Ein Forschungsprojekt des Hessischen Instituts für Landesgeschichte widmet sich zurzeit der Geschichte und Funktion von in Hessen gelegenen Zwischenlagern für die sogenannte „Tötungsanstalt“ Hadamar in Mittelhessen. Es geht um die Erinnerung an das Schicksal der über 70 Tausend Menschen mit geistigen, seelischen und körperlichen Behinderungen, die allein zwischen November 1940 und August 1941 über Zwischenanstalten in die sechs über das Reich verteilten Tötungsanstalten Hadamar, Grafeneck, Bernburg, Pirna-Sonnenstein, Brandenburg und Hartheim gebracht und dort mit Kohlenmonoxid vergast wurden. Ihre Leichen wurden verbrannt. Dies geschah im Rahmen der zentral aus Berlin, genauer aus einer heute nicht mehr existierenden Villa in der Tiergartenstraße 4, staatlich gesteuerten und nach diesem Standort benannten „Aktion T4“. Allerdings wuchs im Laufe der unmenschlichen und verbrecherischen Aktion das Wissen in der Bevölkerung um die Maßnahmen, dafür sorgten die Bustransporte im Umfeld der Anstalten und der Rauch der Krematorien ebenso wie die Todesmeldungen und -anzeigen in den Herkunftsorten der Opfer. Nach dem Abbruch der Aktion – der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, hatte am 3. August 1941 öffentlichkeitswirksam gegen die Tötung „unwerten Lebens“ gepredigt – wurden die Kranken nicht mehr direkt ermordet, sondern insbesondere in den Zwischen- und den Tötungsanstalten bewusst und systematisch durch mangelnde Ernährung oder medikamentöse Überdosierung getötet. In der Berliner Tiergartenstraße befindet sich heute dort, wo bis 1945 die Schaltzentrale für diese staatlich veranlassten Aktionen stand, ein Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde.
Nach wie vor ist das Thema der Verstrickungen der entsendenden psychiatrischen Anstalten und Kliniken in die Politik des Rassenwahns der NS-Machthaber nur unbefriedigend erforscht. So verständlich es ist, dass sich zwei bis drei Generationen nach dem Ende des Dritten Reichs das Schicksal der meisten Patienten dieser Einrichtungen nicht mehr nachvollziehen beziehungsweise aufklären lässt, so unverständlich ist oft auch die Zögerlichkeit, mit der einzelne Institutionen ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten. Die Todesursache vieler Patienten in den psychiatrischen Anstalten wird heute nicht mehr zweifelsfrei zu klären sein, aber häufige Einträge in den Sterberegistern wie „Manie“ oder „Schizophrenie“ lassen Schlimmes vermuten. Diese ungeklärten Fälle bleiben eine schwere Belastung für die jeweiligen Anstalten. Das darf allerdings kein Grund für die mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte sein.
Auch die Heil- und Pflegeanstalt in Düsseldorf-Grafenberg war eine der Zwischenanstalten, über die Transporte aus dem Rheinland in die hessische Tötungsanstalt Hadamar abgewickelt wurden. Die Zwischenanstalten sollten dazu dienen, das Mordprogramm möglichst effektiv zu organisieren und zu verschleiern. So fungierte Grafenberg als kurzfristige Zwischenstation für vier Frauen und zwei Männer, die im Februar 1941 aus den beiden psychiatrischen Anstalten in Neuss nach Hadamar gebracht und dort Opfer des Systems wurden. Dies geht aus dem Gedenkbuch des Bundesarchivs für die „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“ hervor. Die dort dokumentierten Einzelfälle von Morden an Jüdinnen und Juden aus dem katholischen St.-Josefs-Krankenhaus der Neusser Augustinerinnen und aus der Heil- und Pflegeanstalt der Laienbruderschaft der Alexianer belegen, dass sich auch die psychiatrischen Anstalten in privater bzw. konfessioneller Trägerschaft der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht entziehen konnten.
Zu den jüdischen Euthanasieopfern aus Neuss gehörte die Kölnerin Gella Falk (geb. 1879), über deren Familie deshalb etwas bekannt ist, weil sie die um zwölf Jahre jüngere Schwester des Juristen und liberalen Kölner Politikers Bernhard Falk (1867-1944) war. Bernhard Falk wurde im März 1867 als Sohn jüdischer Eltern in Bergheim/Erft geboren, wo sich seine Vorfahren im 18. Jahrhundert niedergelassen hatten. Sein Vater Salomon war von Beruf Metzger und gehörte zu den arrivierten jüdischen Familien in Bergheim, wo er, wie vorher auch schon sein Vater, mit kurzen Unterbrechungen zwischen 1857 und 1870 Vorsteher der jüdischen Gemeinde war. Bernhard Falk ging zum katholischen Apostelgymnasium in Köln, studierte Jura in Bonn, arbeitete als Anwalt und engagierte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Nationalliberalen Partei. Er wurde 1908 Stadtverordneter in Köln, zu der Zeit, als Max Wallraf dort Oberbürgermeister und Konrad Adenauer Beigeordneter waren. 1917 unterstützte er als Vorsitzender der liberalen Fraktion maßgeblich die Wahl Adenauers zum Kölner Oberbürgermeister. Neben seiner Tätigkeit im Kölner Stadtrat bekleidete er in der Weimarer Republik verschiedene politische Ämter, so war er 1919 und 1920 für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und von 1924 bis 1932 Abgeordneter im Preußischen Landtag. Auch war er Vorstandsmitglied des Preußischen Städtetags und Vorsitzender seiner Partei in der Rheinprovinz. In der NS-Zeit verlor er seine Ämter und floh im März 1939 nach dem Verlust seiner Zulassung als Anwalt mit seiner Frau Elise nach Brüssel, wo er verarmt im Dezember 1944 starb, kurz nach der Befreiung der Stadt durch die Alliierten. Seine Frau wanderte in der Folgezeit nach Brasilien aus.
Aus der Literatur über ihren prominenten Bruder geht nichts über das Schicksal von Gella Falk hervor und warum sie in der Neusser Heil- und Pflegeanstalt der Augustinerinnen war. Ebenso wenig findet sich über drei weitere jüdische Frauen, die sich mit ihr zusammen in Neuss befanden, nämlich die aus Wuppertal-Barmen stammende Edith Flora Goldberg (geb. 1902), die ursprünglich aus Würzburg kommende Jenny Kahn (geb. 1858) sowie die aus Mülheim an der Ruhr gebürtige Karoline Wolf (geb. 1892). Sie wurden offensichtlich gemeinsam mit Gella Falk am 12. Februar 1941 von Neuss nach Düsseldorf-Grafenberg und von dort nach Hadamar gebracht, wo sie am 14. Februar 1941 dem nationalsozialistischen Euthanasie-Programm und der Aktion T4 zum Opfer fielen.
Auch aus der Heil- und Pflegeanstalt der Alexianer in Neuss wurden nachweislich laut Gedenkbuch des Bundesarchivs zwei jüdische Patienten, und zwar ebenfalls am 12. Februar 1941 über Düsseldorf-Grafenberg nach Hadamar transportiert und dort einen Tag nach den erwähnten Frauen aus dem St.-Josefs-Krankenhaus, also am 15. Februar 1941 umgebracht. Dies waren der aus Hessen gebürtige Lehrer Mendel Moritz Heilbronn (geb. 1889), der zuletzt mit seiner Frau in Düsseldorf gewohnt hatte, sowie Bernhard Silber (geb. 1892), zu dem keine weiteren Informationen vorliegen. An Moritz Heilbronn erinnert ein Stolperstein in der Kaiserswerther Straße in Düsseldorf. Zu vermuten ist, dass die jüdischen Frauen und Männer aus Neuss in einem gemeinsamen Transport nach Düsseldorf gebracht und von dort gemeinsam in den Tod durch Vergasung nach Hadamar geschickt wurden.
Vor den Gesetzen und Maßnahmen der Euthanasiepolitik des NS-Staates waren die Anstalten in privater Trägerschaft also nicht geschützt, obwohl es sicherlich Versuche gab, sich dem zu entziehen. Sehr bedauerlich ist, dass über die einzelnen Patienten, die in den Tod geschickt wurden, vor Ort meistens nichts mehr herauszufinden ist, weil die Krankenakten mit auf den Transport gegeben werden mussten. Auch dies diente offensichtlich der Verschleierung derartiger Aktionen. Es gibt aber durchaus Belege dafür, dass den Verantwortlichen in den psychiatrischen Anstalten, beispielsweise in Neuss, klar war, wohin die Reise ging, nämlich in den Tod.
Die hier erkennbare dunkle Seite der Geschichte der psychiatrischen Kliniken in privater Trägerschaft erfordert weitere Aufhellung. Zu den beiden Anstalten in Neuss steht dies noch aus. Ebenso verdienen die Reaktionen und der Widerstand im kirchlichen und religiösen Kontext vertiefte Untersuchungen. Dabei stellt die Aktion T4 nur einen – wenn auch äußerst gravierenden – Teilaspekt dar. Das erwähnte Projekt des Hessischen Instituts für Landesgeschichte verspricht neue Erkenntnisse. Zu hoffen ist, dass sich auch andernorts weitere Forschungen anschließen.
Bildquelle: Wikipedia, Dokumentationsstelle Hartheim, CC BY-SA 3.0 DEED