Vor Jahren würdigte der im Umgang mit der politischen Obrigkeit gewiss nicht pingelige Heribert Prantl, seines Zeichens Politik-Chef und Mitglied der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, die Reden des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: „mutig, sensibel, geschichtsmächtig.“ All das, so ergänzte der wortgewaltige Journalist, habe man dem früheren Außenminister und engstem Mitarbeiter des Bundeskanzlers Gerhard Schröder bei Amtsantritt nicht zugetraut. Ein Präsident, wenn das Urteil in dieser Sprache erlaubt ist, der sich gemacht, der gewonnen hat im Amt. Derselbe Prantl überschrieb einen Kommentar zu einer Rede des Staatsoberhauptes mit dem Lob: „Ein Lichtblick“. Gestern nun folgte überraschend für nicht wenige ein Verriss bei T-Online, aufgespießt von Uwe Vorkötter, Herausgeber von „Horizont“, einem Fachmedium für Marketing und Werbung, früher Chefredakteur der angesehenen Blätter „Stuttgarter Zeitung“, „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“. Man sollte also eigentlich Qualitätsjournalismus erwarten dürfen. Aber das trifft es nicht so ganz. Unter dem Titel „Gehemmt und gelähmt“ beschrieb Vorkötter den „stillen Präsidenten“, der „viel redet- und doch wenig zu sagen hat.“ Die, wie es in einer Art Vorwort relativierend hieß, „subjektive Sicht“ des Autors. Das ist sie auch, aber sie ist auch ein knallharter Verriss, stark überzogen und unfair. Das zeigt schon der Vergleich mit Herzog, Wulff und Gauck, die nach Meinung des Autors Botschaften gesetzt hätten. Ausgerechnet im Fall Wulff, der dann kläglich abdankte. Und dies nicht nur, weil er ein Opfer einer Medien-Kampagne war.
Wie eine kritische Würdigung ohne Crosscheck oder Stürmerfoul aussieht, zeigte Prantl schon vor knapp 4 Jahren. Am Wochenende des 29. Februar 2020 schrieb er ein Stück über Frank-Walter Steinmeier. Titel: „Ein Präsident.“ Prantl vergaß bei der Beschreibung des Weges des SPD-Politikers ins Berliner Schloss Bellevue nicht die Fehler, die Steinmeier gemacht habe. Als Chef des Kanzleramtes war er Architekt von Hartz IV, was zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat.“ Er war „verwickelt in das Elend des deutschen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz, der von den USA unschuldig gefangen gehalten wurde.“ Steinmeier habe, so Prantl, „Höhen, Tiefen und Irrwege eines Politikers durchlaufen.“ All das muss gesagt werden, um ein faires Urteil über einen Präsidenten zu fällen, der ja auch nur ein Mensch ist. Und als solcher nicht gefeit gegen Fehler. Jeder Mensch kann sich irren.
Den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wollten sicher nicht alle. Im Grunde war es die politische Raffinesse von Sigmar Gabriel, die Angela Merkel mit dem Personalvorschlag Steinmeier für das höchste Amt damals schachmach setzte. Sie musste quasi zustimmen. Andere wollten damals unbedingt eine Frau fürs höchste Amt, am liebsten die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, die Vizepräsidentin des Bundestages. Dass die Präsidenten-Frage immer auch eine Frage der Macht war, vergaßen die Kolleginnen und Kollegen in manchen Redaktionen von Hamburg bis Berlin und München. Sie wollten sie im Grunde ins Amt schreiben, vergeblich, wie die Geschichte zeigte. Und als es trotz allem der Sozialdemokrat Steinmeier wurde, den man als ziemlich kalten Bürokraten beschrieben hatte, hielt sich die Begeisterung für den neuen Mann im Schloss in engen Grenzen.
Man verzieh ihm lange nicht die Nähe zu Schröder und zu dessen Russland-Politik, womit im Falle des Kanzlers die Freundschaft mit dem Präsidenten Putin gemeint ist. Und als dieser Putin- er war kein lupenreiner Demokrat, das hatte auch Schröder so nie gemeint- die Ukraine überfiel, empörte sich die westliche Welt über den Kreml-Herrscher und dessen Krieg. Es folgten Sanktionen. Man ging auf Distanz zu Putin, der die Welt angeblich über seine wahren Absichten getäuscht hatte, hieß es. Einräumen muss man, müssen wir alle, Politiker wie Journalisten, dass wir die Augen verschlossen hatten, die tschetschenischen Kriege vergaßen, die Vernichtung von Grosny. Und selbst im Falle der Krim, die er einfach besetzen ließ, schauten wir großzügig über diesen mehr als Rechtsbruch hinweg. Das russische Gas war ja so billig, die militärische Verteidigung überflüssig, wir sparten Geld, viel Geld für andere Dinge, die Wehrpflicht wurde ausgesetzt. Der ewige Friede schien ausgebrochen. Alle Welt schwärmte von der Friedensdividende. Erinnert sich noch jemand an die standing Ovations für Wladimir Putin, als der 2001 im Bundestag in Berlin redete, daran, wie sich das Plenum erhob zu Ehren des russischen Präsidenten? Alle standen auf, Beifall des ganzen Hauses.
Heute will es keiner gewesen sein. Alle waren schon immer gegen Putin. Man frage doch mal Edmund Stoiber, den früheren bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef? Frank-Walter Steinmeier wusste um seine Vergangenheit, die Fehler, die damals gemacht wurden, weil man Putin glaubte. Nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine steckte er Kritik ein, zögerte, ehe er öffentlich den Irrweg eingestand und sich entschuldigte. Was hätte er zusätzlich tun sollen?
„Heute wird Steinmeiers Russland-Politik noch von Alice Weidel und Sahra Wagenknecht vertreten.“
Das ist dann schon fast boshafte Kritik Vorkötters, auch wenn der Autor nachschiebt, dass der sich selber korrigiert habe. „Aber eine Politik, die sich als grundlegend falsch erwiesen hat, und sei es nachträglich, wird man nicht einfach los. Die Fehlentscheidungen der Vergangenheit werfen dunkle Schatten auf seine zweite Amtszeit.“ Das klingt nicht nur selbstgerecht, es ist es auch. Und das aus dem Mund des Herausgebers eines Marketing- und Werbemediums, in dem Unternehmen mit ebenfalls erheblich dunklen Schatten, nehmen wir z.B. nur Volkswagen, gelobhuddelt werden, als hätte es den gigantischen Dieselbetrug nie gegeben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Die Politik verliert an Vertrauen, der gesellschaftliche Dialog ist vergiftet, das Land ist in keinem guten Zustand. Jetzt müsste der Bundespräsident seine Stimme erheben. So lese ich bei T-Online und den Zusatz: „Aber Frank-Walter Steinmeier hat nicht viel zu sagen“. Das ist offenkundig falsch: Der Bundespräsident warnt seit Monaten vor den Rechtsextremisten, erklärt immer wieder, die Demokratie sei kein Selbstläufer. Sie brauche Demokraten, die sie verteidigen. Wenn er es gute mache, stellt Vorkötter fest, „ist der Bundespräsident eine Autorität, eine Instanz. Steinmeier ist das nicht.“ So geht der Verriss eines Bundespräsidenten weiter, der immer nur „einerseits, andererseits“ rede.
Steinmeier habe den Weg nach oben geschafft, mit Intelligenz, Fleiß, Ausdauer, auch mit Fortune. Eine Erfolgsgeschichte, aber der Mensch Steinmeier und seine Geschichte seien längst nicht mehr erkennbar. „Er gibt nur noch den Amtsträger.“ Ein Präsident im Outfit wie ein Panzer, der Anhänger des FC Schalke 04 sei, von dem man aber nicht erwarten dürfe, „dass der Fan Steinmeier mal den S04-Hoodie überstreift und am Samstagnachmittag in Gelsenkirchen auf der Tribüne sitzt- erst recht jetzt, wo es seinem Team so schlecht geht.“
Wie anders klingen die Worte von Heribert Prantl: „Da spricht ein demokratischer Patriot, niemals laut und auftrumpfend, aber gehaltvoll und geschichtsbewusst….Steinmeier redet mit Sätzen des nachhaltigen Entsetzens, mit hoher Sensibilität für die Opfer, auch in deren Sprache, über deutsche NS-Verbrechen: Im August 2010 hat er das in Italien getan, im toskanischen Fivizzano, zur Erinnerung an ein SS-Massaker; im September 2019 in der polnischen Kleinstadt Wielun, zum Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs; im Januar 2020 in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. „Der Opfer gedenken, die Demokratie verteidigen. Das ist sein Credo. Und mit diesem Credo trat er in Dresden, beim 75. Jahrestag des Bombardements der Alliierten, den Versuchen von rechts außen entgegen, den Feuersturm nationalistisch zu instrumentalisieren.“
Er hat in seinen Reden mehrfach betont, es müsse gehandelt werden, wenn die Würde des anderen verletzt werde. Das ist nach Artikel 1 des Grundgesetzes, dessen 75jähriges Bestehen wir in wenigen Wochen feiern. Die Menschen gehen längst zu Tausenden und Abertausenden auf die Straße und feiern unsere Demokratie mit allen Freiheiten, die wir genießen. Man muss dagegen angehen, wenn Hass um sich greift. Hass der Feinde der Verfassung. Minderheiten stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes, wir, die Zivilbevölkerung nehmen sie in Schutz gegen Angriffe von Rechts. Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu Deutschland, sie sind ein Teil von uns.
Eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung hat gerade vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass das Vertrauen der Menschen in die Politik sinkt. Das hat mit der enormen Dynamik des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels zu tun. Die Politik findet oft nicht schnell genug Antworten, die die Menschen beruhigen und zudem nichts kosten. Und es hat damit zu tun, dass wir erleben, wie sich Grenzen des „Sagbaren“ immer mehr verschieben. Das ist der furchtbare Nährboden für Rechtspopulisten und Rechtsextremisten. Es ist aber auch in Teilen ein Medienversagen. Zum einen eine erstaunliche Hilflosigkeit gegenüber Rechtsextremismus a la AfD, aber auch ein Einschwenken auf die rüden Töne der „Social Media“. Es fehlt oft an Respekt. Ein Thema, dass ein viel gescholtener Sozialdemokrat zum Wahlkampthema erhob. Leider nicht so erfolgreich, wie es unsere Gesellschaft bräuchte. Das Medium Horizont gehört zum dfv Verlag. Der bedient viele Branchen mit Fachpublikationen. Auch die Agrarwirtschaft. Vielleicht wurde Vorkötter dann doch zu sehr von den neuen Aktionsweisen der Bauern inspiriert und hat einfach mit einem zu großen Trecker das Thema bearbeitet. Oder es waren noch ein paar alte Rechnungen offen.
Der heutige Bundespräsident ist weder Papa Heuss, noch Gustav Heinemann, auch nicht Richard von Weizsäcker. Er ist Frank-Walter Steinmeier. Punkt. Respekt haben Person und Amt allemal verdient. Bashing gehört keinesfalls in den journalistischen Methodenkasten!
Bildquelle: Bundesregierung/Steffen Kugler