Man hätte es ihm verziehen, wenn er an diesem nasskalten Winterabend im fernen Berlin geblieben wäre. Dort, wo er in diesen Tagen dringend gebraucht wird, der Rolf Mützenich(64), seines Zeichens SPD-Fraktionschef und als solcher Mittler und Vermittler im Dauerstreit zwischen den Koalitionsfraktionen, zwischen SPD, den Grünen und der FDP, zwischen Parteien, die jede für sich den Karren in eine andere Richtung ziehen wollen und damit Politik einer Regierung so schwer verständlich machen. Streit ist das, was die Ampel rüberbringt, was die Medien ihr bescheinigen, nicht die eigentlich gar nicht so schlechte Leistung. Man nehme nur als Beispiel, dass diese Ampel uns durch den letzten Winter gebracht hat, keiner musste frieren. Mützenich wird in Berlin gebraucht, vom Kanzler Olaf Scholz, weil der und sein Bundesfinanzminister Christian Lindner(FDP) die fehlenden Milliarden Euro für den Haushalt zusammenkratzen müssen. Von wegen Wumms oder Doppel-Wumms, das Geld ist knapp geworden nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Und die Zeit ist genauso knapp, um das Ganze noch unter Dach und Fach zu kriegen- was in diesem Jahr nicht mehr klappt, wie sich am nächsten Tag herausstellt. Peinlich.
Trotz aller Probleme ist dieser Mützenich nach Unkel gekommen, an den Rhein, wo Willy Brandt, sein großes Vorbild, einst die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat. Und wo man dem großen Sozialdemokraten und Friedensnobelpreisträger ein Denkmal gesetzt hat mit dem Museum Willy-Brandt-Forum, das 2011 von einer gemeinnützigen Bürgerstiftung in Unkel ins Leben gerufen wurde.
Fast entschuldigt sich Rolf Mützenich bei den zahlreichen Gästen, weil er nur eine Stunde Zeit hat für einen Vortrag und die Diskussion. Er muss noch am Abend zurück in die Hauptstadt, der Flieger geht ab Frankfurt. Es ist eine nervöse Zeit, ruhelos, geprägt durch Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die Haushaltskrise, die Debatten darüber, wie lange die Ampel-Koalition noch hält, ob es Neuwahlen geben wird, wie die weitere politische Entwicklung der Bundesrepublik aussehen wird. Ausgerechnet im Jahr 75 seit der Verkündung des Grundgesetzes lebt der Rechtsextremismus in Europa auf, auch in Deutschland, wo die AfD in allen Parlamenten sitzt und immer stärker wird. Sie könnte bei den Landtagswahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen stärkste Fraktion werden. Droht aus dem Nie-Wieder ein Schon-Wieder zu werden?
Zeitenwende ist sein Thema
Zeitenwende hat Rolf Mützenich, der Friedenspolitiker, sein Thema überschrieben. Zeitenwende hatte der damals noch neue Kanzler Scholz seine Regierungserklärung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine genannt. Der Krieg Russlands gegen den Nachbarn und früheren Bruderstaat Ukraine bedeutete in Europa eine Zeitenwende und die Politik sah sich gezwungen zu handeln. Scholz verkündete zur Überraschung vieler-auch Mützenich war nicht informiert- das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr, um sie wieder verteidigungsfähig zu machen. Heruntergekommen war sie unter der Kanzlerin Angela Merkel(CDU) und den Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsministern von der CDU und CSU, nichts funktionierte mehr, was aber nicht weiter diskutiert wurde, weil man ja an den ewigen Frieden glaubte. Friedens-Dividende hieß ein nettes Stichwort, man gab das Geld für anderes aus und sparte beim Militär. Und ausgerechnet ein SPD-Kanzler wie Olaf Scholz, der den Dienst an der Waffe beim Bund verweigerte und Zivildienst leistete wie übrigens alle Minister seines Kabinetts mit Ausnahme von Lindner, musste diese Wende verkünden, zu der auch gehörte, dass der jährliche Wehr-Etat auf mindestens 2 Prozent vom Bruttosozialprodukt angehoben werde. Was zig Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr bedeuten wird, Geld, das irgendwo anders gestrichen werden muss. Aufrüstung statt Abrüstung. Wegen Putin, dem Kriegstreiber aus Moskau.
Frieden und Freiheit betont der SPD-Fraktionschef mit seiner dezenten Stimme, die aber für mehr Aufmerksamkeit sorgt, weil der sonst übliche Lärmpegel sich in Ruhe verwandelt. Man hört ihm zu, eine Eigenschaft, die auch Mützenich auszeichnet, der zwar auf dem Podium steht und redet, aber nicht von oben herab. Der Mann ist bei den Zuhörern, auf Augenhöhe. Frieden und Freiheit gehören halt in Unkel dazu, zu Willy Brandt, der mit Egon Bahr einst die Entspannungspolitik entwarf und die legendäre Formel „Wandel durch Annäherung“. Verantwortlich für den Krieg, den Überfall sei Russland, Präsident Putin, betont Mützenich. Er wird dabei nicht lauter oder schärfer, er stellt nur klar. Ob diese Entspannungspolitik nun gescheitert ist? Ich würde das nicht so nennen, nur weil Putin die Welt getäuscht hat. Die Abrüstung damals war doch richtig, die Entspannung auch, sie sorgte für mehr Diplomatie im kalten Krieg. Brandt, Bahr, Wischnewski, der Kölner SPD-Politiker, in dieser Reihe muss man Mützenich sehen. Ihn verwundert, so drückt er sich an diesem Abend aus, die aufgeheizte Debatte in der Republik über Waffenlieferungen an die Ukraine. Manchen konnte es gar nicht schnell genug gehen mit Waffen, Raketen, Munition, der Eindruck kam auf, als wollten sich bestimmte Abgeordnete der Grünen und der FDP selbst in den Panzer setzen, um diese militärischen Geräte möglichst schnell nach Kiew zu transportieren. Mützenich war da eher ein Bremser, weil er überlegte, sachlich, ruhig, den Gedanken an die Diplomatie nie aus den Augen verlor. Übrigens wie der Kanzler, der von der Opposition deswegen gescholten wurde. Ich war froh, dass beide so zurückhaltend waren, dass Mützenich erst spät in die Ukraine reiste, um sich ein Bild zu machen. Auch Olaf Scholz ließ dem „Schattenkanzler“ Merz den Vortritt, damit Bilder vom CDU-Chef im Kriegsgeschehen in Kiew die deutsche Öffentlichkeit erreichten. Billige Propaganda.
Der globale Süden
Dass es ein Bruch des Völkerrechts war und ist, darüber muss man mit Mützenich nicht streiten. Das steht fest, was aber nicht bedeutet, dass dieses Unrecht Russlands in der übrigen Welt auch so eingestuft wird wie bei uns. Der globale Süden hat seine eigenen Zeitenwenden, so kann man Mützenich verstehen. Deren Probleme mit dem veränderten Klima, der täglichen Sorge ums Überleben, kein Wasser, kaum Essen, eine Behausung, wenn es hoch kommt, die aus Brettern und Lappen besteht. Wer so leben muss, den bekümmert das Unrecht der Ukraine nicht, weil er selber andere Sorgen hat. Europa ist nicht die Welt. Zuhören im Ausland, nicht von oben herab wie ein Schulmeister mit anderen Präsidenten reden, zu ihnen fahren, um sich auszutauschen, das macht Olaf Scholz seit seinem Regierungsantritt und das macht er richtig. Findet auch Mützenich, zumal er ähnlich handelt und verhandelt und mal eben nach Argentinien fliegt, um sich ein Bild zu machen. Nicht um denen klar zu machen, wie sie zu leben hätten. Der globale Süden, das Bild hatte im übrigen der an diesem Abend mehrfach genannte Willy Brandt in seiner Zeit als Kanzler und SPD-Chef bemüht, weil er den Nord-Süd-Konflikt auf Europa früh zukommen sah. „Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede“, lautet einer der Kernsätze Brandts.
Dieser Krieg verändert mehr- auch für uns. Die sozialen Herausforderungen, die mit der beschleunigten Energiewende verbunden sind, sind riesig. Die Folgen für die internationale Politik ebenso. Wer Corona nicht vergessen hat, weiß um die globale Verknüpfung. Wir in Europa sind nur sicher, wenn auch alle anderen Gesellschaften sicher sind. Die Klagen über die Migration sind das eine, aber das andere ist auch, dass wir Zuwanderung brauchen, Facharbeiter, Ingenieure, Krankenpfleger, Ärzte, Sanitärer, Handwerker, und und und. Wie kriegen wir das passend gemacht? Mit einer Kampagne gegen die bösen Flüchtlinge, die in unsere sozialen Sicherungssysteme einwandern, wie das Friedrich Merz und Markus Söder gesagt haben, kaum. Ob einer wie Rolf Mützenich eine Lösung parat hat, das würde er von sich nie behaupten. Er würde das Gespräch suchen mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit der Opposition, mit den Kirchen, den Gewerkschaften.
Der Nahost-Krieg und die schier ausweglose Situation macht auch einen wie Rolf Mützenich illusionslos. Weil, wenn man ehrlich ist, nirgendwo eine Lösung in Sicht ist. Natürlich verurteilen wir den tödlichen Angriff der Hamas auf die israelischen Siedler im Westjordanland mit über 1000 Toten und abscheulichen Verbrechen an Frauen, Kindern und Alten, verurteilen wir die Geiselnahme von über 200 Menschen durch die Hamas, die sie teils als Schutzschilde nehmen gegen die militärischen Angriffe der Israelis. Das heißt aber nicht, dass wir die Angriffe, die Israels Premier Netanjahu auf den Gaza-Streifen fährt, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung gutheißen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist das mindeste, was man von Netanjahu fordern muss. Die Würde des Menschen gilt für alle, für Christen, Juden, Moslems. Oder wie es die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer gesagt hat: In allen Menschen fließt Blut, es gibt kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut.
Verteidigungsfähig, nicht kriegstüchtig
Friede ist kein Zustand, Friede ist ein Prozess. Sagt Rolf Mützenich, der immer wieder die Rolle der Diplomatie betont, auch wenn der Krieg in der Ukraine dadurch nicht verhindert werden konnte. Und doch muss der Weg weiter gegangen werden, damit irgendwann die Waffen schweigen. Und natürlich muss Scholz mit Putin, dem Kriegstreiber reden, um auszuloten, ob es eine Möglichkeit für einen Waffenstillstand gibt, für Gespräche. Erneut zitiere ich Willy Brandt: Wo geredet wird, wird nicht geschossen. Der Friede ist nicht alles, aber ohne Friede ist alles nichts. Oder Gustav Heinemann: Der Frieden ist der Ernstfall. Weiß Gott. Einer wie Mützenich diskutiert nicht darüber, ob wir die Wehrpflicht wieder aktivieren sollten, er redet nicht leichtfertig darüber, dass wir wieder kriegstüchtig werden sollten, wie es der heutige Verteidigungsminister Pistorius vor kurzem getan hat. Verteidigungsfähig ist das Wort, das er gebraucht. Und natürlich, muss man fast betonen, fordert der Kölner Sozialdemokrat auch nicht eine nukleare Abschreckung auf deutschem Boden, wie das der frühere Grünen-Außenminister Joschka Fischer gerade getan hat. De-Eskalation ist eher sein Stichwort, Entspannung, Frieden.
An einer Stelle wirkt er sehr ernst. Da nimmt er quasi als Vergleich zum Ukraine-Krieg das Wort Verdun in den Mund. Verdun, das war der schreckliche Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg. Da lagen sich französische und deutsche Soldaten jahrelang gegenüber und knallten sich gegenseitig ab. Wer einmal in Verdun war und das Monument des Krieges, des Schreckens, des Todes besichtigt hat, wird das nicht vergessen. Später gaben sich in Verdun Helmut Kohl und Francois Mitterrand die Hand. Ob der Ukraine-Krieg so lange dauern wird? Zumindest an ein schnelles Ende ist jetzt nicht zu denken. Und wie er ausgehen wird, dieser Krieg? Der Kanzler hat mal gesagt, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen. Um klar zu machen, dass Putin nicht Appetit auf weitere Kriege bekäme, um seinen Traum von der Wiederherstellung des russischen Weltreiches zu realisieren. Das wäre der Albtraum für den Westen. Ein Stellungskrieg, jahrelang, mit Waffen, Toten, Verwüstungen des Landes, die heute schon immens sind. Wiederaufbau müsste das Stichwort heißen und nicht weitere Zerstörung. Die Ukraine will nicht zurück unter russische Knute, Putin will die Osterweiterung der Nato zurückdrehen. Im Februar dauert der Krieg schon zwei Jahre, bezieht man die Besetzung der Krim durch russische Truppen am 20. Februar 2014 mit ein, sind es bald neun Jahre.
Einst galt Rolf Mützenich nur als Notlösung. Heute ist er längst zur wichtigsten Stütze des Kanzlers geworden. Gerade in dieser komplizierten Koalition aus drei Parteien. Dabei ist er nicht unbedingt ein Freund des Kanzlers. Aber der Kölner, der aus einer Arbeiterfamilie stammt, der in keine Talkshow geht, der bescheiden wirkt und nicht den großen Auftritt braucht, ist loyal zum Regierungschef, der genau weiß, wie beliebt Mützenich in der Fraktion ist. Man schätzt ihn, auch weil er nicht den großen Zampano spielt, sondern für jeden Abgeordneten zu sprechen ist. An diesem Abend würdigt er die neue, junge und bunte Fraktion in Berlin, weist auf einen jungen Sozialdemokraten hin, der gerade in sein Blickfeld gerät. Das ist unsere Zukunft. Sagt der Chef und wirkt dabei ziemlich zufrieden, fast fröhlich. Niemand merkt, ob die Unruhe, die in seine Fraktion eingezogen ist wegen der miserablen Umfragewerte, weil viele Genossen um ihr Mandat nach der Wahl 2025 bangen müssen, ihn belastet. Und das alles kurz vor dem Parteitag der SPD in Berlin, bei dem manches auf dem Spiel steht. Nicht er selbst, er ist gerade mit 95 Prozent wiedergewählt worden. Rolf Mützenich ist der ruhende Pol. Er ist der am längsten am Stück amtierende Fraktionschef der SPD seit 32 Jahren, seit Hans-Jochen Vogel. Und in aller Bescheidenheit sagt er über sich, inzwischen würde er sogar öfter auf der Straße erkannt.
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