„Nie wieder“ schworen sich die ehrenhaften Männer des Verfassungskonvents auf der Insel Herrenchiemsee 1948, als Deutschland nach dem Ende der Nazi-Zeit moralisch und wirtschaftlich am Boden lag, nie wieder dürfe es eine nationalsozialistische Diktatur geben, ohne Freiheit des Menschen, gerichtet gegen Juden und gegen alle, die anderer Meinung waren und nichtarisch. Nie wieder dürfe Deutschland so tief sinken wie einst, als die braunen Herrenmenschen über Menschen in weiten Teilen Europas herrschten und Menschenrechte abschafften. Und so legten sich die Männer auf Herrenchiemsee fest auf das, was später in Artikel 1 des Grundgesetzes das Fundament des Zusammenlebens in der Bundesrepublik werden sollte: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Heute berufen sich Millionen Menschen in Deutschland auf das Grundgesetz, die Würde des Menschen. „Nie wieder“ dürfe es einen solchen Rückfall in die Barbarei geben. Und weil das Fundament des Staates Deutschland in Gefahr geraten ist durch die rechtsextreme AfD, gehen sie auf die Straße und demonstrieren für die Freiheit und die Würde des Menschen. Nicht weit vom Schloss Herrenchiemsee, eine Viertelstunde mit dem Dampfer ab Anlegestelle, liegt der Ort Prien malerisch am größten See Bayerns, mit Blick auf die Kampenwand. Gut 10000 Einwohner zählt der Markt Prien. Und auch hier protestieren sie gegen die neuen Braunen, die AfD, für Demokratie und Vielfalt, gegen Ausgrenzung. „Prien bleibt bunt“ heißt das Bündnis, in dem sich die Demokraten der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben. Gegen Hass und Hetze ziehen sie eine Brandmauer gegen die Nazis, die diesen demokratischen Staat zerstören wollen. Über 500 Demonstranten trafen sich am Wochenende am Wendelsteinplatz, um Flagge zu zeigen. Haltung und Anstand sind gefragt.
Ja, es ist nicht weit von Herrenchiemsee bis nach Prien, die Luftlinie mag drei bis vier Kilometer lang sein. Im Schloss wird die beratende Arbeit des Verfassungskonvents in einer Ausstellung gezeigt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht da geschrieben über allem. Die Würde des Menschen, nicht des Deutschen, nicht des Moslems, des Christen, sondern des Menschen. Das war die Linie der Männer um den Sozialdemokraten Carlo Schmid, kein Hass, keine Fremdenfeindlichkeit, Toleranz gegenüber Behinderten, Minderheiten, Ausländern. Aber, so betonte der Staatsrechtler Professor Carlo Schmid in seiner Rede im Parlamentarischen Rat 1948: „Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft…Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
An diesem Mut zur Intoleranz scheint es zu fehlen, wir sind zu tolerant, wenn wir zulassen, dass führende Vertreter der AfD, die im Bundestag sitzt, im Europa-Parlament und in fast allen Landtagen, die deutsche Erinnerungskultur um 180 Grad drehen, den Holocaust als „Vogelschíss“ kleinreden, die stolz sein wollen auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen und dabei die Verbrechen der Wehrmacht in den Vernichtungskriegen gegen Polen und die Völker der Sowjetunion unterschlagen, zum Beispiel aus der Ukraine. Das „Nie wieder“ findet sich in der Ausstellung auf Herrenchiemsee neben einem Foto von den Bahn-Gleisen, die zur Rampe des Vernichtungs-KZ Auschwitz führten. „Nie wieder“ darf es eine Verfolgung und Ermordung von Millionen Juden durch Deutsche geben. Und diese AfD schickt sich an, bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stärkste Partei zu werden, sie könnte sogar einen Ministerpräsidenten stellen.
Das „Wehret den Anfängen“ ist im Grunde schon zu spät, wir sind ja mittendrin, denn die Rechtsextremisten sitzen längst in den Parlamenten und verhöhnen die Politiker der anderen Parteien, sie verhöhnen unser politisches System, das im Grundgesetz festgelegt ist. Und machen wir uns nichts vor, so lauten auch die Warnungen und Mahnungen der Menschen in Prien und anderswo: die AfD wird gewählt, weil sie rechtsradikal ist, weil sie völkisches Gedankengut verbreitet, von Umvolkung palavert, Deutschland den Deutschen fordert, Ausländer raus das Wort redet.
Gegen die AfD stehen die Menschen auf auch in Prien und demonstrieren für die Unantastbarkeit und Uneinschränkbarkeit der Menschenwürde. Für diesen Artikel 1 des Grundgesetzes werden sie laut. Weil sie gegen Pläne der Rechtsextremisten aufstehen, die migrantische Menschen aus Deutschland vertreiben wollen. Die Rechten umschreiben das mit „Remigration“, was nichts anderes heißt als Deportation, als Ausländer raus. Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit ausländischen Wurzeln wären davon betroffen. Menschenverachtend nenne ich solche Pläne, dumm sind sie obendrein, weil vieles im Lande ohne unsere Nachbarn mit Migrationshintergrund gar nicht funktionieren würde. Ohne die Ärztinnen und Ärzte, die Ingenieure, die Facharbeiter, deren Eltern einst als Gastarbeiter zu uns kamen, die hier blieben, unser Land und unsere Gesellschaft und unser Leben vielfältiger machten, bunter, liebens- und lebenswert. Die Priener Zivilgesellschaft demonstriert mit Plakaten, was sie von der AfD hält. Nichts.
Es protestieren Familien mit Kleinkindern, Jugendliche neben Rentnern, „Omas gegen Rechts“ heißt es auf Plakaten. Und sie zeigen und rufen: „Wir sind viele“. Der Redner in Prien zitierte den SZ-Kolumnisten Heribert Prantl, der in seiner Kolumne der „Süddeutschen Zeitung“ es als „unterlassene Hilfeleistung“, ja sogar als „eine Art Hochverrat durch Unterlassen“ bezeichnet hatte, wenn man nicht jetzt in einer Zeit „höchster Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat“ den Verfassungsfeinden „mit den Mitteln des Grundgesetzes das Licht ausblasen“ werde. Und zwar jetzt, zur Feier des 75. jährigen Bestehens des Grundgesetzes.
Einer der Initiatoren des Treffens Rechtsradikaler, Identitärer, Mitglieder der AfD, einzelner CDU-Mitglieder in Potsdam war Gernot Mörig, der angeblich in Prien seinen Wohnsitz hat. „Das hat uns gezeigt, dass Rechtsextremismus auch vor Ort ein Thema ist“, sagt Detlef Dobersalske. Prien ist bunt, aber Nazis gab es auch im Chiemgau. Man denke an das Grab für Hitlers einstigen Generaloberst Alfred Jodl auf der Fraueninsel. Dort sind zwar nur Jodls Ehefrauen beigesetzt, denn Jodl wurde als Kriegsverbrecher in den Nürnberger Prozessen zum Tod durch den Strang verurteilt, seine Asche von alliierten Soldaten in einem Seitenarm der Isar verstreut. Seit Jahren gab es Streit darüber, dass auf dem Grabstein sein militärischer Rang stand wie auch seine Geburts- und Sterbedaten. Der Grabstein ist inzwischen durch eine Pflanze fast ganz verdeckt.
Die schweigende Mehrheit schweigt nicht mehr, sie ist laut geworden, sie will das nicht mehr hinnehmen, was die AfD da mit diesem Staat machen will, ihn nämlich in seiner jetzigen Form umzubringen. Die Remigrationspläne der Rechtsextremisten haben die Zivilgesellschaft aufgerüttelt, Millionen sind aufgestanden. Sie wollen nicht, dass dieses Land zurückgeworfen wird in eine Lage, aus der man 1948 glaubte, sich endlich und für immer befreit zu haben. Nie wieder. Nie wieder ist jetzt. Rufen sie in auch in Prien. „Wir sind entschlossen“, ruft Detlef Dobersalske vom Bündnis „Prien bleibt bunt“, „laut und aktiv zu werden: für eine offene, demokratische und plurale, solidarische Gesellschaft.“ Da steht der evangelische Pfarrer Mirko Hoppe und wirbt für mehr Vielfalt und Menschlichkeit, für eine Willkommensgesellschaft und nennt es unerträglich, wenn Rechtsextremisten dieses Land mit ihrer Ideologie wieder kaputt machen wollten. Da bekennt Anita vom Priener Bündnis Farbe für die Demokratie und gegen den braunen Spuk. Da erntet der Priener Bürgermeister Buh-Rufe, weil Detlef Dobersalske erzählt, dass er den Bürgermeister eingeladen habe zur Demonstration, der aber abgelehnt habe mit der Begründung, er müsse neutral bleiben. Als wenn man bei diesem Thema, das alle angeht, neutral bleiben könne. Selbstbestimmung, Humanität, Menschenrechte für alle, gegen Menschenfeindlichkeit, da kann man doch nicht neutral bleiben.
Prien bleibt bunt. Und lehnt sich auf gegen den Faschismus. Gegen Geschichtsvergessenheit. Für Zusammenhalt gegen rassistische Spaltung. Hier ist kein Platz für Rechtsextremismus und für Rassisten. Und weil das so ist und die Gefahr groß ist für die deutsche Demokratie, muss gehandelt werden. Noch einmal Heribert Prantl, der Jurist und Journalist, in seiner Kolumne. „Es müssen beim Bundesverfassungsgericht Parteiverbotsanträge nach Artikel 21 GG gegen die AfD gestellt werden: es müssen dort auch Anträge gestellt werden, gegen Neonazis wie Björn Höcke politische Aktionsverbote gemäß Artikel 18 GG zu verhängen, ihnen also die Wählbarkeit abzuerkennen.“ Derlei Anträge können, müssen(Prantl) von der Bundesregierung, vom Bundestag oder vom Bundesrat in Karlsruhe gestellt werden. Wörtlich stellt Prantl fest: „Es ist dies nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.“
Wie es Carlo Schmid 1948 schon gesagt hatte. Keine Toleranz gegenüber den Feinden des Staates, sondern mit den Mitteln der Verfassung die Demokratie jetzt stärken. „Das ist gelebter Verfassungspatriotismus“.(Prantl)
Bildquelle Titelbild und Protestplakat im Text: Günther Freund