Zuerst waren Zehntausende auf Deutschlands Straßen unterwegs, dann Hunderttausende, um deutlich zu machen, dass sie mit dem nicht einverstanden sind, was eine rechtsextreme Minderheit um die AfD aus Deutschland machen wollen. Nämlich ein anderes Land und klar ist doch längst geworden, dass die Höckes und Weidels nicht das festschreiben wollen, was wir so schützen und lieben in unserem Land: Freiheit, ja auch Gleichheit, Toleranz, die Würde des Menschen, also auch der Zeitgenossen mit Migrationshintergrund, überhaupt aller Menschen. Es mag manches nicht in Ordnung sein in dieser Republik, aber das zu verändern und zu verbessern im Rahmen unserer bestehenden demokratischen Ordnung, überlasse ich lieber den „Altparteien“, wie die AfD die CDU, CSU, die SPD, die FDP und die Grünen abschätzig nennen. Ich will keinen Höcke als Ministerpräsidenten, keine Weidel als Kanzlerin oder Ministerin. Bei aller berechtigten Kritik: Olaf Scholz ist mir lieber. Und wer den nicht mag, kann ja bei der nächsten Gelegenheit dafür sorgen, dass Friedrich Merz Kanzler wird, oder Hendrik Wüst oder Daniel Günther. Es gibt genügend Alternativen, die Leute von der AfD sind es nicht, die wollen einen anderen Staat.
Ich nehme das ernst, wenn eine wie Margot Friedländer, Überlebende des Holocaust, heute mit großer Sorge bekennt: „So hat es damals auch angefangen.“ Damals 1930 und so weiter. Ich nehme das Ernst, wenn der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, Angst hat vor einer Machtübernahme der AfD. Wer heute Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland vertreiben will, deportieren nach Nordafrika oder wohin auch immer, dem traue ich auch zu, dass er andere Minderheiten rausschmeißen will. Wer will es Josef Schuster und anderen hier lebenden Jüdinnen und Juden verdenken, wenn sie auf gepackten Koffern sitzen? Um im Notfall möglichst schnell rauszukommen aus dem Land. So weit sind wir noch nicht. Ja, ich weiß. Aber irgendwo fängt es an. Und es hat angefangen.
Tausende gehen auf die Straße, in Essen, Dortmund, Bochum, Hannover, Hamburg, Dresden, Zwickau, Halle an der Saale, in Pirna, München, Koblenz, Bonn, Köln, Berlin, um laut zu werden, dass es ihnen reicht, was die AfD und Konsorten planen. Sie werden laut, und das ist gut so. Damit die anderen hören, dass wir uns das nicht gefallen lassen, das mit den Deportationen, dem Umgang mit Minderheiten, die Pöbeleien in den Parlamenten, die immer schlimmer werden und die ihren Ausgangspunkt in einer Partei haben: der AfD. Vergleiche hinken, ich weiß. Aber das kennt man aus der Geschichte, dass Provokationen, Regelverstöße zur Strategie der Nazis gehörten. Gerade so, wie sie heute von den Gaulands und Höckes mit Hohn und Verachtung gesagt werden. Das mit dem Vogelschiss kam aus dem Mund von Gauland, das mit der Schande für Deutschland von Höcke, womit er das Mahnmal für die sechs Millionen ermordeten Juden am Brandenburger Tor in Berlin meinte. Eine Ungeheuerlichkeit, beides. Moralisch verwerflich, wenn man eine Moral hat, unanständig, wenn man weiß, was Anstand ist.
Angestrebte Radikalität
Es kommt doch nicht von ungefähr, dass der Bundespräsident seit Jahr und Tag dazu auffordert, mahnt und warnt, die Demokratie in Deutschland sei kein Selbstläufer, keine Selbstverständlichkeit, sondern sie brauche Demokraten, die diese, wenn es darauf ankommt, verteidigen. Und jetzt kommt es darauf an. Bis jetzt war alles nur Spiel, der Ernstfall könnte im Herbst passieren, wenn bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, die AfD stärkste Partei wird, wenn jeder Dritte bei diesen Wahlen einer Partei seine Stimme gibt, die nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes „gesichert rechtsextremistisch“ ist. Wenn das so kommt, wird dieses Land ein anderes sein, weil dann die Demokratie, auf die wir uns so viel einbilden und die wir als so gefestigt gehalten haben, beschädigt sein wird. Die Gesellschaft wird gespalten sein. Das wird dann kein Vogelschiss mehr sein, um es in der Sprache der AfD-Granden zu formulieren. Das würde dann passen mit der von diesen Leuten, Identitären und Neonazis angestrebten Radikalität, die es anzufachen gilt. Man hat es ja gerade ausprobiert mit den Protesten der Bauern, die man locker unterwandern konnte, auch wenn die sich dagegen wehrten. Das so entstandene Bild spiegelte die Systemverachtung jener Leute wider.
Um das klar zu sagen: Die schweigende Mehrheit hat viel zu lange geschwiegen, tatenlos zugesehen, was da alles passierte, man ließ es geschehen, kopfschüttelnd. Weil ja unser System als stabil gilt, gefestigt über bald 75 Jahre, wenn ich die Verabschiedung des Grundgesetzes als Datum nehme. Und es stimmt ja weiter, dass der Rechtsstaat in Kraft ist, da mögen die Identitären und andere Querdenker anderes behaupten. Es gilt die Stärke des Rechts in dieser Republik und nicht das Recht des Stärkeren. Aber wer sich umhört in der Welt, die Abendnachrichten sieht, kann nicht verschweigen, dass da einiges ins Rutschen gekommen ist, dass die Faschisten in Italien wieder dran sind, moderat zwar zunächst, aber sie haben schon damit begonnen, die demokratischen Regeln außer Kraft zu setzen. Warten wir mal ab, was sie aus der unabhängigen Justiz machen, was aus der Pressefreiheit wird. In Polen hat es zum Glück einen Regierungswechsel gegeben, da will man zum Rechtsstaat zurück, doch die Wahlverlierer geben sich so leicht nicht geschlagen. Aber das kennen wir ja von Trump in Amerika, der immer noch nicht seine Wahlniederlage anerkennt und der im Herbst erneut antritt, um Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Und der, käme es so, die Welt verändern würde. Nach seinem Motto: Ich, Trump, zuerst, dann Amerika, der Rest ist mir egal.
Das ist nicht weit weg, das geht uns an. Sehr sogar. Zumal in Frankreich die Nationalisten auf dem Vormarsch sind wie in den Niederlanden, auch im einst seligen Skandinavien verändern sich die Zeiten, von Ungarn nicht zu reden. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine findet kein Ende, im Nahen Osten ist Krieg, China greift irgendwann nach Taiwan. Um nur einige Beispiele zu nennen, die die Welt in Unruhe versetzen, wenn nicht mehr.
Haltung und Zivilcourage
Nein, wir leben nicht auf einer Insel. Wie umgehen mit der AfD? Mit ihnen reden? Den Dialog zu suchen? Das hätten die gern, damit sie salonfähig werden und ihre irrsinnigen Ideen dazu. Haltung zeigen, Zivilcourage, nicht zurückweichen. Der Bundeskanzler ist zur Zeit nicht sehr beliebt, seine Gegner werden sagen, selber schuld. Mag sein, seine Sympathiewerte und die seiner Partei, der SPD, sind im Keller. Noch nie sei ein Regierungschef so unbeliebt gewesen, sagen die Umfrage-Experten. Und doch stößt es bei mir auf, wenn berichtet wird, bei der Trauerfeier für Franz Beckenbauer in der Münchner Allianz-Arena habe man Scholz gebeten, nicht zu reden. Wohl weil man nicht riskieren wollte, dass er ,wie kürzlich geschehen beim Handball-Spiel der deutschen Mannschaft in Berlin, ausgepfiffen wurde. So weit sind wir, dass die Radikalen bestimmen, wer redet und wer nicht. Immerhin zeigte das Fernsehen Bilder, wie Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeneß Olaf Scholz freundlich begrüßte.
Hunderttausende demonstrieren für die Demokratie, gegen die AfD. Da heißt es: Klare Kante gegen Rechts. Wir verteidigen die Demokratie, Nie wieder ist jetzt. Das neue Braun ist blau. Gemeinsam gegen die AfD. Wir haben keinen Bock auf Höcke. AfD stoppen. Gegen Ausgrenzung, Hass und Hetze. Da sind Junge und Alte unterwegs, Familien mit Kindern, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund. Man kann sagen: Deutschland steht auf gegen Rechts. Ist aufgewacht. Es dämmert den Menschen, dass es Zeit ist, Flagge zu zeigen für die Demokratie, ja diese zu feiern und diese zu leben. Mit und wegen all ihrer Vorteile, ihrer Menschlichkeit.
Wir müssen der AfD entgegentreten, wenn sie Demokraten beleidigt. Es ist schon ein paar Jahre her, als der AfD-Mann Stefan Räpple im Stuttgarter Landtag vom FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke attackiert wurde. Die AfD hatte die SPD im baden-württembergischen Landtag als „rote Terroristen“ beschimpft, worauf der Liberale ans Redner-Pult eilte und betonte: „Ich bin weiß Gott nicht immer einer Meinung mit der SPD. Aber wenn Sie mal 80 Jahre in unserer Geschichte zurückdenken, dann saßen die Vorgänger dieser Abgeordneten(gemeint der SPD) damals in Konzentrationslagern, weil sie gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers gestimmt hatten, während die geistigen Vorläufer von Leuten wie Herrn Räpple im Stechschritt durchs Brandenburger Tor marschierten.“ Ich erinnere deshalb an diesen Vorfall aus dem Jahre 2018, weil Björn Höcke in diesen Tagen bewusst mit historischen Vergleichen Regelverstöße provozierte und für Empörung sorgte. So verglich er eine Demonstration gegen Rechtsextremismus in Leipzig mit Fackelaufmärschen der Nazis. Wörtlich sagte er: „Man hat zwar Taschenlampen, also Handyleuchten in den Himmel gehalten, aber es sah ein bisschen aus wie 1933 der Fackelaufmarsch der Nazis.“ Und laut der Bild-Zeitung erklärte der thüringische AfD-Chef weiter: „Deutschland ist im Jahre 2024 keine funktionierende Demokratie mehr“. Die „Kartellparteien, vor allem SPD und Grüne“ hätten eine „Straßenkämpfertruppe zusammengebaut“, So verdreht der gelernte Geschichtslehrer Höcke Geschichte. Straßenkämpfer, das waren die SA-Schlägertruppen der Nazis damals.
Ernsthafte Bedrohungen
Hunderttausende stehen auf gegen die Nazis. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, findet das gut. „Ich bin wirklich erfreut, dass die Mitte der Gesellschaft aufsteht“. Ich kann ihn gut verstehen, es wurde Zeit, dass sich was regt im Lande, dass die Neonazis nicht meinen, sie wären das Volk. Der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, war ebenso erleichtert, hatte er doch seit längerem vor den Rechtsextremisten und der von ihnen ausgehenden Gefahr gewarnt. Dass die Mehrheit der Bevölkerung, die Zivilgesellschaft von Sylt bis München und von Aachen bis Görlitz demonstriert und Position bezieht gegen Extremismus und Antisemitismus, hat ihn gefreut. Endlich! Denn dass der Antisemitismus keinen Platz in unserer Gesellschaft habe, wie manche Politiker in ihren Sonntagsreden erklärten, waren mehr Sprüche, die vielleicht ihren Wünschen entsprachen, aber nicht der Realität. „Man hat nicht hinreichend wahrgenommen“, so Haldenwang, „wie ernsthaft die Bedrohungen für die Demokratie inzwischen geworden waren.“
Wir müssen aufpassen. Das hat der Zwischenfall vor kurzem am Fährhafen in Schleswig-Holstein gezeigt, als nur das schnelle Reaktionsvermögen des Kapitäns der Fähre dafür sorgte, dass Wirtschaftsminister Habeck der wütenden Meute entkam. Beobachter hatten die Stimmung unter den aufgebrachten Bauern und anderen so geschildert, dass man dem Grünen Minister nicht nur die Meinung sagen wollte, sondern dass da Gewalttätiges hätte passieren können. Protest ist gut, aber er darf nicht in Hass ausarten. Und wenn gelegentlich wieder mal ein Galgen gezeigt wird bei einer Demo mit einem Foto eines Politikers, so sollte man Strafanzeige stellen. Der Täter muss sich verantworten. Eine laxe Bemerkung, wie man sie von CDU-Chef Friedrich Merz dazu hörte, die Aggression sei „nicht in Ordnung gewesen“ , reicht jedenfalls überhaupt nicht. Solidarität sieht anders aus. Derartige Angriffe sind gegen die Repräsentanten der Politik gerichtet, nicht nur gegen die SPD, den Kanzler, den Wirtschaftsminister, sondern gegen alle, auch gegen die CDU und die CSU. Sie sind Ausdruck der Verachtung, mit der das politische System verunglimpft werden soll, um es eines Tages sturmreif zu schießen.
„Die Rechtsextremisten greifen unsere Demokratie an“ So hat es der Kanzler gesagt. Sie attackieren „unsere Demokratie und wollen den Zusammenhalt zerstören. Das, was wir gerade erleben, geht uns alle an“, hat der SPD-Regierungschef betont, „jede und jeden von uns“. Und Olaf Scholz hat Recht. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst findet klare Worte für die AfD: „Sie steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Sie ist keine konservative Partei. Sie ist nicht werteorientiert. Die AfD ist eine Nazi-Partei.“ Und deshalb braucht es den Aufstand der Anständigen, der Demokraten. Friedlich.