Gefängnisfluchten sind für Oppositionspolitiker ein gefundenes Fressen. Das klingt nach Skandal, Verantwortungslosigkeit und Sicherheitsgefahr – also nach all den Dingen, mit denen man die Justiz und den verantwortlichen Minister in Bedrängnis bringen kann. Natürlich gern öffentlichkeitswirksam.
Tatsächlich trägt jede Flucht aus dem Gefängnis stets ein Versagensmoment in sich. Denn es handelt sich um einen individuell gescheiterten Resozialisierungsversuch. Ob und inwiefern dies auch mit Sicherheitsmängeln zu tun hat, lässt sich jedoch nicht allgemein sagen, sondern hängt vom Einzelfall ab. Wer Gefängnisfluchten daher pauschal als Skandal wertet, liegt genauso falsch wie derjenige, der einseitig Schuldzuweisungen vornimmt – an die Gefangenen oder die Vollzugsbehörden.
Einseitige Suche nach Skandalen
Politikerinnen und Politiker tun dies trotzdem gern und nicht selten wider besseres Wissen. Das ist Kalkül und zeigt, dass das Interesse der Politik am Vollzug meist einseitig auf die Suche nach Skandalen beschränkt ist. Dabei ist es in der Regel egal, ob sich so ein Bild in der Öffentlichkeit verfestigt, wonach Gefängnisse skandalträchtige Orte und Gefangene immer auf der Flucht vor dem Gesetz sind.
Folgendes wird geflissentlich verdrängt:
- Strafvollzugsgesetze und Verfassung verpflichten die Vollzugsbehörden zur Resozialisierung
- Mit der Resozialisierung gehen gewisse Risiken einher, denn Gefangene werden nicht im Kerker bei Wasser und Brot weggesperrt
Dieses Verdrängen gehört wohl zum politischen Spiel zwischen Regierung und Opposition dazu. Dieses Spiel lässt sich ganz offensiv spielen. Das zeigte der rechtspolitische Sprecher der Berliner CDU-Fraktion, Alexander Herrmann. Als ein Gefangener von einem unbegleiteten Ausgang nicht in die JVA Tegel zurückkehrte, richtete er sich sofort mit Vorwürfen an die Justizsenatorin. Das Nachrichtenportal T-Online berichtete dazu im August 2022 unter anderem wie folgt:
„Auf Twitter legte Herrmann nach. Justizsenatorin Lena Kreck trage die Verantwortung dafür, dass ‚ein verurteilter Mörder unbegleiteten Ausgang aus dem Gefängnis erhält, obwohl er bereits in der Vergangenheit mehrfach flüchtig war!‘“
So weit, so typisch. Es geht aber auch subtiler, wie ein aktueller Fall zeigt. In Baden-Württemberg kam es, so berichtete der SWR am 6. Februar 2024, kurz hintereinander – im Dezember 2023 und im Januar 2024 – zu zwei Fluchten aus dem offenen Vollzug der JVA-Außenstelle Kislau.
Dieser jüngste Fall rief Abgeordnete der FDP auf den Plan, die mittels einer Kleinen Anfrage (Drucksache 17/6198) weitere Aufklärung forderten. Sie stellten unter anderem folgende Fragen:
„[…] Gibt es in der Außenstelle Kislau der Justizvollzugsanstalt Bruchsal Sicherheitsprobleme?
„[…] Gibt es wegen der Flucht disziplinarrechtliche Ermittlungen gegenüber Bediensteten oder Beamten der Justizvollzugsanstalt Bruchsal?“
Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Tatsache, dass Fragen gestellt wurden, ist nicht das Problem. Es liegt – wie oben bereits beschrieben – woanders. Um das deutlich zu machen, folgt zunächst ein weiteres Zitat. Es stammt von der Strafvollzugsbeauftragten der FDP-Landtagsfraktion Baden-Württemberg. Sie geht ebenfalls auf die vorgenannten Gefängnisfluchten ein. Und zwar unter anderem wie folgt:
„Ebenso werde ich nachfragen, welche Sicherheitsvorkehrungen im sogenannten ‚Offenen Vollzug‘ überhaupt bestehen.“
Sieht man sich diese Zitate genauer an, scheint hinter all dem berechtigten Aufklärungs- und Transparenzinteresse auch Skandalisierungsinteresse zu stecken – wahlweise gepaart mit Unwissenheit oder politischem Kalkül. Warum sonst hebt man im Zusammenhang mit Gefängnisfluchten aus dem offenen Vollzug so vehement auf Sicherheitsmängel („Sicherheitsprobleme“, „disziplinarrechtliche Ermittlungen gegenüber Bediensteten oder Beamten“ und „Sicherheitsvorkehrungen“) ab?
Schon bei Wikipedia ist einleitend zum Thema „offener Vollzug“ nachzulesen:
„Beim offenen Vollzug werden im Gegensatz zum geschlossenen Vollzug keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen getroffen.“
Und weiter:
„Im Idealfall heißt dies konkret: Der Gefangene verlässt morgens die Haftanstalt und begibt sich zu seinem Arbeitsplatz. Nach Beendigung der Arbeit kehrt er unverzüglich in die Anstalt zurück und bleibt dort bis zum nächsten Morgen, sofern er keinen Ausgang oder Urlaub hat.“
Das dürfte auch für Baden-Württemberg gelten. Auf der Seite des baden-württembergischen Justizministeriums heißt es:
„Ein bedeutendes Gestaltungsmittel ist der offene Vollzug in einer Justizvollzugsanstalt ohne oder mit verminderten Sicherheitsvorkehrungen.“
Keine Frage von Sicherheitsmängeln
Auch musss man sagen: Eine Gefängnisflucht ist grundsätzlich nicht strafbar. Der Strafgesetzgeber erkennt den natürlichen Freiheitsdrang des Menschen an. Damit sollen Probleme und Gefahren nicht kleingeredet werden. Aber man muss eben doch unterscheiden: Im offenen Vollzug kann es stets sein, dass der Gefangene von der Arbeit abends nicht in den Vollzug zurückkehrt. Anders als im geschlossenen Vollzug ist die Gefängnisflucht hier regelmäßig keine Frage von Sicherheitsmängeln. Man sollte also nicht alles über einen Kamm scheren. Genau darauf weist das baden-württembergische Justizministerium auch hin.
Hinzu kommt, dass nach dem baden-württembergischen Justizvollzugsgesetz der offene Vollzug die Regelvollzugsform bildet und der geschlossene Vollzug die Ausnahme ist (§ 7 Absatz 1 Satz 1 JVollzGB III: „Gefangene sollen in einer Justizvollzugsanstalt oder Abteilung des offenen Vollzugs untergebracht werden“). Der Landesgesetzgeber fordert also dazu auf, gewisse Risiken schon bei der Wahl der Vollzugsform einzugehen – eben auch die Gefahr des Entweichens.
So bleiben am Ende viele Fragezeichen: Warum und wozu diese vorwurfsvollen Fragen? Es scheint einerseits so, als gehe es der baden-württembergischen FDP weniger um Transparenz als darum, aus der Opposition heraus politische Stimmung zu machen und die Keule der Sicherheitsgefahr gegen den Vollzug zu schwingen. Andererseits ist nicht klar, ob und inwiefern die Fragenden die praktischen Unterschiede zwischen offenem und geschlossenem Vollzug – gerade in puncto Sicherheitsvorkehrungen – tatsächlich kennen. Jedenfalls die Strafvollzugsbeauftragte, die nach § 93 JVollzGB I die JVAen in Baden-Württemberg jederzeit unangemeldet besuchen und mit Gefangenen sprechen kann, sollte dazu Fachkenntnisse besitzen. Klar ist nur: So oder so steht hier ein einseitiges Interesse der Fragenden zu befürchten.