Auch auf die Gefahr, falsch verstanden zu werden, weigere ich mich, in den Chor der Empörer über Rolf Mützenich und Papst Franziskus einzusteigen. Mir ist dabei klar, dass ich sofort als Russland-Versteher beschimpft werde. Und wenn ich dann noch Gerhard Schröder, den Ex-Kanzler und Putin-Freund, erwähne, wird das die Empörung noch weiter anschwellen lassen. Ergänzen möchte ich gleich zu Beginn das, was der in Nordsibirien geborene Schriftsteller Eugen Ruge in einem lesenswerten Interview in der Wochenend-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt hat: „Wenn der Papst- vielleicht ungeschickt- Verhandlungen anregt, fällt man über ihn her, als hätte er für Mord und Totschlag plädiert. Keine Verhandlungen mit Putin- das war ja von Anfang an die Strategie. Alle Forderungen, die Russland vor dem Krieg hatte, sind vom Westen als absurd abgeschmettert worden. Was den Donbass betrifft, ging es im übrigen nicht um Abtrennung, sondern um mehr Autonomie innerhalb eines Staatskörpers. Das zur Erinnerung. Nein, man muss nicht verhandeln. Aber ich empfinde es angesichts von Zigtausend Toten schon bedrückend, welche Empörung allein der Vorschlag auslöst. Insbesondere bei solchen, die selbst nicht in den Graben müssen.“
Damit das nicht missverstanden wird: Keiner der oben erwähnten Personen hat Putin Recht gegeben, sondern den Überfall Russlands auf die Ukraine als Fehler verurteilt oder als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bezeichnet. Was er ja auch ist. Aber dem Krieg ging eine Vorgeschichte voraus, die einfach ausgeblendet wird von jenen, die die SPD und namentlich Willy Brandt wegen ihrer Entspannungspolitik von jeher kritisiert haben. Dabei wird vergessen, dass diese Politik zur deutschen Einheit geführt hat und zur Auflösung der Sowjetunion- ohne dass ein Schuss fiel. Wir im Westen, darauf weist Eugen Ruge in seinem SZ-Interview hin, leben allzu oft in der Vorstellung, dass wir „frei von Verblendung sind, frei von Ideologie“. Will sagen, wir sind die Besseren, die anderen gehören zum Reich des Bösen. Ein Zitat des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan. Ruge erwähnt das auch. Und erwähnt weiter, dass im Westen oft genug nicht versucht werde, den anderen zu verstehen. „Das gilt fast schon als Verrat.“ Ich will hier hinzufügen, was ich dazu von Willy Brandt und Michail Gorbatschow damals gehört und später dazu gelesen habe. Als Brandt Gorbatschow fragte, was er sich denn vom Westen wünsche, sagte er: „Mehr Verständnis.“
Interessen des anderen erkennen
Eugen Ruges Mutter ist eine Russin, schildert die SZ, die während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee gedient hat. Im Krieg gegen Hitler-Deutschland. Ruge spricht die russische Sprache, ist im zarten Alter von zwei Jahren nach Deutschland gekommen, ist Deutscher und hat eine „Vorstellung von Russland, ich kenne Russen, Bücher von mir sind dort erschienen, auch mein Stalinismus-kritisches Buch „Metropol“. Ruge versucht „die Dinge in ihrem Widerspruch zu begreifen, Interessen zu erkennen, den Konflikt in seiner Entwicklung zu verstehen, anstatt Russland einfach zum großen Bösen zu erklären“. Wie es in Zeiten des Kalten Krieges vielfach war, als der Russe vor der Tür stand in Berlin, wie es hieß, oder im anderen Teil Deutschlands, der DDR, sich als Besatzungsmacht eingerichtet hatte. Damit will ich die DDR nicht schönreden, sie war eine Diktatur mit nur einer Partei, der SED, die sich mit einer Mauer umgab, mit Stacheldraht und Todesstreifen, die ihren Bürgern Freiheiten verwehrte wie die Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit in alle Welt zu reisen. Eine Diktatur, die Widerspruch nicht duldete, sondern politische Gegner einsperrte oder ausbürgerte, Fluchtwillige erschoss.
Und doch hat die SPD/FDP-Regierung Brandt/Scheel mit dieser Regierung in Ostberlin gesprochen, verhandelt, damit es den Leuten besser gehen möge, damit Familien sich besuchen konnten in West- und Ostberlin zum Beispiel, man machte die Ostverträge, politisch bekämpft von der Union, die vom Ausverkauf Deutschlands polemisierte, weil man die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens faktisch anerkannte. Die Wiedervereinigung war Thema in den Sonntagsreden, aber sie stand praktisch nicht mehr auf der Agenda. Niemand hielt den Fall der Mauer und die Einheit Deutschlands aus BRD und DDR damals für machbar- es sei denn als Wahl-Propaganda.
Eugen Ruge würdigt diese Politik der Verständigung und Annäherung der SPD-geführten Bundesregierung als eine „der erfolgreichsten politischen Strategien der Nachkriegszeit“, die das Sowjetimperium zum Einsturz brachte. Brandt und Scheel und Egon Bahr, um nur diese drei zu nennen, waren keine Pazifisten. „Auch ich bin kein Pazifist“, betont der Schriftsteller Ruge. Und das ist Rolf Mützenich auch nicht. Er ist auch kein Russlandversteher, wie er mehrfach betont hat in der Vergangenheit, um nicht missverstanden zu werden. Mützenich ist auch kein Bellizist, der jede Woche eine andere, schärfere Waffengattung an die Ukraine liefern würde, weil diese sie gefordert hatte. Der Fraktionschef der SPD im Bundestag war immer ein besonnener Mensch, er ist seinem Kanzler Olaf Scholz nicht unähnlich. Das laute Waffengeschrei mancher Kreise in Berlin dürfte ihm auf die Nerven gehen. Zumal mehr Geld für das Militärische dazu führen wird, dass es an anderen Ecken fehlen wird, in der Sozialpolitik zum Beispiel, beim Wohnungsbau, in der Infrastruktur.
Empörung in den Medien
Dass Scholz die Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers an Kiew deutlich abgelehnt hat, stieß auf Empörung der Medien in der Hauptstadt, die gern unter dem Namen Mainstream fungieren. Sie erwecken mit ihrer in den Zeitungen und im Fernsehen geäußerten Meinungen und ihrer Kritik am Kanzler den Eindruck, als wüssten sie genau, was zu tun sei und dass das Nein der SPD, ihres Kanzlers und ihres Fraktionschefs zum Untergang der Ukraine führen werde. Sie ignorieren, dass Scholz und Mützenich Sorgen haben vor einer Ausweitung des Krieges auf Europa, davor, dass es einen Dritten Weltkrieg geben könnte, wenn wir einfach nur noch mehr Waffen in das Schlachtengetümmel werfen und die Diplomatie außen vor bleibt, wenn nicht mehr geredet, versucht wird, auf Kanälen herauszufinden, wie man denn diesen furchtbaren Krieg zu einem Ende führen kann. Damit das Töten und Zerstören aufhört. Was soll daran falsch sein, wenn einer wie Mützenich davon redet, man müsse versuchen, den Krieg einzufrieren, wenn der Papst ähnliches fordert?
Nein, niemand fordert eine Unterwertung der Ukraine, eine Kapitulation, man muss nur irgendwann mal anfangen, wieder miteinander zu reden. Auch mit Putin, damit wird dieser nicht zum Heiligen, werden die Verbrechen seiner Soldaten nicht schön geredet. „Ich bin der Meinung“, so sagt es Eugen Ruge, „wenn man eine Meinung verstehen will, muss man verstehen, wie sie entstanden ist. “ Und daran war der Westen beteiligt, die Ost-Erweiterung der Nato war ein Fehler, man machte Politik ohne Rücksicht auf die Interessen Russlands.
Dass Gerhard Schröder Mützenich gelobt hat, kritisierte die Union umgehend. Sie sollte besser schweigen. Es war die damalige CDU-Chefin Angela Merkel, die Schröders Nein zum Irak-Krieg der USA in einem Gastbeitrag der Washington Post am 20. Februar 2003 mit den Worten widersprach: „Herr Schröder spricht nicht für alle Deutschen“. Später räumte der ehemalige US-Außenminister Powell ein, dass er bei seiner Rede vor der UNO die Weltöffentlichkeit belogen hatte. Der Irak unter Führung von Saddam Hussein hatte keine Massen-Vernichtungswaffen. Die Folge des Krieges war die Zerstörung weiter Teile des Landes. Es gibt keinen Grund, Schröder deswegen zu kritisieren, seine Freundschaft mit Putin ist ein anderes Thema.
Ziemlich unerwachsen
Dass der Kanzler die Debatte, gemeint die Kritiken an seiner Politik im Umgang mit der Ukraine, als „ziemlich unerwachsen“ zurückgewiesen hat, ist mehr als verständlich. Als wenn man eine Politik auf ein einziges Waffensystem reduzieren könnte! Ja, der Bundeskanzler folgt seinem Verfassungsauftrag, Schaden vom deutschen Volk zu nehmen. Und darin wird er unterstützt vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich. Beide sehen ihre Aufgabe nachdrücklich darin, sich den Herausforderungen einer neuen Weltordnung zu stellen, die einen Interessenausgleich innerhalb einer Welt mit bald zehn statt acht Milliarden Menschen zu organisieren hat. Die südliche Halbkugel lässt sich nicht länger vom Westen oder wem auch immer sagen, wo es langzugehen hat. Sie wollen eingebunden werden in diese Prozesse, die über Leben und Tod in ihren Breiten entscheiden. Sie wollen mitreden, auf Augenhöhe, nicht am Katzentisch sitzen und auf Brotkrumen der Reichen warten. Das ist der Grund, warum der Kanzler nach China fliegt, Indien besucht, Südafrika, Brasilien, warum Mützenich mal kurz nach Südamerika geflogen ist. Sie suchen Unterstützung bei Staaten, die bisher an der Seite Putin standen. Will man dessen verbrecherisches Wirken beenden, muss man Freunde in aller Welt finden, auch China.
Mit Taurus-Raketen kann man Brücken zerstören, aber kein Konzept einer neuen Weltordnung auf die Beine stellen. Das ist die Aufgabe einer neuen Politik, nicht die Aufgabe der Militärs. So hat es der Chefredakteur der Neuen Westfälischen, Thomas Seim, in seinem Leitartikel zum Ausdruck gebracht. „Die Politik entscheidet, ob das Einfrieren kriegerischer Handlungen 10000 Tote früher oder 10000 Tote später geschieht, nicht Militärs.“ Das ist das Anliegen, das SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in seiner Bundestagsrede vorgetragen hat. Und wenn man den Meinungsumfragen Glauben schenkt, dann scheint sich etwas zu verändern. Die Mehrheit der Bürger ist gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Und 46 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, dass die Ukraine auch zu Friedensverhandlungen bereit sein müsse. Was nicht bedeutet, die Ukraine im Stich zu lassen, aber Wege zu suchen, die zu einem Waffenstillstand führen könnten. Und noch einmal sei Mützenich zitiert: „Russland darf keinen Erfolg haben mit seiner Aggression. Die Ukraine hat den Anspruch auf die volle Souveränität und territoriale Integrität ihres Landes.“
Es ist an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenkt, wie man einen Krieg einfrieren und später beenden kann. Diese Worte habe ich in der Spiegel-Kolumne von Thomas Fischer gefunden. Und er hat Rolf Mützenich aus dessen Bundestags-Rede zitiert. Und auch Fischer findet, dass diese Sätze des Sozialdemokraten aus Köln kein Verrat sind, sie sind auch nicht skandalös. Ich finde, sie sind aller Ehren wert.
Bravo,erste und richtig gestellte Bericht seit Anfang des Krieges.Alles was man versucht Krieg zu stoppen wurde als Russland oder Putin Versteher genannt.Das NATO it USA als Führender Kriegskraft ist dürfte oder noch immer noch nicht benennen.
Vielen Dank für die gelungene Darstellung der Situation.
Bedauerlicherweise reduziert sich (nicht nur) die von „ungelernten“ Kräften praktizierte „wertegeleitete“ Außenpolitik auf eine schlichte Schwarz-Weiß-Betrachtung und eine damit einhergehende vollständige Ausgrenzung des Anderen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sich einmal auf die andere Seite des Tisches zu setzen und die Gesamtsituation aus dem Blickwinkel des Gegenüber zu betrachten.
Wenn man aufgrund des eigenen Sendungsbewusstseins davon überzeugt ist, der „Gute“ zu sein, ist klar, dass die Lösung nur im Extremen, sprich: der vollständigen Durchsetzung der eigenen Vorstellungen, liegen kann.
Problematisch wird die Sache halt, wenn auch der Gegenüber in diesem Muster denkt.