Wenn doch ein gutes Gedicht genügte, um den Menschen zu helfen oder über den Frieden zu sprechen.
(frei nach Eros Ramazzotti)
Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 in Dresden geboren und starb am 29.Juli 1974 in München an Speiseröhrenkrebs. Das erste und für die meisten wohl wichtigere Datum des Kästner-Jahres 2024 liegt also gerade hinter uns. Googelt oder blättert man durch die Feuilletons der Zeitungen, hört sich durch die Podcasts oder sieht sich die Würdigungen in den Mediatheken an, muss man zwar nicht unbedingt annehmen, Kästner sei ungebrochen populär, aber er ist offenbar immer noch so bedeutend, dass die Medien dieses Datum nicht ignorieren konnten. Wichtiger ist mir eine persönliche Beobachtung, die ich in diesen Tagen machen konnte, nicht repräsentativ, eher zufällig und auf meine Altersgruppe bezogen. Einige meiner Freunde und Bekannten sprachen auf einmal, angeregt durch die Jubiläumsberichterstattung, von Kästner, erzählten von ihren Lektüren oder Filmerlebnissen, erwähnten „Kästner-Freunde“ in ihrem Bekanntenkreis. Plötzlich war Kästner aus den hinteren Kammern des Bewusstseins in den Vordergrund geraten. Ich sprach mit Menschen, die nach 1945 geboren und in den 50er oder 60er Jahren zu Lesern und Leserinnen wurden. Schon im Blick auf das Medienecho könnte man, parodistisch wie der Meister, fragen: Wer wird nicht einen Kästner loben. Aber welchen Kästner eigentlich? Für die meisten, mit denen ich gesprochen habe, ist es der Kinderbuchautor. Den ersten Emil kennt jeder, den Nachfolgeband Emil und die drei Zwillinge kaum jemand. Das liegt an der doppelten medialen Vermittlung, durch die Kästner in das Bewusstsein der Angehörigen meiner Generation getreten ist. Wer Kästner gelesen hatte, ging auch in die Verfilmungen seiner Bücher oder ersetzte die Lektüre gleich durch das Filmerlebnis. Ich gestehe: Ich habe Das fliegende Klassenzimmer niemals gelesen, aber die Verfilmung von Kurt Hoffmann (über den ich als Kind und Jugendlicher nichts wusste) aus dem Jahr 1954, erstmals gesehen irgendwann in den 60er Jahren, finde ich immer noch beeindruckend – wegen des anheimelnden Schneefalls, des glückselig-kitschigen Weihnachtsabends mit pfundschweren Apfelsinen, wegen der Figur des schönen Theodor, verkörpert vom genialen Peter Vogel, der später den ersten Kottan spielte, oder wegen Peter Kraus, der Elvis ersetzte, bis wir den richtigen hörten. Das waren Bücher und Filme für die ganze Familie. Für die Eltern, die noch im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik geboren worden waren, kamen noch die Unterhaltungsromane hinzu, die Kästner in den Anfangsjahren der Nazi-Diktatur geschrieben und in der Schweiz hat publizieren lassen, meistens im von dem Emigranten Kurt Leo Maschler gegründeten Atrium-Verlag. Der populärste davon war Drei Männer im Schnee (dieser allerdings bei Rascher, Zürich 1934). Zur Popularisierung dieser Romane trugen auch die Bücher-Clubs der frühen Jahre der Bundesrepublik bei. Ich selbst besitze eine Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von den Drei Männern im Schnee aus dem Jahr 1957. Meine Mutter war eine intensive Leserin dieses Romans. Wer weiß, wie oft sie ihn gelesen hat. Auch hier trugen die Verfilmungen entscheidend zur Popularität Kästners bei: 1954 die Verfilmung von Die verschwundene Miniatur (Regie Carl-Heinz Schroth), 1955 Drei Männer im Schnee (Kurt Hoffmann) mit dem Ideal-Schwiegersohn-Darsteller der jungen Republik, Claus Biederstaedt, als arbeitsloser Werbefachmann Dr. Fritz Hagedorn. Auf diesen beiden Bausteinen einer mehrfach gespaltenen Rezeption, Kinder- und Jugendbücher und sozialpartnerschaftlich-harmoniegezuckerte Unterhaltungsromane mit humoristischen und manchmal satirischen Einsprengseln, basiert Kästners Ruf als Volksschriftsteller.
Die Lyrik der Weimarer Republik und der Erwachsenenroman Fabian hingegen blieben trotz Neuauflagen und Verfilmungen weitgehend Germanistenlektüre. Auch auf die Literaturwissenschaft lässt sich das parodierte Lessing-Wort anwenden: Kästner wurde (in der Regel und mit Vorbehalten) geschätzt, wenig gelesen und noch weniger erforscht. Die 1975 gegründete Erich-Kästner- Gesellschaft trat erst 1999 mit einem Jahrbuch an die Öffentlichkeit. Im Jahrbuch Nr. 4 aus dem Jahr 2004 wurde vorsichtig-skeptisch gefragt, ob eine „Kästner-Renaissance“ bevorstehe. Erst jetzt, zum Kästner-Jahr, ist die Einrichtung einer Kästner-Forschungsstelle in den Räumen der Internationalen Jugendbibliothek München vorgesehen. Sven Hanuscheks Biographie zum Geburtstagsjubiläum Keiner blickt dir hinter das Gesicht ist eine erweiterte Neuausgabe seines Buches aus dem Jahr 1999. Allerdings hat die Forschung der letzten Jahre durchaus zu neuen Erkenntnissen über Kästner im „Dritten Reich“ und nach 1945 geführt (siehe Literaturverzeichnis unten). Seit einem halben Jahr gibt es zudem ein von Stefan Neuhaus herausgegebenes Kästner-Handbuch zu Leben, Werk und Wirkung, das auch digital zugänglich ist. Insofern ist es nun durchaus kein Versehen oder das Resultat schläfriger Journalisten-Routine, wenn ein Teil der Würdigungen Kästners sein politisches Engagement nach 1945 schlicht unterschlägt (Axel Springer, Sonntagsblatt, RND). Kästners Antimilitarismus und Pazifismus passen für einige nicht zur geplanten Kriegsertüchtigung in der „Zeitenwende“. Dagegen aber sprechen viele gerade deshalb von seiner neuen Aktualität. Auf seine Stimme zu hören, sei notwendiger denn je.
Die Geburt der Dichtung aus Geist und Produktionsbedingungen des Journalismus
Kästner hat sein Geburtsjahr 1899 nicht nur als individuelles, sondern als historisches Datum verstanden. Mit dem Eingangsgedicht seiner ersten Gedichtsammlung Herz auf Taille hat er seinem Jahrgang ein Denk-Mal gesetzt: Von einer „Weltgeschichte“ behelligt, die einer Schlachtbank gleicht, sind seine Altersgenossen zu früh und falsch erwachsen geworden, nur um schnellstmöglich als „Kanonenfutter“ in den Ausblutungsschlachten des Ersten Weltkrieges zu verenden. Kästner erfuhr noch die Rekrutenschinderei am eigenen Leib, vor dem Tod im Schützengraben bewahrte ihn eine Herzneurose. Da hatte Kästner den Bildungsfahrstuhl für Ärmere, das Lehrerseminar, hinter sich und Notabitur sowie Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaften, überwiegend in Leipzig, vor sich. Schon als Student schrieb er Gedichte und Feuilletons, von 1924 bis 1926 war er als Redakteur bei der Neuen Leipziger Zeitung angestellt, zuerst im Feuilleton, dann im politischen Ressort. In dieser frühen Schulung vereinigte sich Talent mit Routine. Zu dem Talent für genaues Beobachten, schnelles und klares Formulieren und Sprachwitz trat die Disziplinierung durch den journalistischen Berufsalltag, das Schreiben unter Termindruck. Beides legte den Sockel dafür, dass die ab 1927 vom nunmehr „freien“ Schriftsteller-Unternehmer in Berlin eingerichtete „kleine Versfabrik“ einen Ausstoß verzeichnete, der die Zeitgenossen in schieres Erstaunen versetzte. So erreichte er in kürzester Zeit das selbst gesetzte Lebensziel, berühmt zu werden, und wurde ein wohlhabender Mann.
Zur ökomischen Basis der Zeitungen, durch die einem Wort Walter Benjamins zufolge seine Gedichte flitzten wie Fische im Wasser, gehörte die Werbung, für die er sich als Reklamedichter zur Verfügung stellte, und eine Leserschaft, deren Kern in der wachsenden und in den Großstädten konzentrierten Schicht der Angestellten bestand. Siegfried Kracauer spricht in seiner Angestelltenstudie von 1930 von 3,5 Millionen Angestellten, darunter 1,2 Millionen Frauen. Sie finanzierten nicht nur zum großen Teil das differenzierte Pressewesen, sondern auch die Angebote der kommerziellen Populär- und Freizeitkultur in Vergnügungsparks, Sportstadien und Boxhallen, im Theater, Kabarett, Hörfunk und vor allem im Film. Das Durchschnittsgehalt eines ausgelernten Angestellten lag bei 150 Mark im Monat, so viel bezahlte Kästner an Monatsmiete für die moderne Wohnung in der Roscherstraße in Charlottenburg, die er Ende 1929 bezog. Zu Kästners wachsendem Wohlstand trug bei, dass er sich schnell die genannten Medienapparate erschloss und seine Angebote dort vermarkten konnte. Besonders lukrativ waren Theaterstücke und Drehbücher, zumal wenn es um die Verfilmung der eigenen Bücher ging.
Die Vermittlung zwischen dem hochproduktiven Solo-Unternehmer und dem verzweigten Markt der Medien lag in den Händen seiner Privatsekretärin Elfriede Mechnig, die er ab dem Oktober 1928 eingestellt hatte, zunächst für ein Gehalt von 150 Mark. Die Hobby-Pianistin aus dem Bürgertum tippte die von ihr stenographierten Texte des Dichters und war Kästners Zirkulationsagentin, die die Verteilung der Produkte an potentielle Abnehmer organisierte. Wie das funktionierte, hat sie nach Kästners Tod in einem Brief an einen unbekannten Adressaten so geschildert:
„Ich arbeite nach wie vor ca. 4 Stunden (ohne Stoppuhr), wie ich es bei Dr. K. gelernt habe, dh. alle drei bis vier Wochen geht eine Sendung an ca. 100 Zeitungen heraus. Also werden zunächst hundert Kuverts getippt, dann müssen diese Kuverts mit unterschiedlichem Text gefüllt werden, genau nach Struktur der jeweiligen Zeitung, also viele wollen keine Gedichte, andere wollen nur ganz kurze Texte, andere haben sich von Tageszeitung auf Wochenblatt umgestellt, diese müssen also bei Saisonbeiträgen früher beliefert werden als andere Ztgn. Also Frühlingsgedichte, Muttertagsgedichte, Sommergedichte, Herbstgedichte, Totensonntagsgedichte, Wintergedichte, Silvestergedichte und natürlich die dazu gehörige Prosa. Dazu seine unzähligen Kurzgeschichten, Glossen, und die Monatsgedichte, Epigramme. Kindergeschichten und Kindergedichte, ich weiß nicht, ob ich noch etwas vergessen habe.“
Lyrik für Angestellte
Aus der Schicht der Angestellten, Journalisten, Schauspieler, die Berührungszonen sowohl zum Proletariat (die Ladenmädchen, die ins Kino gehen) als auch in der Gestalt einer „Angestellten-Bohème“ (Kracauer) zur Bourgeoisie besitzt (eben Bürgerstöchter wie Elfriede Mechnig, die gestern die Tasten des Pianos anschlugen und heute die Tastatur der Lochkarten- oder Schreibmaschine bedienen), bezieht Kästner seine Stoffe, ihnen hält er in allen Varianten der Komik und Satire den (Zerr-)Spiegel vor, während er in der Darstellung der Besitzlosen (oft in der Perspektive von Dienstboten) und der Industriellen, deren Kritik sich in der Sehnsucht nach dem Mäzen auflöst, eher schwach bleibt. Zu den Verhaltensweisen dieser Schicht, die er sich mit der sachlichen Kälte eines Moralisten vornimmt, steht er durchaus in distanzierter Nähe. Kästner legte Wert auf perfekt sitzende Anzüge, eine tadellose Rasur und einen sonnengebräunten Teint. Während diese Arbeit am angenehmen Äußeren bei Angestellten als Warenästhetik zu verstehen ist, die der Verkaufbarkeit ihrer Arbeitskraft dient, und Kosmetik und Sport, der Kult der ewigen Jugend und Gesundheit, der „Existenzsorge“ entspringen, „als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden“ (Kracauer), war dies bei Kästner Selbstzweck bzw. Inszenierung eines begnadeten Womanizers, der seine Eroberungen in diesem Milieu machte und das auch nicht primär aufgrund einer stattlichen Erscheinung (Kästner war oft kleiner als seine Partnerinnen), sondern mithilfe seines Charmes, Witzes und seiner Generosität. Auch beim Tennisspiel, Kästners dritter Leidenschaft nach dem Schreiben und den Frauen, ging es ihm nie ums Gewinnen, sondern um die Freude am Spiel. Wenn es die von der germanistischen Kästner-Forschung verzweifelt gesuchte Kategorie gäbe, die die vielfältigen Facetten seines Lebens und Arbeitens auf einen einzigen Begriff bringt, der sie zusammenhält, dann könnte diese das Spiel sein. Die Differenz zur verwertbaren Selbstoptimierung mag die Schärfe seiner Beobachtungen von Verhaltensweisen erklären, die er selbst teilt.
Das Neue im Neuen ist der Eintritt nicht-proletarischer Frauen ins Berufsleben. Die Sachlichkeit und Kälte, die eine kapitalistische Arbeitswelt den Menschen abverlangt, werden anscheinend dort besonders sinnfällig, wo sie die Frauen betreffen, die das bürgerlich-männliche Klischee gerade eben noch als Spezialistinnen für Gefühle und Hüterinnen familiärer Wärme falsch gefeiert hatte. Deshalb stellt Kästner diese Kälte besonders an Frauen aus, während er die Männer oft in die Position der Registratoren der Kälte setzt. Dies ist der Posten, den Kästner selbst einnimmt. Beispielhaft kann hier das Rollengedicht Chor der Fräuleins aus seiner ersten Gedichtsammlung angeführt werden. Es beginnt mit einer lakonischen Arbeitsbeschreibung: „Wir hämmern auf die Schreibmaschinen./Das ist genau, als spielten wir Klavier./Wer Geld besitzt, braucht keines zu verdienen./Wir haben keins. Drum hämmern wir.“ Die nächsten drei Strophen, die den Mittelpunkt des Gedichts bilden, wechseln nun abrupt zum Sexualleben. Die „Fräuleins“ legen keinen Wert auf Jungfräulichkeit und Ehe und täuschen mögliche Sexualpartner gegebenenfalls darüber hinweg, dass diese keineswegs die ersten sind und nicht die letzten sein werden. Sex ist „schön“ und „außerdem gesund“ oder ist, wie bei der verlorenen Geliebten in Kästners Roman Fabian, der Juristin und Schauspielerin in spe Dr. Cornelia Battenberg, ein Mittel, um Karriere zu machen. Kästners „neue Sachlichkeit“ beschränkt sich aber nicht auf Moralistik, das leidenschaftslose Registrieren menschlichen Verhaltens, sondern ist immer auch konventionell moralisch, bisweilen romantisch aufgeladen. Das Gedicht über die „Fräuleins“ endet in gebrochener Sentimentalität: „Nur wenn wir Kinder sehn, die lustig spielen/und Bälle fangen mit Geschrei,/und weinen, wenn sie auf die Nase fielen – /dann sind wir traurig. Doch das geht vorbei.“
In diesem Punkt unterscheidet sich Kästner deutlich von den Gedichten Brechts aus dem Lesebuch für Städtebewohner (1926/27). In Brechts Rollengedicht Ich bin ein Dreck sind die Stationen der Verkommenheit und Erniedrigung zugleich Schulen des Interessen- und Selbstbewusstseins des femininen lyrischen Ichs. Die Sprecherin nimmt keinen Mann, „der nicht/Etwas für mich tat“. Entscheidend für sie ist nicht, dass der Mann sie braucht, sondern dass sie ihn in Gebrauch nimmt. Und dieser Standpunkt der Nützlichkeit für sich selbst lässt sie auch ihre Süchte überwinden, nachdem ihr ein Blick in den Spiegel den Verfall des Körpers bewusst gemacht hat. So kommt sie nach selbstdisziplinierender Askese zum Schluss: „[I]ch bin/Unvermeidlich, das Geschlecht von morgen/Bald schon kein Dreck mehr, sondern/Der harte Mörtel, aus dem/die Städte gebaut sind.“ Im schlechten Neuen, in der kühlen Kalkulation von Frauen, die im wörtlichen Sinn ihre Haut zu Markte tragen, kündigt sich eine Zukunft an, in der sich Frauen aus sentimental verklärter patriarchalischer Abhängigkeit befreit haben und selbstbewusste Gestalterinnen ihres Lebens geworden sind. Statt dieser Dialektik kennt Kästners Kulturkritik allein moralisierende Verachtung, die sich gegenüber Frauen der Bourgeoisie bis zur Gehässigkeit steigern kann. Während er dem bürgerlichen Mann in seiner Ansprache an Millionäre (1930) immerhin, wenn auch skeptisch, vis à vis einer möglicherweise drohenden Revolution die Vernunft und den Geschäftssinn zugesteht, den Armen aus Eigeninteresse zu helfen und den „Umbau der Welt“ durch lukrative Investitionen in die Infrastruktur zu organisieren, versteigt er sich gegenüber Mode versessenen Sogenannte[n] Klassefrauen aus dem oberen Bürgertum zu dem bösen Wunsch: „Wennʼs doch Mode würde, diesen Kröten/ jede Öffnung einzeln zuzulöten!/ Denn dann wären wir sie endlich los.“
Was ist das – „Gebrauchslyrik“?
Für diese Art von Gedichten, die Kästner und andere produzierten und die in Zeitungen erschienen oder in Kabaretts deklamiert bzw. gesungen wurden, kam zeitgenössisch der Begriff der „Gebrauchslyrik“ in Mode. Der Begriff sorgt bis heute bei Literaturwissenschaftlern für Irritationen. Er gewinnt Konturen, wenn man sich klar macht, wovon er abgrenzt. „Gebrauchslyrik“ steht in Opposition zu Gedichten, die von Anspielungen auf vergangene Mythologien durchsetzt sind oder von Metaphern, die nicht nur Alltagssprache verfremden, sondern „absolut“ werden. Sie sind in einem Ausmaß verrätselt, dass sie kaum noch an alltagssprachliche Bedeutungen zurückgebunden werden können und sich monologisch verschließen, zum „Selbstgespräch“ werden. Sie verweigern die Kommunikation, die als „Sozialgeräusch“ kritisiert wird, und zielen als Flaschenpost auf ferne Zeiten, in denen einigen wenigen ihre Dechiffrierung gelingen mag.
„Gebrauchslyrik“ hingegen verlangt ihren Nutzern nicht die mühselige, auf gelehrtes Wissen gestützte Arbeit des Verstehens ab, sie ist selbst bei kunstvoll ungewöhnlichen Wortkombinationen in der Regel ohne Aufwand verständlich, sie ist kommunikativ. Sie zielt nicht auf Ewigkeit, sondern auf den Augenblick. Daher steht der Begriff nicht zufällig in der Nähe zum ökonomischen des Gebrauchswerts. Der Gebrauchswert der Ware ist dahin, wenn sie verbraucht wurde, wenn der Käse gegessen oder die Messe gelesen ist. Der Rhythmus des Verbrauchens wird von den Orten bestimmt, die diese Gedichte im Angebot führen, im Kabarett ist es der Moment der Vortrages, in der Zeitung und in dem aufblühenden Format der Illustrierten sind es der Moment des Lesens, der Tag, die Woche, allenfalls der Monat. Ein späterer Lyriker von Gebrauchsmusik wird daran erinnern, dass niemand auf der Welt nach den Zeitungen von gestern verlangt. Die Verfallszeit des Mediums bestimmt die der Lyrik, die es, eingebettet in bzw. erdrückt von einem Berg vielfältiger, wichtigerer Informationen, verbreitet. Zurecht fordert Benjamin die Leser von Kästners Gedichtbänden dazu auf, sich der „ursprünglichen Erscheinungsform“ dieser Gedichte in Zeitungen bewusst zu bleiben. Damit betont der Begriff die Konsumierbarkeit dieser Dichtung. Wie so oft gilt: Zum alsbaldigen Gebrauch bestimmt. Der Begriff bleibt aber schillernd im Blick darauf, welchen Nutzen die Leserinnen und Leser aus dem Konsum dieser Waren ziehen. Während einigen Unterarten der „Gebrauchslyrik“ wie der in Verse gefassten Warenwerbung oder der politischen Lyrik, die auch für Kästner mit der Karriere des Faschismus in Deutschland zunehmend und schnell an Bedeutung gewinnt, eine eindeutige Wirkungsintention zugerechnet werden kann, changiert der „Gebrauchswert“ der üblichen „Gebrauchslyrik“ zwischen Aufklärung, Belehrung, Selbsterkenntnis, Unterhaltung und Zerstreuung oder auch Affirmation und verursacht die erwähnten Kopfschmerzen bei den gelehrten Interpreten dieser Lyrikform.
Ausgerechnet der parodistische Bezug auf Bildungsgüter der Hochkultur im Gedicht Abendlied des Kammervirtuosen aus dem Jahr 1927 führte zur sofortigen Entlassung Kästners und seines Zeichners Erich Ohser als Angestellte der Neuen Leipziger Zeitung. Das männliche lyrische Ich adressiert seine Partnerin als seine „neunte letzte Sinfonie“ und benutzt die Sprache des Musikspiels als durchsichtige Maskierung eines erotischen Liebesspiels, in dem, problematisch vielsagend, der weibliche Körper als Instrument vorgestellt wird, das der Mann kenntnisreich handhabt: „Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,/ Und lass mich zart in deine Seiten greifen.“ Das zweideutig uneigentliche Sprechen wird durch die Zeichnung Ohsers überdeutlich decodiert. Das reaktionäre lokale Konkurrenzblatt spricht von einer Tempelschändung im Beethoven-Jahr und meint damit weniger den parodistischen Bezug auf Beethoven und Händel an sich, als vielmehr die explizite Erotik des Gedichts, die den hohen Geist grob sinnlich zum handfesten Körper herunterzieht. Das Übel der Kündigung verkehrte sich indes im Umzug nach Berlin zur Wohltat. Die Entlassung wurde zum Startpunkt von Kästners Karriere als freier Schriftsteller. Der Neuen Leipziger Zeitung blieb er nach der Kündigung noch längere Zeit als freier Mitarbeiter erhalten.
Grenzen der Beschreibung. Fabian oder Der Gang vor die Hunde
Dass Kästners Beobachtungen auf den Fluchtpunkt des Allgemeinmenschlich-Moralischen zulaufen, ist auch das Resultat davon, dass sein Blick auf die Verhältnisse zwischen den Verhaltensweisen wesentlich ungenauer ist als seine Darstellung der Verhaltensweisen. Kästner spricht zwar von Millionären und Industriellen, von Kapitalismus und Armut, aber Klasseninteressen und Akteure, die diese Interessen artikulieren und formen, spielen weder in den Gedichten noch in seinem wichtigsten Roman für Erwachsene eine Rolle, dem Fabian – Die Geschichte eines Moralisten aus dem Jahr 1931, der nach Kästners Willen eigentlich Der Gang vor die Hunde hätte heißen sollen. Das gilt bereits für die berühmte Straßenkämpferszene: Die Hauptfigur, der Germanist und Werbetexter Dr. Jakob Fabian, und sein bester Freund, der großbürgerliche Universitätsmitarbeiter Dr. Stephan Labude, bringen einen Nazi und einen Kommunisten, die beide durch Pistolenschüsse verletzt sind, mit dem Taxi ins Krankenhaus. Während der aufnehmende Arzt die politischen Schießereien mit „Tanzbodenschlägereien“ gleichsetzt, bekundet Fabian gegenüber dem Kommunisten Verständnis, wenn nicht gar vorsichtige Sympathie, zweifelt aber daran, dass ein Sieg des „Proletariats“ die „Ideale der Menschheit“ werde verwirklichen können. Entscheidend aber ist, dass keiner der drei Außenstehenden, weder der Arzt noch die beiden Freunde, sich auch nur einen einzigen Gedanken über die Hintergründe der Straßenkämpfe macht. Was der Arzt für „Auswüchse des deutschen Vereinslebens“ hält, ist tatsächlich Resultat der NSDAP-Strategie seit Goebbelsʼ Übernahme der „Gauleitung“ der Organisation in Berlin Ende 1926: Die Partei sollte durch Gewaltakte zuerst bekannt gemacht werden und dann den Charakter politischer Veranstaltungen und Straßenaufzüge dadurch ändern, dass alle, die Gegenstimmen erhoben und gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der NSDAP protestierten, durch Gewaltanwendung mundtot gemacht wurden. Schließlich wurde die Stadt mit einem Netz von „Sturmlokalen“ überzogen, von denen aus die „roten Kieze“ aufgerollt werden sollten. Die Viertel sollten zu Linken freien Zonen werden. Da sich zeigte, dass die Berliner Arbeiterhochburgen relativ unempfänglich waren für die Nazi-Politik und Ideologie, konnte dies nur durch Terror erreicht werden. Die US-amerikanische Historikerin Eve Rosenhaft spricht von einer Strategie der „gewaltsamen Einschüchterung“. Das betrifft den Zeitraum, in dem Kästners Roman spielt. Die Gegengewalt der Linken bekommt dadurch den Charakter der „Selbstverteidigung“.
Bedeutsamer für den Roman sind die weltanschaulich-politischen Diskussionen zwischen Fabian und Labude. Wie ein Schachspieler, der mit und gegen sich selbst spielt, verteilt der Autor eigene Positionen auf seine beiden Protagonisten und bringt diese Ansichten durch Kritik und Skepsis in Bewegung. Labude erzählt Fabian von einem Vortrag, den er auf einer Universitätsveranstaltung zum Thema „Tradition und Sozialismus“ gehalten hat. Er habe gefordert, dass sich die bürgerliche Jugend radikalisieren und den Kontinent u.a. „durch freiwillige Kürzung des privaten Profits“ reformieren müsse. Fabian entgegnet kühl: „Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist?“ Obwohl diese Replik auch ein skeptisches Licht darauf wirft, die Welt durch eine vorgängige moralische Läuterung ihrer Bewohner besser machen zu wollen, und beide Protagonisten im Laufe der Romanhandlung den Tod finden, teilt zumindest der Erzähler letztlich Fabians moralische Orientierung. Als der arbeitslos gewordene Fabian zu seiner Mutter zurückkehrt und durch seine Heimatstadt streift, sieht er einen Jungen, der auf einem Brückengeländer balanciert und in den Fluss fällt. Fabian springt dem Jungen hinterher, will ihn retten und ertrinkt dabei, während der Junge ans Ufer schwimmt und sich selbst rettet. Der letzte Satz des Romans: „Er [Fabian] konnte nicht schwimmen“, korrespondiert mit der Teilüberschrift des letzten Kapitels: „Lernt schwimmen!“ Dieser Imperativ des „Schulmeisters“, wie sich Kästner gern selbst nannte, stellt den Primat des guten Willens nicht in Frage, sondern insistiert auf der notwenigen Fähigkeit, ihn auch realisieren zu können. Da aber der Autor und seine Hauptfigur immer wieder auch zweifeln, ob „der Mensch“ bzw. genügend viele Menschen überhaupt noch bereit sind, einen guten Willen aufzubringen, ist auch diese Position in sich brüchig, vergebliches Warten auf den „Sieg der Anständigkeit“. Es ist Kästner zugute zu halten, dass er, wenn auch stillschweigend, eine kritische Zuschreibung aus Benjamins Kritik übernimmt, die bereits vor dem Erscheinen des Romans formuliert worden ist. In seinen Vorworten zu Neuauflagen des Fabian 1946 und 1950 bekennt Kästner, dass sein Platz „der verlorene Posten“ ist.
Kästners neue Popularität: Kinderliteratur
Allerdings belässt es Kästner nicht bei einem trotzigen „Dennoch“, sondern behauptet eine schwache Realitätsanbindung seiner Utopie durch eine halb soziologische, halb anthropologische Stützkonstruktion. 1929 sprach die Herausgeberin der Weltbühne, Edith Jacobsohn, Kästner an, ob er nicht einmal ein Kinderbuch schreiben könne. Seit 1924 leitete sie mit zwei Freundinnen den Kinderbuchverlag Williams & Co. Orientiert an englischer Kinderliteratur, wünschte sie sich neue, zeitgemäße und realistische Kinderbücher. Mit Kästner hatte sie den Richtigen im Blick. Er hatte bereits manchmal als Journalist für Kinder geschrieben und mit dem Ende 1929 erscheinenden Buch Emil und die Detektive, das Kästners größter Bucherfolg werden sollte, erfand er nicht nur die Großstadt als Schauplatz von Abenteuern am hellen Tag, in der Gegenwart und in der Mitte des Alltags, sondern seine Protagonisten waren klassenübergreifend Kinder, die sich unabhängig von der Welt der Erwachsenen als kluge und kooperationsfähige (Selbst-) Helfer betätigen und bewähren. Dass damit der Kinderbuchautor Kästner geboren war, beruhte aber weniger auf einem zufälligen Impuls, sondern vielmehr darauf, dass Kästners Vorstellungen von Weltverbesserung in den Kindern die Hauptakteure sahen, dies zu bewerkstelligen. Prägnant und wiederum an einer Frauenfigur fragt das Gedicht Mathilde, aber eingerahmt: „Als kleines Mädchen gut und milde,/ mit zwanzig Jahren ein Stück Mist!/ Hast du dich je gefragt, Mathilde,/ wie es dazu gekommen ist?“ Für Kästner ist das eine rhetorische Frage, die Antwort einfach: Kinder sind deshalb die besseren Menschen, weil sie noch nicht wie die Erwachsenen von den Gesetzen der Warenwelt durchdrungen sind. Sie haben noch viel Herz und Gerechtigkeitsgefühl und wenig Ellenbogen und Gier. Der moralischen Verderbnis der Erwachsenenwelt entkommen lediglich Kästners eigene Mutter, die er meistens „Muttchen“ nannte, und Aussteiger wie der „Nichtraucher“ im Fliegenden Klassenzimmer oder der Lehrer „Justus“, also Menschen, die das Kind in sich nicht abgetötet haben und lieber spielen, als in den Konkurrenzkrieg zu ziehen. Auch Fabian bekennt, ihm fehle der Sinn für berufliches Vorwärtskommen. Blöd nur: Aus Kindern werden leider Erwachsene.
Kästner im „Dritten Reich“
So wie Kästner ein entschiedener Gegner von Militarismus und Krieg war, bekämpfte er die Nazis. Er nannte sie die „Dummheit als Volksbewegung“, sah in der Industrie die Geldgeber Hitlers und wünschte sich vom „Weihnachtsmann“, er möge doch Hitler den „Germanenhintern“ versohlen. Kästner war bei den Nazis verhasst und nach der Machteinsetzung entsprechend gefährdet. Bei der Bücherverbrennung in Berlin am 10. Mai 1933 galt ihm zusammen mit Heinrich Mann und Ernst Glaeser bereits der zweite „Feuerspruch“, der deutlich machte, dass weniger der politische Publizist im Fokus der Nazis stand als vielmehr der Sittenschilderer, dem die Identifikation mit dem Geschilderten unterstellt wurde: „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!“ Kästner befand sich unter den Zuschauern und wurde von einer leichtsinnigen Zuschauerin erkannt und laut mit seinem Namen angerufen. Trotz seiner Gefährdung wollte sich Kästner nicht zur Emigration entschließen. Er wollte seine Mutter nicht verlassen und bleiben, um als Zeitzeuge nach dem Ende des Regimes den fälligen umfassenden Roman über das „Dritte Reich“ der Nazis zu schreiben. Dazu ist es nicht gekommen.
Zu den möglichen Gründen seines Bleibens mag auch gehören, dass Kästner gut verdiente und dies alles nicht zurücklassen wollte. Er wurde zwar gleich nach der Machteinsetzung mit einem „Publikationsverbot“ belegt, konnte aber im Ausland publizieren, Tantiemen für Übersetzungen beziehen und, zeitweise mit offizieller Genehmigung, unter Pseudonym Theaterstücke und Drehbücher verfassen, wobei insbesondere seine Kontakte zur Filmindustrie, Schauspielern und Produzenten hilfreich waren. Tobias Lehmkuhl, der diese Lebensphase eingehend untersucht hat, verweist auf einen Zettel, auf dem Kästner für das Jahr 1941 Einnahmen von 31602 RM verzeichnet hat, was 2020 einem Kaufkraftäquivalent von 136000 Euro entsprochen haben soll. Noch höher waren seine Einkünfte 1942, wo ihm die Drehbücher für den Münchhausenfilm und für Der kleine Grenzverkehr allein 115000 RM einbrachten; das entsprach in etwa der Rollengage bekannter Schauspielerinnen, während Superstars wie Zarah Leander oder Hans Albers locker auf den doppelten Betrag kamen. Obwohl 1943 ein endgültiges Berufsverbot über ihn verhängt worden war, nachdem Hitler erfahren hatte, dass sich hinter dem Drehbuchautor des Münchhausenfilms „Berthold Bürger“ Kästner verbarg, konnte er mit seinem bis dahin erzielten Geldeinkommen die restlichen 28 Monaten des „Dritten Reichs“ gut überstehen. Allerdings, merkt Lehmkuhl trocken an, wurde er erst nach 1945 Millionär. Die letzten Wochen des Kriegs überstand Kästner zusammen mit einem 60-köpfigen Team bei fiktiven Filmarbeiten im österreichischen Mayrhofen, ein Coup, den sein Freund Eberhard Schmidt, Produktionsleiter bei der UFA, eingefädelt hatte.
Nach 1945
Nach 1945 wohnte Kästner in München, war bis 1948 Redakteur bei der von der amerikanischen Besatzungsmacht herausgegebenen Neuen Zeitung, gab bis 1949 die Jugendzeitschrift Pinguin heraus, schrieb fürs politische Kabarett, kümmerte sich um die (Mehrfach-)Vermarktung seiner Kinderbücher und der nach 1933 geschriebenen Unterhaltungsromane, schrieb das wenig erfolgreiche Theaterstück Die Schule der Diktatoren (1956) und die Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1957). Im selben Jahr wurde ihm der prestigeträchtige Georg-Büchner-Preis verliehen. Seit 1948 war er Präsident des deutschen, zuerst gesamtdeutschen, ab 1951 westdeutschen PEN und blieb dies bis ins Frühjahr 1962. Er hatte sich erfolgreich als Journalist und Schriftsteller reetabliert. Während er schließlich von der Gruppe 47 als Schriftsteller allmählich in die zweite Reihe verdrängt wurde, wuchsen seine Aktivitäten und sein Ruf als öffentlicher, politischer Intellektueller. Galt seine Aufmerksamkeit zuerst dem Nachleben des Faschismus in der parlamentarischen Demokratie und dem restaurativen Charakter des Adenauer-Staates, kulminierend in Reden zur Bücherverbrennung und im Kampf gegen die Wiederauflage eines Schmutz- und Schundgesetzes (1953), standen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zuerst der Kampf gegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr, ab 1960 die Ostermarschbewegung und bald auch schon das Eintreten gegen die amerikanische Kriegsführung in Vietnam im Fokus, und dies zu einer Zeit, als SPD-Mitglieder, die diese Meinung teilten, noch aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden. Den Versuchen von Günter Grass, Kästner in den Bundestagswahlkämpfen 1965 und 1969 als Unterstützer der SPD zu gewinnen, erteilte er eine Abfuhr. Seine Schmerzgrenze war mit dem Godesberger Parteitag der SPD erreicht: „[I]ch habe mein Leben lang SPD gewählt und mich immer schwarzgeärgert (bzw. rot). Seit Godesberg ist das äußerste, wozu ich fähig bin: schweigen.“ Dass er als Fellow Traveller der Kommunisten diffamiert wurde, ehrt ihn. Tatsächlich jedoch trennte ihn Wesentliches von den Kommunisten. Als ihm der Intendant der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main den Vorschlag machte, im Rahmen der PEN-Jahresversammlung 1957 ein Stück des kurz zuvor gestorbenen Brecht aufzuführen, befürwortete Kästner diese Idee, machte dann aber aufgrund des Drucks der fanatischen Kalten Krieger im Verband einen Rückzieher. Nicole Pasuchs Dissertation zu Kästners Aktivitäten nach 1945 nennt ihn einen „Bewegungsintellektuellen“, der deutlich anders, vehementer als in den Jahren 1927 bis 1933 durch Resolutionen, Appelle, offene Briefe und Kundgebungsreden Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen versuchte.
Zu den bekanntesten Epigrammen Kästners gehört die Maxime: „Es gibt nichts Gutes/außer: Man tut es.“ Sie ist die verallgemeinerte Version seines Appells „Lernt schwimmen!“ Nur wenige dürften Einspruch erheben, würde man ihn eingedenk dieser Maxime und trotz seiner Schwächen einen Guten nennen.
Literaturhinweise:
- Erich Kästner: Werke in neun Bänden. Hrsg. von Franz Josef Görtz. München: Hanser 1998
- Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Roman. Hrsg. von Sven Hanuschek. Zürich: Atrium 2013
- Walter Benjamin: Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch [1931]. In: Ders.:Gesammelte Schriften Band III. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 279-283
- Siegfried Kracauer: Die Angestellten [1930]. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1971
- Eve Rosenhaft: Links gleich rechts? Militante Straßengewalt um 1930: In: Thomas Lindenberger, Alf Lüdtke (Hrsg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 238-275
- Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München: Hanser 2024 (erweiterte Neuausgabe von 1999)
- Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich. Berlin: Rowohlt 2023
- Nicole Pasuch: Erich Kästner als Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg. Zeitdiagnosen und politische Interventionen. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2023
- Stefan Neuhaus (Hrsg.): Kästner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin, Heidelberg: J.B. Metzler (bei Springer Verlag GmbH) 2023
Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, Bild 183-R76032 / CC-BY-SA 3.0
Hallo Hans Otto Rößer,
vielleicht ist Ihnen bei der durchaus aufwendigen Recherche zu Erich Kästner meine durchaus heftig rezipierte Dissertation
nicht begegnet.
Ich wurde 1983 damit promoviert.
Ich nehme an, dass mein Buch über Fernleihe und Universitäten weiterhin ausleihbar ist – für den Fall, dass Sie sich so eine Kontroverse zumuten wollen.
Kästners Sprachtalent habe ich nie in Zweifel gezogen, und – im Hinblick auf meine Analysen seines Gesellschaftsbildes – ich war ganz froh, ihm meine deutliche Kritik nicht mehr persönlich zumuten zu müssen.
Es ist ja nie nur angenehm, mit einem Mythos gründlich aufzuräumen.
Seine Frau, Luiselotte Enderle habe ich während meiner Recherchen damals in München noch kennengelernt.
Einige Gedichte von ihm mag ich übrigens nach wie vor.
So long Marianne Bäumler
Im wdr-Hörfunk-Archiv gibt es auch noch ein 100 – Minuten-Feature von mir, aus dem Jahr 1986 (?).
Sehr geehrte Frau Bäumler,
vielen Dank für Ihren Kommentar zu meinem Kästner-Porträt. Das von mir gewählte Format folgt nur teilweise den Normen einer akademischen Abhandlung. So enthält etwa meine Einleitung autobiographische Bemerkungen zu meiner Kästner-Rezeption. Insofern hätte ich auch ganz auf Literaturhinweise verzichten können. Meine neun Hinweise sind eine Dienstleitung für die Leserinnen und Leser, die durch das Kästner-Jahr (oder vielleicht sogar durch meinen Artikel) dazu motiviert werden, sich mit Leben und Werk näher und vielleicht erneut zu beschäftigen. Die vier neueren Titel über Kästner dienen einmal dem Bedürfnis, einen Überblick über Leben und Werk auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens zu bekommen (Hanuschek, Handbuch), zum andern geben sie vertiefte Einblicke in noch wenig erforschte Phasen seines Lebens – im „Dritten Reich“ und nach 1945. Aus den beiden Neuerscheinungen von Tobias Lehmkuhl und Nicole Pasuch habe ich viel gelernt und Einiges für meinen Artikel verwenden können. Es wäre mir unredlich vorgekommen, diese beiden Referenzen nicht zu erwähnen. Meine Literaturhinweise erfüllen einen engen pragmatischen Zweck und können eine Bibliographie nicht ersetzten. Wer daran interessiert ist, findet in den genannten Werken einschlägige Hinweise.
Ihre eigene Dissertation ist zwar nicht in der Universitätsbibliothek Kassel vorhanden, aber über Fernleihe leicht zu beschaffen.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Otto Rößer