Viel ist vor dem heutigen Besuch Erdogans in Deutschland über das „Für und Wider“ geschrieben und spekuliert worden. Manchmal hatte man den Eindruck, es gehe wie im antiken Rom bei dem Anrücken Hannibals um den Schreckensruf „Erdogan ante Portas“. Sicher ist, der größte Staatenlenker aller Zeiten verbreitet Unbehagen und Unruhe, wann und wo er auftaucht und spricht.
Der Mann hält nicht nur die Hamas für eine Art Freiheitsorden, sondern zieht auch den Gründungsakt Israels vor 75 Jahren in Zweifel. Nun ist die Türkei auch gerade erst 100 Jahre alt und in ihrer Gründungsphase durch besondere Brutalität bei der millionenfachen Vertreibung der Festlandsgriechen sowie der Endlösung der Besiedlung von Teilen des neuen Staates mit Armeniern hervorgetreten. Auc h die Verhinderung einer kurdischen Staatsgründung, die den Kurden von den Alliierten in Aussicht gestellt war, gehört zur Erfolgsgeschichte der jungen türkischen Republik. Der Schriftsteller John Dos Passos, der 1921 den Orient mit dem Zug bereist hat, beschreibt all dies als unbestechlicher Augenzeuge. Die Lektüre seines Reiseberichts „Orient-Express“ ist gleichsam eine noch heute gültige Bestandsaufnahme der Problemlagen in der Türkei. Deutlich aufgezeigt werden dort die Zentrifugalkräfte aus dem ungewollten Beieinander der dominierenden Ethnien und des militanten politischen Islam, die sich nicht geändert haben. Darin hat das Auftreten und die Politik Erdogans, die immer eine starke innenpolitische Komponente hat, ihre Wurzeln.
Man kann vor diesem Hintergrund trefflich darüber streiten, ob die Türkei wirklich Bindeglied zwischen Orient und Okzident sein kann, ob mit oder ohne Mitgliedschaft in der EU. Erdogan stilisiert den politischen Islam zur staatserhaltenden innenpolitischen Wirkungsmacht. Dabei nimmt er außenpolitischen Schaden in Kauf, der gerade jetzt durch seine einseitige Positionierung im Gaza Konflikt sichtbar ist. Wer sich so gegen alle Sachlagen festlegt, kann kein Vermittler mehr sein und büßt jede Glaubwürdigkeit ein. Dies wird im Verhältnis zu Europa und den USA zu Konsequenzen führen. Sicher wird Erdogan bei seinem heutigen Besuch in Deutschland wieder seine Rolle in der Flüchtlingspolitik ins Spiel bringen, um damit Wohlverhalten zu erzwingen. Wehrlos gegenüber solchen Erpressungsversuchen ist weder Deutaschland noch die EU insgesamt. Wirtschaftlich ist die Türkei abhängig vom Westen. Und ohne Lieferung von militärischen Ausrüstungsgütern aus den USA und Deutschland, ist die türkische Armee ein Papiertiger. Schon jetzt gibt es durch die Weigerung der USA, F 35 Kampfbomber oder wenigsten die F 16 in der modernen Fassung zu liefern, beträchtliche Lücken in den Fähigkeiten der türkischen Streitkräfte. Durch den Ankauf des russischen Luftabwehrsystem S 400 statt des amerikanischen Systems Patriot hat Erdogan sich zwar Putin zum Freund gemacht, aber damit einen Teil seiner Bündnisfähigkeit verloren. Auch seine unwürdigen Kapriolen bei dem Beitritt Schwedens zur Nato dürften nicht ohne Folgen bleiben.Die Grenzen seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit stehen mit den ungelösten Fragen im Zusammenhang mit der starken kurdischen Minderheit immer unausgesprochen im Hintergrund. Hier ist er auf eine wohlwollende Neutralität des Westens angewiesen. Die Liste von Erdogans Querschüssen ist lang, zu lang, um sie noch ungebremst aufstocken zu können. Kanzler und Bundespräsident werden ihm wohl bei den aktuellen Gesprächen Warnsignale setzen, die er besser nicht übersieht.