch der in Russland gegründete Messenger Telegram. Der in Dubai ansässige Dienst hat 700 Millionen aktive Nutzer und wird gerne als vermeintlich sicherer Dienst gerne von Rechtsextremen, Umstürzlern, Holocaustleugnern und Verschwörungserzählern genutzt. Neu hinzu gekommen sind die Microblogging-Dienste Mastodon, Bluesky oder Threads von Zuckerbergs Meta- Konzern.
Hier nur soviel: Insgesamt nutzen mehr als 50 Millionen Deutsche Soziale Medien – das entspricht 89 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer.
Unter dem Aspekt der Meinungsbildung werden Soziale Netzwerke unter dem Oberbegriff „Intermediäre“ zusammengefasst. Sieben von zehn Personen ab 14 Jahren nutzen sie täglich.
Diese Medienintermediären sind zu wichtigen Verbreitungsplattformen sämtlicher sonstiger Medien- oder Informationsanbieter und damit zu zunehmend wirkmächtigen Meinungsmultiplikatoren geworden. (Dörr, D.)
Die Vision des Internets, also das Bild von Offenheit und der Vernetzung in einer freien, nicht-kommerziellen Informationsgesellschaft wurde leider nie Wirklichkeit.
Vom freien Informationsfluss im Netz kann keine Rede sein.
Die Kontrolle über die verbreiteten Inhalte liegt nicht bei den Nutzern, sondern bei den Betreibern sozialer Netzwerke. Internetdienstanbieter sind nicht neutral. Es bleibt verborgen, dass die „geposteten“ Inhalte vor allem aufgrund von geheim gehaltenen Sortier- und Suchalgorithmen der Internetdienstleister gesteuert werden. Solche – den Betriebsgeheimnissen der Tech-Giganten unterliegenden – Computer-Rechenprogramme kategorisieren, filtern und hierarchisieren die Angebote – milliardenfach und in Bruchteilen von Sekunden.
Über das Such- oder Klickverhalten wird nachverfolgt: Welche Netzinhalte vom Benutzer gesucht werden und welche ihm wichtig erscheinen, all das wird gespeichert. Basierend auf diesen Daten entscheiden die geheim gehaltenen Algorithmen der Intermediären personalisiert, welche Inhalte bestimmte Nutzer in welcher Reihenfolge zu sehen bekommen. Der Habermas`sche „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erlebt eine neue Qualität.
Leitwerte – wie Orientierung an der Wahrheit oder gesellschaftliche Integration – spielen dabei keine Rolle.
Die Intermediären sind, ähnlich wie die klassischen Medien, zu virtuellen Redaktionen und haben die Zeitungen und den Rundfunk als „Gatekeeper“, also als Torwächter der veröffentlichten Meinung abgelöst. Was in die News-Feeds oder Push-Nachrichten, also die Nachrichten, die von ausgewählten Kontakten automatisch angespült werden oder was in den Trefferlisten von Suchanfragen in Suchmaschinen an den ersten Plätzen steht, wird häufig unreflektiert als wahr und als nach vermeintlich objektiven Kriterien relevant eingeordnet. Vielen Nutzern ist das Wirken der algorithmischen Sortierfunktionen nicht bewusst.
Spätestens seit den Enthüllungen des ehemaligen CIA-Mitarbeiters Edward Snowden müssten eigentlich alle wissen, dass die gewonnene Freiheit der Information mit einem Verlust an Anonymität und einer neuen privaten und/oder staatlichen Macht über persönliche Daten erkauft wird. Die angeblich „kostenfreien“ Internet-Dienste von Facebook und Co. sind vor allem auch Datenkraken, die mit dem Sammeln und dem Verkauf von Nutzerdaten Milliarden an Gewinnen machen.
In China gibt es die ersten Modellversuche wie Online-Daten nicht nur zur umfassenden Überwachung genutzt werden können, sondern – über ein Sozialpunkte-System – das soziale Verhalten der Bürger bewertet und mit Sanktionen oder Vergünstigungen gesteuert werden soll. Auch im Westen gibt es sog. Safe Cities.
Was in China der Staat betreibt, machen in der westlichen Welt private Internetgiganten. Nahezu alle Dienste waren oder sind in Datenskandale verwickelt.
Und: Was oft vergessen wird: Nach dem Cloud Act und dem Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) sind die amerikanischen Tech-Unternehmen zur Herausgabe ihrer Daten an die Geheimdienste verpflichtet.
Die Harvard-Ökonomin Soshana Zuboff hat dafür zurecht den passenden Begriff „Überwachungskapitalismus“ eingeführt.
(Auf die Militarisierung des Internets und die Cyberkriminalität will ich hier nicht weiter eingehen.
Das Internet als Einfallstor für Manipulatoren
Die Tatsache, dass die Internetdienste besser über einen Bescheid wissen, als man vielleicht selbst über sich weiß – jedenfalls als man sich bewusst macht – kann nicht nur für Werbezwecke ausgebeutet werden, die Möglichkeit zur personalisierte Zielgruppenansprache, kann auch für Propaganda, bis hin zu Wahlmanipulationen missbraucht werden. Das Internet kann so zu einem Einfallstor für Manipulatoren und für Meinungsbeeinflusser werden. (Hegelich, S.)
Eine noch ziemlich harmlose Variante einer solchen Stimmungsmache, ist etwa der relativ preiswerte Kauf von „Likes“ auf Facebook. Zu den Meinungsmachern zählen sog. „Trolle“ oder ganze Trollfabriken, die sich In Diskussionsforen, Newsgroups, Chatrooms, Mailinglisten oder in Blogs einmischen und provozieren, Wut und Hass schüren oder in eine bestimmte (politische) Richtung zu lenken versuchen.
Es gibt auch automatisierte „Trolls“, also von Computern erzeugte künstliche Identitäten (sog. Robots), die in Netzwerken wie Twitter oder Facebook massenhafte Zustimmung oder Ablehnung von Meinungen vortäuschen. „Robots“ oder kurz „Bots“ können durch ihre schiere Masse gesellschaftliche Debatten beeinflussen. Im Umfeld der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA sollen bei Twitter 400.000 Bots im Einsatz gewesen sein, um die TV-Debatten zu beeinflussen.
So groß die Ängste – zumal der Deutschen – vor der Sammlung von Daten im Internet sind, so wenig schlägt sich das im Nutzerverhalten nieder. Man kann hier ein digitales Paradoxon beobachten, d.h. obwohl die Vertraulichkeit von persönlichen Daten von Vielen sehr wichtig eingestuft wird, findet die Nutzung von Internetdienstleistungen weitgehend sorglos statt. Und aus Faulheit stimmt man meist schnell allen „Keksen“, also den „Cookies“ zu, die Angaben zur Sprache, Seiteneinstellungen, Surfgewohnheiten zwischenspeichern und an den Betreiber der Internetseite weitergeben.
Mehr und mehr wird den Internet-Nutzern bewusst, dass, wenn etwas nichts kostet, der Nutzer das Produkt ist. Das Betriebsmodell ist das der Beobachtung und dem geschäftlichen Nutzen des Verhaltens der Nutzer. Die Online-Präsenz wird zur handelbaren Ware.
Facebook sei „ein Werbenetzwerk unter einer altruistischen Tarnung“ sagt der Chefredakteur von netzpolitik.org. Markus Beckedahl. https://www.fr.de/kultur/viele-unbeantwortete-fragen-11675050.html
Die sozialen Netzwerke haben zwar anfangs der zwanziger Jahre etwas an Börsenwert verloren sie sind jedoch nach wie vor die größten Werbeagenturen.
Nach Schätzungen der Boston Consulting Group soll er Handelswert persönlicher Daten allein im Jahr 2020 rd. 330 Milliarden Euro betragen haben.
Nach Angaben von Pioneer Briefing (v. 28.11.2023) übertraf die Marktkapitalisierung der Big Five im Sommerquartal 2022 das Gesamtkapital aller DAX 40 Unternehmen zusammen um das Sechsfache und deren Profite um das Vierfache. Alphabet erwirtschaftete in einem Jahr soviel Profit wie Bertelsmann in 66 Jahren.
Trotz der riesigen Gewinne sind diese bestverdienenden Konzerne mit die schlechtesten Steuerzahler. Die Konzerne verschieben ihre Gewinne in die USA, nach Irland oder in die Niederlande und verbuchen nur einen sehr kleinen Teil ihrer Gewinne bei uns in Deutschland. Mit Steuersätzen von 7 bis 15 Prozent zahlen sie dort weniger als die Hälfte von dem was in Deutschland an Steuern fällig werden würde.
Die Tech-Konzerne haben durch ihre enormen Ressourcen unverhältnismäßig viele Möglichkeiten, Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Branche gab nach Angaben von Lobbycontrol 2022 etwa 113 Millionen für Lobbyarbeit allein in Brüssel aus. (Bergt, S., taz v.11.09.2023, S.8)
Diese Lobbyarbeit bedroht demokratische Prozesse.
Außerdem fördern diese Konzerne in großem Umfang konzernfreundliche Forschung.
Soziale Netzwerke als Informations-Oligopole
Soziale Netzwerke sind darüber hinaus zu Informations-Oligopolen geworden und sie beherrschen das Internet. Der Philosoph Boris Groys spricht von einem „digitalen Feudalismus“. (Süddeutsche Zeitung v. 7.12.202, S.11) Wenn man genauer anschaut, was tatsächlich genutzt wird, dann sind es fast ausschließlich die US-amerikanischen Digitalkonzerne. Fairer und freier Wettbewerb sei abgeschafft. Die angebliche Vielfalt im Netz sei eine „Fata Morgana“, stellt der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree in seinem Buch „BigTech muss weg!“ (Frankfurt a.M. 2023) fest.
Der Internetzugang wird in der westlichen Welt von den „Big Five“ eröffnet, nämlich von „GAFAM“ (nämlich G wie Google, A wie Amazon, F wie Facebook, A wie Apple und M wie Microsoft). Die „sozialen Medien“ werden von „FANG“ (also von Facebook, Amazon, Netflix, Google) dominiert. Inzwischen müsste man das berufliche Netzwerk Linkedin von Microsoft oder die vom chinesischen ByteDance-Konzern betriebene Plattform TikTok hinzufügen. Während X, früher Twitter seit dem Kauf von Elon Musk deutliche Einbußen, vor allem auch bei den Werbeinnahmen hinnehmen muss.
Mit einem Suchmaschinen-Marktanteil von über 90 Prozent beherrscht Google den Zugang zu den Netzinhalten.
Amazon hat nicht nur einen Anteil von 56 Prozent am gesamten Online-Handel, / sondern beherrscht mit einem Drittel den Markt beim Cloud Computing, also bei externen Speicherplätzen für Rechen- oder Dienstleistungen.
Unter den 20 größten Digitalkonzernen der Welt gibt es kein einziges europäisches Unternehmen. Die Tech-Giganten sind nicht Spielball der Märkte, sondern umgekehrt sind die Märkte Spielball der Giganten geworden. (The Pioneer Briefing Economy Edition v. 28.11.2023)
Eine Hand voll Monopole beherrscht das Internet
Der „Atlas der digitalen Welt“, der am Institut für Medienkultur und Theater an der Universität zu Köln erarbeitet worden ist, zeige, dass sich die Internetnutzung zu 70 Prozent auf eine Hand voll Monopole konzentriere, und der übrige Rest des Internets nur noch ein riesiger „Friedhof“ sei. Die fünf größten Blogs erreichten eine Reichweite von gerade mal etwas mehr als einem Prozent.
Selbst finanzstarke globale Markenkonzerne hätten mit ihren Internetauftritten keine Chance sich gegen die schwarzen Löcher der Plattformen zu behaupten.
Nimmt man die Nutzungsdauer als Gradmesser so erzielten alle Inhalte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an Media-on-Demand zusammengenommen einen Anteil von gerade mal etwa 4 Prozent. Der Anteil an der gesamten Mediennutzung ist logischerweise noch viel geringer und betrage nur noch lächerliche 1 Prozent. (Siehe dazu Martin Andree, a.a.O.)
Die „Kalifornische Ideologie“
Der Hauptberater der EU-Kommission in der Generaldirektion Justiz, Paul Nemitz, der schon die Datenschutzgrundverordnung maßgeblich geprägt hat, spricht von einer „Kalifornischen Ideologie“, nämlich dem Glauben, dass sich alle Probleme durch Technik lösen lassen und vor allem, dass diese Technik alle Probleme besser löst als die Politik.
Diese Ideologie sei unvereinbar mit den Grundwerten von Freiheit und Demokratie.
GAFAM züchteten eine Kultur der Missachtung der Institutionen der Demokratie, ja noch mehr: eine Verachtung der Demokratie. Da werde suggeriert nur die Selbstregulierung der Akteure und der Markt seien wirksame Mittel, um Ziele zu erreichen, die dem Gemeinwohl dienen, und deshalb sei jeder Eingriff in den Markt und jede Regulierung des Internets durch Gesetze abzulehnen. Diese Mischung aus Verabsolutierung der Technologie und neoliberaler Gedanken habe die strukturelle Unterregulierung des Internets bis heute zur Folge. (FAZ v. 2. November 2020, S. 18)
Personalisierung der Informationen zerstört die Grundfunktion der Öffentlichkeit
„Unser Ziel ist es, mit dem Newsfeed die perfekte personalisierte Zeitung für jede Person auf der Welt zu schaffen“, sagte Facebook-Gründer Zuckerberg, wohl ohne selbst zu bemerken, welches Problem für den Erhalt von Meinungsvielfalt er damit beschrieb. Die konsequente Personalisierung der Informationen zerstört die Grundfunktion der Öffentlichkeit, nämlich den offenen Austausch der vielfältigen und kontroversen gesellschaftlichen Meinungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon in seinem Urteil vom 18. Juli 2018 zum Rundfunkbeitrag auf die Gefahr hingewiesen, „dass – auch mit Hilfe von Algorithmen – Inhalte gezielt auf Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten werden, was wiederum zur Verstärkung gleichgerichteter Meinungen führt“.
Filterblasen- oder Echokammereffekt
Häufig ist bei solchen Bubbles vom Filterblasen- oder Echokammereffekt die Rede. So plausibel diese Phänomene erscheinen so dünn sind allerdings bisher die empirischen Nachweise gesät.
Als einigermaßen gesichert gilt jedoch, dass bei zahlenmäßig durchaus beachtlich großen gesellschaftlichen Gruppen, die sich in Opposition zu der in den klassischen Medien veröffentlichten Meinung verstehen, durch die personalisierten Nachrichtenströme Verfestigungen von Vorurteilen oder Ideologien beobachtbar sind, sodass sich polarisierende „Gegen- oder Teilöffentlichkeiten“ mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen bilden. Das lässt sich etwa in den USA sehr gut beobachten, noch ein Jahr danach hielt ein Drittel der Bevölkerung die letzte Wahl für gefälscht. An die Stelle einer gemeinsamen Öffentlichkeit, die die Gesellschaft zusammenhält, ist eine Vielzahl von Öffentlichkeiten, sind alternative Fakten getreten.
Verrohung der Sprache
Eine Tatsache ist jedenfalls unbestritten: Im Netz ist eine Verrohung, ja teilweise sogar eine Vergiftung der Sprache beobachtbar. Die Verwilderung in der zwischenmenschlichen Kommunikation im Netz ist oft eng verbunden mit einem pauschalen Antielitismus, einer allgemeinen Skepsis, mit Homophobie und Fremdenhass, mit Rassismus bis hin zu Aufrufen zur Gewalt. Das Internet wurde geradezu zu einem Sammelpunkt für fremdenfeindliche und antisemitischer Hetze.
Ideologisch homogene Diskursräume führen zur Radikalisierung von Meinungen und Positionen. So kann eine „Wir-gegen-die-Haltung“ entstehen, die Hass sähen und einen Nährboden für politische Radikalisierung bilden kann. Solche sektenartige Phänomene ließen sich etwa bei den Corona- oder „Querdenker“-Demonstrationen oder zunehmend verbreiteten Verschwörungsmythen beobachten.
Übereinstimmende Studien zeigen, dass sich Fake News weiter, schneller, intensiver und breiter verbreiten denn als wahr klassifizierte Informationen. Falschmeldungen verbreiten sich in den sozialen Medien sechs Mal so schnell und hundert Mal so häufig wie normale Nachrichten. Das Internet als die „Radikalisierungsmaschine des 21. Jahrhunderts“
Diesen Verbreitungseffekt nutzen natürlich auch die Sozialen Netzwerke für sich selbst, denn die „Währung“ des Internets ist die Aufmerksamkeit – sie bringt Klickzahlen und Verweildauer und damit auch Werbeeinnahmen. Es herrscht die „Klickökonomie‘“.
Nacktheit und Wut klicken sich gut. Auch Hass bringt Klickzahlen. So können soziale Medien zu asozialen Medien werden. Der NRW-Innenminister Herbert Reul sieht im Internet die „Radikalisierungsmaschine des 21. Jahrhunderts“. (Kölner Stadt-Anzeiger v. 10. Juni 2020, S. 3) Klassische journalistische Tugenden sind dem „Clickbaiting“ eher abträglich. Man könnte auch sagen, das Radikale rückt in die Mitte – oder die Mitte wird radikaler.
Die politische Rechte hat besser verstanden, wie Soziale Medien funktionieren
Gerade Rechtspopulisten beherrschen dieses Spiel mit der Wut gekonnt. Sie liefern, was der Algorithmus belohnt. Die AfD oder andere rechte Bewegungen nutzen solche „Infodemie“-Effekte für ihre politische Propaganda. Die AfD verfügt über weit mehr als 80 Prozent aller Shares der politischen Parteien auf Facebook. Bei den Social-Media-Abrufen liegen die AfD und deren Politiker/innen mit weitem Abstand vor den anderen Parteien. TikTok drosselt neuerdings die Millionen-Reichweite des Spitzenkandidaten der AfD bei der Europawahl, Maximilian Krah. 92 Prozent der Social-Media-Nutzer geben an, im vergangenen Jahr bei Facebook und Co. auf Fake News gestoßen zu sein. Also auf falsche bzw. irreführende Informationen, die absichtlich dazu eingesetzt werden, um die Öffentlichkeit zu täuschen. Die Meldung „Staat zahlt Harem 7.500 Euro im Monat: Syrer lebt jetzt mit 2 Ehefrauen und 8 Kindern in Deutschland“ hat mehr Interaktionen auf Facebook erhalten, als 50 der meistgelesenen Nachrichtenseiten, etwa von Bild, Spiegel, Focus etc. (Hegelich, S.) Desinformationskampagnen gab es vor allem bei stark umstrittenen Themen, wie Zuwanderung, Corona oder Klimakrise. Wie unkritisch die Deutschen sind, beweist eine Umfrage, wonach nur 16 Prozent meinen, dass sie auf Desinformation hereinfallen könnten.
Desinformation verursacht Unsicherheit und diese Unsicherheit nährt Zweifel an allem und jedem/r, was nicht Teil der eigenen, gefühlten Wirklichkeit ist. Mit Begriffen wie „alternative Fakten“ wird suggeriert, dass Tatsachen reine Ansichtssache seien.
Gemeinsam geteilte und geprüfte Informationen sind Voraussetzungen für eine funktionierende Öffentlichkeit in der Demokratie. Ohne einen Konsens in der Gesellschaft für die Unterscheidbarkeit von wahr und unwahr sowie von Tatsachen und Meinungen ist es jedoch „kaum möglich im politischen Meinungskampf eine auf Argumenten basierende Auseinandersetzung konstruktiv zu führen.“ (Holznagel, B.)
Wie kann eine Demokratie überleben, wenn viele Menschen ihr Vertrauen in die in die
Mehr als drei Viertel der Deutschen erleben Hass im Netz. Das zeigen neuere Zahlen einer forsa-Studie im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW. Fast jede zweite Person (49 %) wurde schon einmal online beleidigt. 69% der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren waren schon einmal von Beleidigungen und Beschimpfungen im Netz betroffen. Vor allem Jugendliche werden mit „Cyber-Mobbing“ (jedes sechste Schulkind ist Opfer) , „Bullying“ (also mit Mobbing im Umfeld der Schule), „Cybergrooming“ (d.h. einem Heranmachen an Kinder) oder „Sexting“ (d.h. mit einem Missbrauch erotischer Fotos) konfrontiert.
Hassreden werden spätestens dann gefährlich für unsere Gesellschaft, wenn die Hetze des einen die Meinungsfreiheit des anderen einschränkt. Die vergiftete Diskussion kann dazu führen, dass Menschen sich aus Angst vor den hassvollen Reaktionen anderer nicht mehr trauen, ihre Meinung zu äußern, Medienredaktionen ganze Themenblöcke meiden, weil sie sich der unzivilisierten Debatte nicht gewachsen fühlen. Oder weil Anfeindungen Menschen davon Abhalten für ein politisches Amt zu kandidieren. Einem „kommunalen Monitoring“ zufolge waren im letzten Jahr 38 % solchen Angriffen verbaler oder gar körperlicher Art ausgesetzt. „Lauter Hass führt zu leisem Rückzug“, ist die Überschrift einer einschlägigen Studie.
Es gibt zwar eine Vielzahl von privaten und staatlichen Initiativen gegen Hass, Mobbing und Aufklärung von Desinformation, aber eine „Abrüstung der Sprache“ im Netz ist jedoch nicht feststellbar.
Der Kampf gegen Hassreden ist also auch ein Kampf für die Meinungsfreiheit.
Nicht die Digitalisierung der Demokratie, sondern die Demokratisierung des Digitalen ist die drängendste Aufgabe
Viele Protagonisten der Digitalisierung in der Wirtschaft und auch in der Politik vertreten den Standpunkt, dass sich die Demokratie der Digitalisierung anpassen müsse,
dass auch politische Prozesse durch Algorithmen gesteuert werden könnten, die auf die Optimierung des Gemeinwohls programmiert würden.
Demokratie kennt jedoch kein Optimum, sie lebt vom mühsamen Aushandeln komplexer Probleme unter Einbeziehung unterschiedlichster Interessen und Werte in einem partizipativen Verfahren.
Zurecht stellte Bundespräsident Steinmeier die Forderung auf:
„Nicht die Digitalisierung der Demokratie, sondern die Demokratisierung des Digitalen ist die drängendste Aufgabe“.
Regulierungsversuche auf dem Feld des Internets
Es hat noch nie in der Geschichte ein Medium gegeben, das nicht reguliert wurde. Die Frage ist allerdings, ob die Politik überhaupt noch in der Lage ist, die Tech-Giganten zu zähmen. Facebook hat gegen jegliche Regulierung eine bislang erfolgreiche Strategie: „Verzögern, Abstreiten, Vortäuschen“.
Die Bosse der fünf Internetoligopole, die zu den reichsten Menschen der Welt gehören, vertraten über lange Jahre unisono und penetrant die Ideologie, sie seien nur neutrale Dienstleister für ihre „User“ und könnten für die von ihren Nutzern verbreiteten Inhalte nicht als „Herausgeber“ zur Verantwortung gezogen werden. Die „Sozialen Medien“ seien demnach nur eine Art „digitales Schwarzes Brett“, auf dem Leute ihre Zettel anhefteten, ohne dass der Aufsteller der Anschlagtafel eine Verantwortung dafür trüge, was dort „gepostet“ werde. (Kühling, J. Schwartmann, F. in der FAZ v. 19.11.2020, S. 8)
In den USA wurde dieser Grundsatz sogar in einem Gesetz verankert.
Aus einer Mischung aus Technikbegeisterung, Staatsabwehr und dem naiven Glauben an die „Freiheit im Netz“ wird diese Ideologie der Netz-Oligopolisten vor allem von einem großen Teil der jüngeren Online-Community massiv unterstützt.
Das Internet ist jedoch kein rechtsfreier Raum. Warum sollte die digitale Welt anders funktionieren als die analoge, mit genauso vielen Freiheiten aber auch Pflichten?
Jede Regulierung müsste jedoch größtmögliche individuelle Meinungsfreiheit und Schutz vor staatlicher oder privater Zensur und darüber hinaus ein hohes Maß an Datenschutz gewährleisten.
Allerdings ist weder Hass noch ist jede Lüge strafbar und auch falsche Meinungen, sogar Widerwärtiges sind durch das Grundgesetz geschützt. Das Bundesverfassungsgericht garantiert der Meinungsfreiheit einen breiten Spielraum.
Die meisten Netzwerkbetreiber haben sich selbst sog. Gemeinschafts- oder Community-Standards zum Schutz vor schädlichen oder anstößigen Inhalten oder gegen Missbrauch auferlegt. So schlimm man die Tweets von Trump auch gehalten haben mag, dass Facebook und Twitter einfach dessen Nutzerkonten gesperrt haben, das hat mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nichts zu tun. Dieses „Hausrecht“ ist als private Zensur gefährlich und jedenfalls verfassungsrechtlich problematisch. Es zeigt den autoritären Charakter der digitalen Revolution.
Ein Beispiel für die „unheimliche Macht“ der Internet-Oligopolisten war ein Boykott von Facebook gegen ein in Australien geplantes Gesetz, das von den Plattformen verlangte einen Teil ihrer Einnahmen aus der Verlinkung von Artikeln und Filmen an die Urheber, also an Verlage oder Künstler abzugeben. Selbst behördliche Notdienste, wie die Feuerwehr waren über Nacht gesperrt.
In Deutschland versuchen es die Konzerne mit „Schmieren statt Regulieren“. Um Regulierungen in Deutschland abzuwehren, hat sich Google mit vielen Verlagen, wie etwa die FAZ, dem Spiegel, der Funke Mediengruppe und vielen anderen mehr geeinigt und gibt ein wenig Geld ab. Diese Geldausschüttung erfolgt nach „Gutsherrenart“. (Leisegang, D., Facebook gegen Australien: Der globale Stellvertreterkrieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2021 S. 29ff.)
Es ist Aufgabe der Politik, die rechtlichen Parameter für die Ermöglichung freier und unabhängiger Berichterstattung sowie für den freien und offenen Willensbildungsprozess zu setzen und Plattformen Pflichten für die gemeinwohlverträgliche Ausgestaltung öffentlicher Kommunikationsräume aufzuerlegen.
Immerhin gibt es inzwischen sowohl auf europäischer Ebene als auch als innerstaatliches Recht gibt es zahlreiche Regulierungsmaßnahmen:
Von der Haftung der Plattformen für Urheberrechtsverletzungen, über die Anpassung des Wettbewerbsrecht, der „Datenschutzgrundverordnung“ (DSGVO), dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ (NetzDG), dem „Telemediengesetz“ (TMG), dem „Digital Services Act“ (DAS) und seiner kürzlich verabschiedeten Umsetzung ins deutsche Recht, dem Digitale-Dienste-Gesetz , dem „Digital Market Act“ (DMA), bis hin zu mehreren Novellen des Medienstaatsvertrages der Länder und dem Aufbau einer Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Straftaten im Internet. Heftig gestritten wird derzeit über ein „Medienfreiheitsgesetz“.
Diese Regulierungsversuche sollen hier im Einzelnen nicht dargestellt werden.
Ob diese Regulierungen den rechtlichen und vor allem auch praktischen Rahmen bieten können für die Ermöglichung freier und unabhängiger Berichterstattung sowie für den freien und offenen Willensbildungsprozess und ob sie den Plattformen hinreichende Pflichten für eine gemeinwohlverträgliche Ausgestaltung öffentlicher Kommunikationsräume auferlegen können, wird sich erst noch erweisen müssen.
Wirklich gefruchtet haben die meisten der Regulierungen bislang noch nicht sehr viel. So gingen z.B. erheblich weniger Meldungen über strafrechtlich relevante Inhalte ein, als erhofft wurde. Schon jetzt zeigt sich, dass die Internetkonzerne solche Regelungen auszutricksen versuchen. Gegen die Konzentrationseffekte wurde bislang viel zu wenig unternommen.
Immerhin hat die EU-Kommission unlängst eine Wettbewerbsstrafe von 1,8 Milliarden Euro gegen den US-Tech-Giganten Apple verhängt, mit der Begründung, dass das Unternehmen seine marktbeherrschende Stellung für den Vertrieb von Musik-Streaming-Apps an iPhone- und iPad-Nutzer über seinen App Store missbraucht habe. Man darf gespannt sein, was die kürzlich eingeleiteten Wettbewerbsverfahren der EU-Kommission gegen Alphabet, Apple und Meta erbringen.
Maßnahmen über die bisherigen Regulierungen hinaus
– Über die bisherigen regulatorischen Bestimmungen hinaus, sollte bei demokratierelevanten Plattformen eine Trennung von Verbreitungsweg und Inhalten gesetzlich vorgeschrieben werden.
– Plattformen und Provider sollten nicht länger haftungsfrei bleiben, wenn sie rassistische, antisemitische, persönlichkeitsverletzende Inhalte weiterverbreiten, die nach deutschem und europäischem Recht strafbar sind.
– Außerdem sollte – analog zu den bereits bestehenden Regelungen im Medienstaatsvertrag – eine Marktanteilsobergrenze von max. 30 % für digitale Plattformen eingeführt werden, die demokratierelevante Inhalte verbreiten, die für die Meinungsbildung wichtig sind.
– Die Algorithmen sollten transparent und zumindest extern erforschbar werden.
– Es sollte ein Verbot der Monetarisierung strafbarer Inhalte durch Werbung oder Gebühren geben. (Die meisten dieser Vorschläge habe ich dem Buch von Martin Andree, BigTech muss weg, a.a.O. entnommen)
– Zur strafrechtlichen Verfolgung sollten von sozialen Netzwerken die IP-Adressen herausgeben müssen.
Wichtig wäre vor allem auch eine größere Medienkompetenz.
Es gibt Stimmen, die ganz grundsätzlich in Frage stellen, dass die Netz-„Infrastruktur“ sich in privater Hand befindet. Wie beim Straßennetz müsse der Staat diese Infrastruktur zur Verfügung stellen, die dann unternehmerisch und privat genutzt werden könne. (Wilhelm, U., FAZ v. 14.01.2021, S. 6)
Zunehmend werden auch Forderungen nach einer digitalen Souveränität wenigstens auf europäischer Ebene gegen die Digital-Oligopolisten aus den USA und inzwischen auch aus China laut.
Der Umbruch der Medienlandschaft wird sich nach aller Voraussicht in den nächsten Jahren beschleunigt fortsetzen. Ohne Gegenmaßnahmen werden sich klassische Medien im „Plattformisierungsprozess“ weder ökonomisch noch publizistisch behaupten können.
Warum also nicht eine öffentliche, beitragsfinanzierte Plattform?
Warum sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht dorthin gehen, wo sich die jungen Zielgruppen aufhalten? (Zur Idee eines öffentlich-rechtlichen Internets ausführlich Holznagel, B., Demokratieauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (S. 6ff.) und Fuchs, C., Digitale Demokratie und öffentlich-Rechtliche Medien, in der Public Value Studie des ORF, Auftrag: Demokratie, 2018, S. 94ff., (S. 116ff.), siehe auch Beschluss der Klausur der Rundfunkkommission 19./20. Januar 2023 in Deidesheim).
Bei aller berechtigten Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk hätte eine solche Public-Service-Plattform folgende Vorteile:
– Im Gegensatz, in Konkurrenz und in Ergänzung zu den privaten Sozialen Medien, aber auch im Unterschied zum privaten Rundfunk und zur Presse – die „Tendenzbetriebe“ und gewinnorientiert sind – könnte ein über eine „Demokratieabgabe“ – wie das Bundesverfassungsgericht den Rundfunkbeitrag genannt hat – finanziertes Internetangebot etwa auf der gesetzlichen Basis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sich dem kommerziellen Primat entziehen.
– Ein solches Public Value-Internetangebot könnte staatsfern von gesellschaftlichen Gruppen kontrolliert werden, demokratische Teilhabe ermöglichen und wäre nicht anonymen Shareholdern verpflichtet.
– Es könnte gemeinwohlorientiert, unabhängig und identitätsstiftend ausgerichtet und dem Wahrhaftigkeits- und Achtungsgebot sowie der Einhaltung journalistischer Grundsätze verpflichtet sein.
– Es könnte auf den Verkauf von Daten verzichten und wäre nicht auf die (Daten-) Ausbeutung der Nutzer angewiesen.
– Ein solcher öffentlich-rechtlicher Netzauftritt könnte gesetzlich auf Meinungsvielfalt, auf Pluralität des Angebots, Vielfalt der Akteure und der Themen, auf journalistische Darstellungsformen und auf inhaltliche Ausgewogenheit verpflichtet werden und
– durch einen gesellschaftlichen Integrationsauftrag der Spaltung der Öffentlichkeit und darüber hinaus Hassreden und Verschwörungsdenken entgegenwirken.
– Eine solche Plattform könnte mit dem Versprechen an die Nutzer verbunden sein, dass die Daten geschützt und die Algorithmen transparent gemacht würden.
– Außerdem könnte im Sinne eines „kommunikativen Versorgungsauftrags“ zusätzlich für die Inhalte eine Creative Commons-Lizenz vergeben werden, sodass die Inhalte von den Usern beliebig (z.B. auch als schulische Lernmittel) genutzt werden könnten.
Einen Einstieg in eine solche Plattform haben ARD und ZDF mit dem Jugendangebot „funk.net“ für eine jüngeres Publikum gemacht. Auch die Mediatheken sind nicht-lineare Angebote, die aber bisher ein Schattendasein fristen.
Bis es eine solche gemeinsame Plattform gibt, sollten ARD und ZDF mit den kommerziellen Digitalunternehmen enger zusammenarbeiten, um die nachrichtliche Aktualität und gesellschaftlich relevante Themen dort nutzerfreundlich und bevorzugt zu verbreiten.
Letzenden Endes sind allerdings die privaten Plattformen dabei die Gewinner, indem ihnen weitgehend kostenlos Inhalte (Content) liefert und die eigene Marke der öffentlich-rechtlichen Angebote für die Nutzerinnen und Nutzer nicht nur unsichtbar wird, sondern auch noch der Eindruck entsteht, als würde es sich um Produktionen der Internetoligopolisten handeln.
Angesichts der geschilderten Gefährdungen für unsere Demokratie wäre es Aufgabe und Pflicht aller politisch Verantwortlichen und aller demokratischen Parteien, solche Institutionen, die für eine funktionierende Demokratie wesentlich sind besonders zu schützen und zu stärken. (So der Appell des Initiativkreises öffentlich-rechtlicher Rundfunk, IÖR)
Leider verläuft die aktuelle Diskussion über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – einer für unsere Demokratie tragenden Institution – in die gegenteilige Richtung.
Aus der Sicht der Feinde unserer Demokratie ist es daher nur folgerichtig, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen, wie es die AFD fordert. Wenn in Thüringen ein Kandidat der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt würde, bestünde die Gefahr, dass der mdr-Staatsvertrag aufgekündigt werden oder ein neuer Staatsvertrag zwischen den Ländern verhindert werden könnte. (Röper, H.)
Die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger fürchten leider die Konkurrenz einer Internetplattform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für ihre eigenen Netzangebote, denn damit könnten ihnen Werbegelder abgezogen werden. Dabei sehen sie nicht den „Elefanten im Raum“, nämlich die privaten Internetoligoplisten, die schon jetzt den Löwenanteil des Werbekuchens an sich gerissen haben und immer gefräßiger werden.
Vielleicht wäre deshalb eine gemeinsame Plattform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ggfls. zusammen mit privaten Qualitätsmedien einer ernsthaften Prüfung wert.
Zur Konkurrenzfähigkeit gegenüber den BigTech-Oligopolisten müssten eher mehr Finanzmittel gewährt werden, statt wie gegenwärtig in erster Linie über Einsparungen bei den Rundfunkanstalten zu diskutieren.
Ob ein solches beitragsfinanziertes, öffentlich-rechtliches Angebot ausreichend Publikum fände, ist zwar ungewiss und wird vielfach bezweifelt, aber immerhin bestünde eine Alternative zu den Internetoligopolisten und ein Angebot für eine „mediale Grundversorgung“. Voraussetzung für einen Erfolg wären jedoch auch die genannten Maßnahmen, die uns vor Vorherrschaft der Digital-Konzerne befreiten.
Kurz: Ein solches beitragsfinanziertes, öffentlich-rechtliches Angebot wäre nach meiner Ansicht ein immer wichtiger werdender Beitrag zur Stärkung der Meinungsvielfalt und damit zur Demokratisierung des Internets.
Der Text entspricht einem Referat bei der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen (ASJ) am Montag, dem 25. März 2024, in Düsseldorf und wurde um einige Quellenangaben ergänzt.
Siehe dazu auch mit weiteren Quellen: Wandel des Mediensystems – Kann das Internet die klassischen Medien ergänzen oder gar ersetzen?
Wow – eine umfassende Analyse der jüngsten Medienentwicklung, insbesondere der (a)sozialen Medien und den Guten Vorschlag einer neutralen, vor allem von anderen als den herkömmllichen Algorithmen beherrschten „Blasen“, die den Usern immer mehr vom Gleichen anbieten! Danke, lieber Wolfgang!
Sehr informativ
Das ist ein sehr guter Aufsatz/Vortrag: Voller Infos und Fakten, überzeugender Analysen und vernünftiger Vorschläge.