Ich erlebe das beinahe täglich. Wenn ich in Bonn-Kessenich über die Hausdorff-Straße gehe, stolpere ich -geistig- über die Stolpersteine, die an den Freitod des Mathematik-Professors Felix Hausdorff, seiner Frau Charlotte und seiner Schwägerin Edith Pappenheim, geborene Goldschmidt, am 26. Januar 1942 erinnern. Automatisch bleibe ich stehen und werfe einen Blick auf die Messing-Tafeln, die im Boden eingelassen sind. Der 73jährige international bekannte Wissenschaftler entzog sich und seine Familie mit dem Suizid der bevorstehenden Deportation in ein Konzentrationslager. Schicksale wie diese gab es in allen Städten und Flecken Deutschlands und in vielen Orten Europas. Stolpersteine, wie sie der Kölner Künstler Gunter Demnig 1992 geschaffen hat, gibt es inzwischen über 100000 in Deutschland und in anderen Teilen Europas. Sie erinnern uns an die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, denen die Nazis alles nahmen, das Leben, das Eigentum, die Namen ersetzten sie durch Nummern, um sie auszulöschen. Mit den Stolpersteinen gibt Demnig einigen Tausenden von Opfern die Namen zurück und den Nachkommen die Erinnerung an ihre Lieben.
„Jeder Stein erzählt von einem Leben“. Unter diesem Titel hat Jackie Kohnstamm die Spuren ihrer Familie aufgeschrieben, eine berührende Geschichte voller Trauer. Die in London lebende Jackie stößt bei der Recherche nach ihren verschollenen Großeltern Max und Mally Rychwalski mehr zufällig im Internet auf eine Meldung, dass für die beiden geliebten Menschen Tage zuvor Stolpersteine in Berlin verlegt worden waren. Vor dem Haus, in dem sie in Wilmersdorf, Bleibtreustraße 32, gelebt hatten. Verlegt waren die Steine am 30. 11. 2005. Jackie beschließt nach Berlin zu reisen, in die Vergangenheit. Und bei dieser Suche nach den Großeltern erfährt sie die wahre Geschichte, all das Schlimme, Furchtbare, das ihrer Familie und vor allem den Großeltern in der Nazi-Zeit zugestoßen war. Dinge, die man dem Kind Jackie verschwiegen hatte, wohl auch, um sie zu schonen. Als Leser ist man erschüttert von all den Verbrechen, die die Nazis ihnen angetan haben.
Einige wenige Zeilen zu den Personen: Max Rychwalski war Krawattenfabrikant, geboren 1878 in Tirschtiegel in der Provinz Posen, ehemals Preußen, heute Polen. Seine Ehefrau Amalie stammte aus Fürstenwalde an der Spree. Sie hatten einen Sohn und zwei Töchter. 1938 musste Max Rychwalski seine Fabrik zwangsweise auflösen, die zunehmende Gefährdung der Juden in Deutschland zwang ihn dazu, die längst nach Palästina ausgewanderten Kinder Ernst und Hilda um Hilfe bei der Emigration zu bitten. Zu spät. Am 21. August 1942 wurden Max und Amalie Rychwalski aus der Zwangsunterkunft in der Sächsischen Straße 27 nach Theresienstadt deportiert, wo wie wenige Monate später starben. Die Ghetto-Ärzte hatten bei Amalie „Magenkrebs“ diagnostiziert und „Kräfteverfall“ als Todesursache angegeben, eine perfide Umschreibung für jedwede fehlende medizinische Versorgung. Bei Max wurde als Todesursache schwere „Arteriosklerose“ genannt. Auf gut Deutsch hatten die Nazis sie einfach verrecken lassen, verhungern, verdursten. Sie wollten ja die Juden ohnehin vernichten, auslöschen, egal wie.
Die drei Kinder überlebten. Sohn Ernst, der schon kurz nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland im Januar 1933 nach Palästina ausgewandert war, starb 1987 in Israel. Tochter Charlotte konnte aus einem Internierungslager in Südfrankreich fliehen und versteckte sich mit ihrem Mann, ehe es beiden gelang, über die Pyrenäen nach Portugal zu fliehen und mit dem Schiff New York zu erreichen, wo sie 1995 starb. Die jüngste Tochter Hilda entkam nach England und starb in London 1992. Insgesamt 22 Familienangehörige der Rychwalskis wurden von den Nazis umgebracht, darüber hinaus wurden viele Freunde der Familie in der Nazi-Zeit ermordet.
In dem Buch begegnen dem Leser Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerungen der Autorin an die Eltern und Verwandten, das Leben vor und während der NS-Jahre wird geschildert. Ergreifend, lebendig, Schicksalsjahre von Millionen Menschen, die auf bestialische Art getötet wurden. Ein Buch, das man lesen sollte, damit nicht vergessen wird, was einst geschehen ist. Ein gutes Buch, aber kein leichter Lesestoff. Ein Werk, das den Sinn der Stolpersteine unterstreicht. So wie es Avi Primor, der frühere israelische Botschafter in Deutschland(1993-1999), mal erklärt hatte: „Die Stolpersteine sind das Gegenteil von Verdrängung. Sie liegen zu unseren Füßen, vor unseren Augen und zwingen uns zum Hinschauen“. Man stolpert über die Steine in dem Sinne, „dass sie uns an unsere Geschichte und die Shoa erinnern“, hat die Bonner Grünen-Oberbürgermeisterin Katja Dörner gesagt. „Stolpersteine mahnen uns, dass es unsere Verantwortung ist, dass Jüdinnen und Juden ohne Angst und sicher in unserer Stadt leben können.“ Man könnte, man muss das erweitern: Jüdinnen und Juden müssen in ganz Deutschland ohne Angst und sicher leben können. Alles andere wäre eine Schande.
Bildquelle: Stolperstein für Max Rychwalski © Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin