Nach seinem Rückzug aus dem Berliner Literaturbetrieb wurde Robert Walser das Spazierengehen zu einer regelrechten Passion. Ich hätte ihn gern einmal dabei begleitet. Vielleicht wäre eine Begegnung wie folgt verlaufen: In Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich festgestellt, dass es eine regelrechte ‚Spaziergängerliteratur’ gibt, in die man Sie auch einreiht. Wie sehen Sie das? Für die meisten Menschen ist das Spazierengehen eine Form der Freizeitgestaltung und Erholung. Bei mir wurde es zu einer ‚Konstante meines Lebens’. Dafür gibt es viele Gründe. Schon in meiner Jugend liebte ich das Wandern, suchte die Begegnung mit der Natur und scheute mich nicht vor großen Entfernungen. Ich hatte stets ein nahes Verhältnis zur Natur. Dieses wurde durch frühe Wanderungen ausgeprägt. Die Umgebung meiner Geburtsstadt bot mir für Spaziergänge eine Fülle von Möglichkeiten. Später führten häufige Stellen- und Wohnungswechsel dazu, dass ich mir meine neuen Umgebungen vertraut machen musste. Ich ging einer Anstellung nur so lange nach, bis ich genügend Geld hatte, um einige Zeit lang als Dichter zu leben. Dieses ‚Nomadenleben’ führte ich zehn Jahre lang. Mit einer Reise nach Berlin, wo ich längere Zeit blieb, änderte sich mein Lebensstil und ich war nunmehr fest entschlossen, nur noch ausschließlich von meiner Prosa zu leben, was mir auch mehr schlecht als recht gelang. Kann man sagen, dass die ‚Spaziergängerthematik’ in gewisser Weise Ihr gesamtes Werk durchzieht und insofern ständig einen ‚Bedeutungszuwachs’ erfährt und schließlich zu einem ‚Leitmotiv’ Ihres Schreibens wird? Das kann man so sagen. Zuerst ist das Spazierengehen noch als einfaches Vergnügen anzusehen oder als notwendige Bedingung für meine vielen Ortswechsel; dann entwickelt es sich allmählich zum Mittel für das geistige Überleben, zum Kommunikationsmittel mit der Außenwelt und schließlich zum literarischen Thema. Wenn Sie sich meine Biografie anschauen, scheint eine geradezu ‚schicksalhafte Disposition zur ruhelosen Unstetigkeit’ typisch für mich zu sein. Im ‚Typus des Spaziergängers’ wird die Verquickung zwischen poetischen Motiven und persönlicher Passion besonders deutlich. Das erklärt vielleicht auch, dass Sie ein ausgesprochen ‚assoziativer Erzähler’ sind, wenn ich das so sagen darf. Ihr Schreiben organisiert sich nicht über eine ‚Handlung’, sondern durch den ‚Schreib- und Erzählvorgang’ selbst. Sie rücken das scheinbar ‚Beiläufige’ ins Zentrum Ihres Schreibens, das dann auch ‚ wie nebenbei’ erwähnt wird. Darin sehe ich den Unterschied zur literarischen Figur des ‚Flaneurs’. Der Flaneur ist ein Produkt der modernen Großstadt, der sich mit deren neu geformten Lebensweisen auseinandersetzt: mit Industrialisierung, Verkehr, Hektik, Lärm, kurzum: er macht ständig Schockerfahrungen, die er reflektiert. Er beobachtet und wird beobachtet und ist sich dessen bewusst. Flanieren ist für ihn eine Art ‚Lektüre der Straße’, in der alle Eindrücke, von Straßencafés bis zu Personen, die einem mit der vorbeilaufenden Bewegung auffallen, sich wie in einem ‚Heimkino’ im Kopf zusammensetzen. Ausgangspunkt und Endpunkt des Spaziergängers sind immer gleich; er macht eine Art ‚Rundgang’, der sich auch in einer gleichsam zentrifugalen Erzählbewegung ausdrückt. Obwohl er scheinbar ziellos in der Natur umhergeht, sind es oft die gleichen Wege, auf denen er sich bewegt. Er bleibt immer in überschaubaren Bahnen; das unterscheidet ihn vom ‚Wanderer’. Der Spaziergänger sucht die Ruhe; für ihn ist das Spazieren ein Ritual, um sich zu beruhigen und auszuspannen. Kann man sagen, dass bei Ihnen mehrere Traditionslinien der literarischen Figur des Spaziergängers zusammenlaufen? Es gibt Anklänge an den ‚romantischen Typ’; aber durchaus zeittypisch hat er auch Eigenschaften des ‚Flaneurs’; sogar Merkmale des ‚Vagabunden’ gibt es bei Ihnen. Man könnte also meinen, dass sich in Ihren Texten einige ‚Spaziergängertraditionen’ aufspüren lassen. In den Erzählungen, die ich unter dem Titel ‚Der Spaziergang’ veröffentlicht habe, werden in der Tat Textstellen aus Vorgängerwerken anderer Autoren zitiert. Ich versuchte, die verschiedenen Spaziergängertexte über ihre jeweiligen stilistischen Besonderheiten hinaus, miteinander ins Gespräch zu bringen. Das narrative Modell ‚Spaziergang’ produziert offensichtlich Texte, die bestimmte Familienähnlichkeiten aufweisen und es reizte mich, eine Art ‚Korrespondenz’ zwischen ihnen herzustellen. * Interessant war für mich, wie sich bestimmte Motive Ihrer ‚Spaziergängerliteratur’ in Ihren späteren Romanen wiederfinden lassen. Eine gewisse Ruhelosigkeit; das Umhergehen; die ziellose Suche; der scheinbar nutzlose Zeitvertreib; das Unangepasste, bis hin zu einer dezidiert anti-bürgerlichen Lebenseinstellung. In Ihrem Roman ‚Der Räuber’ schildern Sie einen Außenseiter, dem es nicht glückt, ‚sich der bürgerlichen Ordnung brav anzuschmiegen‘, wie es da heißt. . Er ist ein Zeitgenosse, dem das Entscheidende fehlt, ‚was fürs Leben und seine Gemütlichkeit wichtig ist‘. Er ist ein ‚Nichtsnutz‘, der sich in die Rolle eines ‚Nichtdazugehörigen’ gedrängt fühlt, da er kein Geld besitzt, sich nicht zu arrangieren weiß und es nicht versteht, sich auf allgemein respektierte Weise welches zu verdienen. Obwohl er nichts Unrechtes tut,, provoziert er die Majorität der Angepassten, die sich schon durch sein bloßes Dasein irritiert und verunsichert fühlt. Mein eigenes Spaziergängertum hatte in der Tat nichts mit der gutbürgerlichen Art, die Zeit totzuschlagen, zu tun. Ich wurde oft von meiner Umgebung misstrauisch betrachtet, weil ich keiner geordneten Arbeit nachging. Als Schriftsteller war man mehr oder weniger dieser ‚Nichtsnutz’, der nichts zum Allgemeinwohl beiträgt und bei dem man nie wusste, wie man mit ihm dran war. In meinem ‚Räuber-Roman’ wird dieser Typ schärfer ins Auge gefasst; gewissermaßen als Gegenfigur zur scheinbar wohlgeordneten Bürgerwelt mit ihren eingeübten Ritualen und Rangordnungen. Ihr Roman gilt immer noch als eine Art ‚Geheimtipp’. Er verlangt dem Leser wegen seiner strukturellen und formalen Besonderheiten einiges ab. Sie verwenden alle möglichen Stilmittel: surrealistische bzw. kafkaeske Formulierungen, Briefe, Ansprachen, Dialoge und Lyrismen, die einander in loser Reihenfolge abwechseln und scheinbar wahllos miteinander verwoben werden. Es handelt sich um einen fließenden Text, unterbrochen nur durch eine Vielzahl von Abschweifungen und Einschüben. Dass der Roman immer noch als ‚Geheimtipp’ gilt, ist für mich keine Ehrenbezeichnung. Es ist eher ein Makel. Das bedeutet nämlich, dass er nur für wenige Eingeweihte von Interesse ist. Und in der Tat ist es wohl so, wie Sie sagen: Wegen seiner formalen Unstrukturiertheit, der fehlenden Handlung und der teilweise skurrilen Wortbilder, lässt er viele Leser ratlos zurück, wenn sie den Roman überhaupt zur Hand nehmen. Was verbirgt sich hinter der Figur des ‚Räubers’? Ist er Ihr Alter Ego, eine Art Doppelgänger oder der Schriftsteller selbst, der sich dahinter versteckt? Für jede der Sichtweisen gibt es Belege. Mal heißt es: Ich bin ich und er ist er. Aber dann verschmelzen beide Figuren wieder zu einer, so dass das Wechselspiel von Ich, Er und Wir sich durch den ganzen Roman zieht. Und warum bezeichnen Sie den Protagonisten als ‚Räuber’, wo dieser doch nie etwas Unrechtes tut oder gar gestohlen hat? Und wenn doch, dann sind es keine materiellen Dinge, sondern Landschaftseindrücke, Charaktermerkmale oder Wortfetzen; mithin alles Dinge, die ein Schriftsteller für seine Arbeit braucht. Die Charakterisierung des Protagonisten als ‚Räuber’ ist natürlich eine Provokation. Die Bürger sind es, die jemanden, der keiner Arbeit nachgeht, so wie sie dies verstehen, einen ‚Tagedieb’ nennen. In ihrer verschrobenen Phantasie stellen sie sich vor, er sei einer, der die Herzen junger Mädchen erobert. Dafür gibt es bei uns den Begriff des ‚Herzkäfers’. Der Räuber ist also kein gefährlicher, sondern ein im Grunde guter Kerl. Vom ‚Rauben’ ist also kaum die Rede, denn vor allem sehen wir den Räuber spazieren gehen oder in Gaststätten sitzen oder auf irgendwie manierliche Art gar nichts tun. Aber ihm fliegen die Sympathien der Mädchen zu, weil er ‚anders’ und vielleicht geistreicher und weniger langweilig ist als die meisten seines Alters. Ihr ‚Räuber’ ist fein veranlagt. Er spürt die Ablehnung durch seine Umgebung wohl, macht sich aber kein ‚Gewissen’ daraus. Er verdrängt sie einfach, lässt sie nicht an sich herankommen. Eines Abends trinkt er Tee mit einem dieser gut situierten Bürger, den er noch von früher kennt. Dieser lässt irgendwann, nachdem er den Räuber beäugt und nach seinem Tun ausgefragt hat, wie nebenbei die Bemerkungen fallen: ‚Ja, ja Lieber, wenn man sich verhasst macht, muss man sich nicht wundern’. Vor dieser Zusammenkunft ahnte der Räuber ‚von all dem nichts’. Er hatte gewissermaßen arglos wie ein Kind in seinem Bett geschlafen. Diese Bemerkung hat ihn aufgeweckt. ‚Du, steh auf, es ist Zeit’, bedeutete sie ihm. Und so musste denn natürlich der Räuber aufstehen und da stand er dann. Ab jetzt leistet er auf seine Art ‚ Widerstand’. Nie hatte er subversive Handlungen begangen oder gar revolutionäre Absichten geäußert. Nun verweigert er sich den bürgerlichen Normalitätserwartungen und Gewohnheiten bewusst und bezieht aus seiner selbst gewählten Randexistenz eine Art ‚Überlegenheitsgefühl’. Die bürgerliche Ordnung ist für ihn nicht attraktiv. Man könnte sagen: er ist darüber hinaus, weil er deren Mechanismen nach und nach durchschaut. Einmal heißt es: ‚Man muss schlecht gewesen sein, um ein Sehnen nach dem Guten zu spüren. Und man muss unordentlich gelebt haben, um zu wünschen, Ordnung in sein Leben zu bringen. Erst dann sind die Welt und das Leben rund’. Zu einer Bekannten, einer Bewunderin der oberen Stände, bemerkt er: ‚Sie halten mich ein bisschen für übergeschnappt, und ich bin es ja auch vielleicht. Aber haben Sie das Recht, mich zu durchschauen? Nein, Sie haben nicht das mindeste Recht dazu. Der ganze Wiederaufbau der Zivilisation hängt für jeden Klardenkenden und hauptsächlich für jeden Gefühlvollen von der Heiligsprechung der Herrschenden ab. Haben Sie kein Gedächtnis für das, was diese leisten? Aber was sage ich da in meiner vollendeten Zerstreutheit’? Sein Sarkasmus zeigt, dass der Räuber sich keine Illusionen über den Zustand der Gesellschaft macht. Natürlich spürt er die Verachtung seiner Umwelt, aber darüber ist er erhaben. Man könnte auch sagen, er macht aus der Not eine Tugend. Kann man sagen, dass die zunehmende Distanz zu seiner Umgebung gleichzeitig eine Art Schutz vor Anpassung und Spießertum ist?. Wenn man so will: ein Versuch, seine Identität zu bewahren oder eine solche zumindest zu behaupten? Dieses ‚Spiel mit der Identität’ ist für mich der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Romans. Zu diesem Aspekt möchte ich eine längere Passage zitieren: ‚Vor ihm saß nun also der Herr Doktor, zu dem er sagte: ‚Ich bekenne Ihnen ohne Umschweife, dass ich mich dann und wann als Mädchen fühle.‘ Er wartete nach diesem Wort, wie der Doktor sich äußern würde. Der aber sagte bloß leise: ‚Fahren Sie fort.‘ Der Räuber setzte nun auseinander: ‚So vernehmen Sie denn, hochverehrter Herr, dass ich ganz fest glaubte, ich sei ein Mann wie irgendein anderer, nur dass mir in letzter Zeit an mir aufgefallen ist, dass ich gar keine Angriffs-, keine Besitzlust in mir lodern, weben und aus mir herausdrängen spürte. Dennoch hielt ich mich für einen ganz braven wackeren Mann, für einen durchaus brauchbaren Mann. Ich war arbeitslustig, ohne dass ich allerdings zur Zeit viel leiste. Ihre Ruhe ermutigt mich, Ihnen anzuvertrauen, dass ich glaube, es lebe vielleicht in mir eine Art von Kind oder eine Art von Knabe. Ich besitze ein vielleicht etwas zu fröhliches Inneres, was ja auf mancherlei schließen lässt. Für ein Mädchen hielt ich mich ein paar Mal, weil ich gern schuhputze und weil mich häusliche Arbeiten lustig anmuten. Es hat eine Zeit gegeben, wo ich es mir nicht habe nehmen lassen, einen zerrissenen Anzug eigenhändig auszubessern. Und ich heize immer im Winter die Öfen selber ein, wie wenn sich das ganz von selbst verstünde. Aber ein richtiges Mädchen bin ich natürlich keineswegs. Wollen Sie mich bitte einen Augenblick über alles das Bedingende nachdenken lassen. Vor allem fällt mir da jetzt ein, dass mich die Frage, ob ich etwa ein Mädchen sein könnte, nie, nie, auch nicht einen einzigen Augenblick lang beunruhigte oder mich aus der bürgerlichen Fassung brachte oder mich unglücklich machte. Ich stehe überhaupt keineswegs als Unglücklicher vor Ihnen, ich möchte dies ganz speziell betonen, denn eine geschlechtliche Qual oder Not spürte ich nie, denn es hat mir nie an den sehr einfachen Möglichkeiten gefehlt, mich jeweilen von Andrängungen zu befreien. Eigentümlich, d.h. wichtig für mich wurde die Entdeckung, die ich an mir machte, dass ich in liebliche Lustigkeit hineinkam, wenn ich in Gedanken irgendwen bediente. Natürlich ist diese Art von Anlage nicht alleinbestimmend. Ich frage mich vielfach, was für Umstände, Beziehungen, Milieus für mich maßgebend seien, kam aber zu keinem bestimmten Ergebnis’. Indem der ‚Räuber’ mit seiner Identität spielt und scheinbar belanglose Episoden aus seiner kümmerlichen Existenz schildert, hält er seinem Gegenüber, einem Repräsentanten der bürgerlichen Normalität, den Spiegel vor. Er ironisiert dessen Erwartungen durch ein höchst kunstvolles Verwirrspiel, das sich über den ganzen Roman hinzieht. Zuweilen liest sich das Ganze wie ein Selbstgespräch, das keinen Anfang und kein Ende kennt. Oder ziehen Sie mit Ihren Ausführungen ein bitter-ironisches Resümee Ihres Schriftstellerlebens? Diese Schlussfolgerung überlasse ich Ihnen. Es war in der Tat mein letzter Roman, den ich veröffentlichen wollte. Aber mit dem Schreiben habe ich dennoch nicht aufgehört. Ich war nur nicht mehr darauf aus, meine künftigen Sachen einer anonymen Öffentlichkeit auszuliefern. Ich schreibe nur noch für mich; wenn Sie so wollen: ganz ‚beiseit’.
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