Der späte Besuch von Alexis Tsipras bei Angela Merkel in Berlin markiert trotz der weiterhin umstrittenen Details zur griechischen Reformliste und der mehr grundsätzlichen Statements dieses ungleichen Duos eine europapolitische Zeitenwende:
Erstens: Das Treffen bestätigte, dass Tsipras inzwischen mit großer Zähigkeit – trotz eines starken Gegenwinds in der EU gegen seine linke Regierungspartei Syriza – für Griechenland grundsätzlich den Anspruch auf eine eigenständige Reformalternative zur bisherigen Krisenstrategie der Troika durchgesetzt hat. Dieser mit Blick auf die demokratische Legitimierung entscheidende Spielraum wurde auch von Angela Merkel im eigenen Bundeskanzleramt nicht mehr in Frage gestellt.
Zweitens: Trotz eines wochenlangen Trommelfeuers an Belehrungen und Drohgebärden aus Berlin in Richtung Athen ist die Regierung Merkels deshalb in Wahrheit mit ihrem Latein einer radikalen Austerity-Politik für das anfällige Europrojekt praktisch am Ende. Ob sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland wirklich nachhaltig verbessern wird, ist auch nach der beiderseits demonstrierten atmosphärischen Lockerung und dem Wunsch zur vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht gesichert. Entscheidend dafür wird sein, ob man beiderseits der immer wieder virulenten Versuchung widersteht, europapolitische Meinungsunterschiede für innenpolitische Zwecke – wie z.B. sogar Landtagswahlen in Deutschland – parteipolitisch zu instrumentalisieren.
Tsipras mischt Europa auf
Ausgerechnet der ungelenke und provokativ kommunizierte, aber im ökonomischen Kern profunde Widerstand einer durch die linke Syriza geführten Anfängerregierung in Athen hat mit einer hitzigen Debatte über die kontraproduktiven Folgen des von Berlin aus durchgesetzten Krisenkurses ganz Europa aufgemischt.
Die im professionellen Politikbetrieb der EU und gegenüber den internationalen Medien unerfahrene Regierung Tsipras hatte zur Auslösung dieser bei EU-Themen einmaligen Politisierungswelle neben ihren vielkritisierten unorthodoxen, manchmal provokativen Stilmitteln vor allem ein entscheidendes Pfund vorzuweisen. Stichhaltige finanz-und wirtschaftspolitische Fakten sowie Argumente, die den formelhaft erstarrten „EU –Sprech“ durcheinander wirbeln: Griechenland ist nach einer fünfjährigen, gnadenlos ungerechten Sparorgie ökonomisch, finanziell und sozial in einer verzweifelten Lage. Alexis Tsipras weist nüchtern und sachlich korrekt darauf hin, dass der gnadenlos ungerechte Austerity-Kurs, vor Ort in demütigender Form durch die Troika aus EU, EZB und IWF umgesetzt, die am Sozialprodukt gemessene Staatsverschuldung seit Ausbruch der Griechenland-Krise 2010 von 129 Prozent auf 176 Prozent gesteigert hat, gerade weil durch eine einseitige Sparpolitik ein Viertel des Sozialprodukts weg gebrochen ist. Eine kontraproduktivere Therapie gibt es wohl nicht.
Griechenlands neuer Reformansatz
Tsipras erhebt mit seiner Syriza, die unter hohem Zeitdruck mit der rechtspopulistischen Partei „Unabhängige Griechen“ eine problematische Koalition gebildet hat, bei allen Anfängerfehlern den prinzipiell berechtigten Anspruch seiner Regierung auf einen neuen Reformansatz mit eigenständigem politischem Spielraum: Der charismatische neue Regierungschef will im schwierigsten Krisenland der Eurozone einen neuen Reformkurs durchsetzen, der die Staatsfinanzen basierend auf einer wirtschaftlichen Belebung – anstatt einer konjunkturellen Bremsstrategie – konsolidiert und die Lasten dieser Entschuldung finanziell gerechter verteilt – d.h. auch die bisher skandalös geschonten Reichen heranzieht. Und in diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der höhnische Dauerappell aus Berlin, die neue griechische Regierung solle sich sputen und endlich „ihre Hausaufgaben machen, statt Interviews zu geben“, geradezu grotesk wirkt. Die regierende Große Koalition in Berlin brauchte nach der Wahl am 22. September 2013 unter unvergleichlich günstigeren Startbedingungen doppelt solange, bis dann Anfang 2014 die politische Arbeit- übrigens unter nicht geringerem Interview-Vorspiel – endlich anlief.
Zeitenwende gegen den Austerity-Kurs ist unaufhaltbar
Auch nach dem Berliner Treffen von Merkel und Tsipras ist unter Berücksichtigung der vorsichtigen Statements dieser „Traumpaarung“ aus europäischer Zuchtmeisterin und sozialistischem Troika-Gegner immer noch völlig offen, ob die auf dem letzten EU-Sondergipfel vereinbarte Liste der konkretisierten Reformprojekte der Athener Regierung – zu denen auch dringliche Maßnahmen für die Ärmsten gehören – durch die Eurogruppe der Finanzminister doch noch akzeptiert wird und dadurch die zur Aufrechterhaltung der staatlichen Zahlungsfähigkeit entscheidenden Restmittel aus dem verlängerten griechischen Hilfsprogramm freigegeben werden.
Doch auch wenn Finanzminister Yanis Varoufakis mit den nachgebesserten Reformmaßnahmen nochmals in der Eurogruppe ausgebremst würde, lässt sich die Zeitenwende hin zu einem wirtschafts- und finanzpolitischen Paradigmenwandel in der EU nicht mehr aufhalten: Ausgerechnet das historisch-kulturell große, aber wirtschaftlich schwache, ja ruinierte Griechenland hat sich mit dem idealistischen Schwung einer Protestwahl gegen den Austerity-Kurs Angela Merkels gestellt und sich dadurch konzeptionell mit der Regierung des ökonomisch stärksten, ja wirtschaftspolitisch dominanten EU-Mitgliedslandes angelegt. Eine Kontroverse im David–Goliath– Format, die sich der als ökonomischer Antipode Merkels gestartete Präsident der Grande Nation, Francois Hollande, trotz vollmundiger Ankündigungen im Wahlkampf, niemals ernsthaft traute. Natürlich hat sich inzwischen aufgrund der in Südeuropa kontraproduktiven Krisenstrategie ein mächtiger politischer Druck und Sachzwang zur Kurskorrektur aufgebaut, der ja auch die Ursache der von Jean-Claude Juncker als neuem EU-Kommissionspräsidenten angestoßenen europäischen Investitionsoffensive ist. Obwohl die deutsche Bundeskanzlerin diese Idee Junckers immer noch durch argwöhnische Kommentierung begleitet, weil sie natürlich die darin versteckte Kritik an ihrem bisherigen Krisenmanagement wittert, konnte sie diese Initiative nur noch begrüßen. Zu offensichtlich ist einfach inzwischen das Scheitern einseitiger Streichorgien in Krisenländern.
Die makroökonomische Irrlehre von der „Schwäbischen Hausfrau“
Der renommierte amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman kritisiert mit der internationalen Crème seiner Zunft dieses europäische Krisenmanagement schon lange als krisenverschärfend. Die Verwechslung von Reformpolitik mit Austerity-Politik, d.h. gnadenlos ungerechten Streichmaßnahmen in südlichen Krisenländern, mag zwar die demoskopische Popularität von Bundeskanzlerin Angela Merkel als „Eurodomina“ in Deutschland massiv erhöht haben. Ökonomisch, sozial und europapolitisch war diese Verwechslung unter Verkennung aller makroökonomischen Grundkenntnisse eine Katastrophe, die Europa zum Bremsklotz der Weltkonjunktur machte und auf Dauer die EU zerreißen würde.
Sicherlich kann Sparen eine individuelle Tugend sein. Aber die als Rezept der „schwäbischen Hausfrau“ von der Bundeskanzlerin verbreitete Annahme, dass permanenter Leidensdruck durch einseitige Sparpolitik in ganzen Volkswirtschaften am Ende doch als puritanische Tugend belohnt wird, war makroökonomisch eine tragische Irrlehre. Insofern brachte Merkel sogar die individuell durchaus stimmige Logik der „schwäbischen Hausfrau“ international in Misskredit. Man spricht in den südlichen Krisenländern inzwischen von einer verlorenen Generation. Und wenn man dort die seit Beginn der einseitigen Austerity-Politik dramatisch auf bis zu 60 Prozent gestiegene Jugendarbeitslosigkeit betrachtet, ist dies keine Übertreibung, sondern traurige Realität.
Merkels strategische Zwickmühle
Angela Merkel hat sich in dem Konflikt mit der neuen griechischen Regierung trotz aller oder gerade wegen ihrer europäischen Machtfülle in eine schwierige strategische Zwickmühle manövriert: Entweder sie nutzt jetzt den in der EU offensiv von Tsipras artikulierten Widerstand gegen den bisherigen Austerity-Kurs mit machtpolitischer Flexibilität zu einer ohnehin fälligen Korrektur des europäischen Krisenmanagements. Oder sie wird persönlich für einen „Grexit“ oder die als Unfall ungewollte Variante des „Graccident“ verantwortlich. Dies wäre ein hässlicher europapolitischer Makel und eine schwere historische Verantwortlichkeit, aus der ihr keine Nebelkerzen und Tricks – wie der Verweis auf die Zuständigkeit der Eurogruppe oder die Ressortzuständigkeit ihres Finanzministers – heraushelfen. Jeder weiß, dass es gegen ihre mit Wolfgang Schäuble abgestimmte Haltung kein Votum der Eurogruppe gibt. Und niemand wird ihr auch am Ende abnehmen, dass es die unbestreitbaren Stockfehler der griechischen Newcomer waren, die eine Lösung vereitelten. Die deutsche Bundeskanzlerin hat sich während der Krise der Eurozone jahrelang offensiv und wahlkampfwirksam als omnipotente Zuchtmeisterin profiliert. Sie hat schließlich seit dem Ausbruch der Eurokrise 2010 auf einer endlosen Kette von EU-Gipfeln aktiv eine dominante Führungsrolle beim Krisenmanagement in der Eurozone wahrgenommen – und auch durch eine europaweite, ja globale Medienstrategie für sich persönlich reklamiert.
Die Mär vom gemolkenen deutschen Steuermichel
Und Berlin hat dabei zumindest in Deutschland fahrlässig die emotionalisierende Legende vom braven Steuermichel wabern lassen, der permanent von den Griechen gemolken wird. Nach neuesten Angaben des Bundesfinanzministeriums hat aber der deutsche Staat seit 2010 mit seiner Kredithilfe bisher in Wahrheit nur verdient, nämlich 360 Millionen Euro Zinseinnahmen. Dazu kommen die Milliarden an staatlichen Zinseinsparungen durch die Niedrigzinspolitik der EZB als Folge der Eurokrise. Und vor allem hat Deutschland als „Insel der Glückseligen“ in der Eurozone mit seiner Exportwirtschaft am meisten von festen Wechselkursen profitiert, während Südeuropa dadurch im Wettbewerb abgehängt wurde. Diese Fakten stehen in einem geradezu skandalösen Widerspruch zu den unappetitlichen medialen Kampagnen mit denen deutsche Steuerzahler seit Jahren aufgehetzt werden.
Eine faire Chance für Griechenland
Berlin muss jetzt der Regierung Tsipras eine faire Chance für eine sozial gerechtere Stabilisierung von Wirtschaft und Finanzen geben. Es gibt keine anderen Hoffnungsträger mehr in Athen. Die früheren politischen Partner sind durch jahrzehntelange Misswirtschaft gescheitert. Der durch die Troika umgesetzte Merkel-Kurs gab dann dem Land den Rest. Die Syriza ist jetzt die einzig unverbrauchte politische Kraft, die Griechenland noch stabilisieren kann. Sie ist nicht durch die Misswirtschaft und Finanztricks der Vorgängerregierungen belastet und auch entschlossen, die Reichsten im Land zur Finanzierung eines Neuanfangs heranzuziehen.
Wenn die Bundeskanzlerin jetzt die „Machtlose“ gibt und Tsipras scheitert, wird sie zwar die Hoffnungen und Sehnsüchte vieler Repräsentanten des etablierten europäischen Parteiensystems bedienen – allen voran die des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, den die positive Strahlwirkung einer erfolgreichen Syriza auf die linke spanische Protestbewegung Podemos aus dem Sattel heben kann.
Den durch Tsipras in Europa- auch im Falle seines Scheiterns im Gestrüpp der EU-Gremien – virulent gewordenen Trend zu einer Korrektur der Austerity-Politik wird sie damit nicht aufhalten. Und dieser Trend wird sich dann eben gegen sie über einen europapolitischen Abstieg durchsetzen.
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