Einen besseren Termin für das Erscheinen seines neuen Romans hätte sich der Bonner Journalist und Autor, Hartmut Palmer, nicht denken können. Denn in seinem Kriminalroman „Abkassiert- Die tödliche Gier der Cum-Ex-Zocker“ wird genau das thematisiert, was gerade vor dem Landgericht Bonn im Prozess gegen den Warburg-Bankier Christian Olearius verhandelt wird. Allerdings vermutet Palmer, dass ein wichtiger Aspekt des Skandals erneut übersehen wird: die verhängnisvolle Rolle, die der Bundesfinanzhof in München bei Cum-Ex spielte. Frage: Was hat Sie bewogen, Cum-Ex in einem Kriminalroman zu verarbeiten? Palmer: Während der Arbeit an meinem ersten Polit-Krimi „Verrat am Rhein“ habe ich ab und zu etwas über den Prozess gelesen, der 2019 in Bonn stattfand, also praktisch vor meiner Haustür. Die Lektüre war anstrengend. Dass es um Kapitalertragssteuern ging, konnte ich gerade noch verstehen. Die meisten anderen Fachausdrücke aber waren mir ein Rätsel. Das fing mit „Cum“ und „Ex“ an. Und ging weiter mit Begriffen wie „Swaps“, „Derivate“ „Dividendenstripping“, „Differenzkontrakte“, „OTC-Handel“ oder „Double Dip“. Die Sprache der Börsianer ist fremd und abschreckend und für juristische Laien wie mich so schwer zu begreifen, dass man am liebsten erst gar nicht versuchte, sie zu verstehen. Frage: Und wie passt eine derart anstrengende und komplizierte Materie in einen Krimi, der die Leute ja unterhalten und nicht anstrengen soll? Palmer: Gute Frage. Ich habe auch eine Weile gebraucht, bis ich begriff, dass die Materie gar nicht so kompliziert, sondern ziemlich simpel ist. Diese angebliche Undurchschaubarkeit war gewollt und ich glaube sogar, sie war Teil des Betrugs. Sie wurde und wird von interessierter Seite immer noch aufgebauscht, um Leute wie zum Beispiel mich davon abzuhalten, der Sache auf den Grund zu gehen. Cum-Ex war ein dreister Milliarden-Diebstahl. Banker und Millionäre haben uns bestohlen, indem sie sich jahrelang Steuern erstatten ließen, die nie gezahlt worden waren. Hinterher versuchten sie mithilfe spitzfindiger Gutachter den Beweis zu führen, der Staat trage die Hauptschuld an dem Diebstahl, weil er die Tür zum Tresor nicht abgeschlossen hatte. Viele sind auf diesen Trick hereingefallen. Frage: Aber ist da nicht etwas Wahres dran? Der Staat hat es den Einbrechern doch wirklich leicht gemacht, die Milliarden zu stehlen. Palmer: Ja, die Bankenaufsicht war schlampig, die Bafin hat versagt, die Berliner Ministerialbürokratie hat den Betrug viel zu lange laufen lassen und die beiden Regierungsparteien, CDU/CSU und SPD, haben, als Cum-Ex endlich auf Druck der Grünen im Jahr 2016 Gegenstand eines Untersuchungsausschusses wurde, jede Verantwortung geleugnet, das ist richtig. Aber das Argument der Cum-Ex-Betrüger, der Staat hätte eine Lücke im Gesetz gelassen und seine Tresore nicht richtig gesichert, wurde – leider erst – 2019 im ersten Bonner Cum-Ex-Prozess auch offiziell als faule Ausrede entlarvt. „Wenn ich morgens das Haus verlasse und vergesse, meine Tür abzuschließen,“ stellte der Vorsitzende Richter Zickler damals klar, „dann ist das zwar leichtsinnig aber noch lange kein Freibrief, dass jemand bei mir einbrechen und mich bestehlen darf.“ Damit waren alle Gutachten, die eine angeblich offene Gesetzeslücke für den Diebstahl verantwortlich machen sollten, Makulatur. Frage: Trotzdem ist es erstaunlich, wie lange sich die Mär von der Gesetzeslücke halten konnte und immer noch hält. Palmer: Ja, das stimmt. Es waren aber nicht nur die pseudowissenschaftlichen juristischen Gutachten, auf die sich der Steueranwalt Hanno Berger und seine zahlungskräftigen Klienten gestützt haben. Die Banken und die international operierende Finanzindustrie hatten einen sehr mächtigen Schutzpatron, den Bundesfinanzhof (BFH) in München. Ohne das Grundsatzurteil, das der Erste BFH-Senat im Dezember 1999 zum Thema „Dividendenstripping“ verkündet und jahrelang hartnäckig gegen Kritik verteidigt hat, wäre der milliardenschwere Steuerraub nicht möglich gewesen. Frage: Das verstehe ich jetzt nicht. Was hat ein BFH-Urteil aus dem Jahr 1999 mit dem Skandal zu tun, der den deutschen Steuerzahler bis zum Jahr 2012 so viele Milliarden Euro gekostet hat? Palmer: Um das zu erklären muss ich einen kleinen Abstecher ins Bürgerliche Gesetzbuch machen. Dort wird der Begriff ‚Eigentum‘ wie folgt definiert: Eigentum ist die Herrschaft einer Person über eine Sache, wohlgemerkt ‚einer‘ Person, wobei es unerheblich ist, ob es sich dabei um eine natürliche oder eine juristische ‚Person‘ handelt. Wichtig ist der Singular. Mit anderen Worten: Es kann eine Sache immer nur einen Eigentümer haben. Wenn ich ein Auto kaufe, dann gehört mir das, wenn ich den Fahrzeugbrief in Händen halte, ganz allein – in der Regel also, nachdem ich bezahlt habe. Das gilt für alles, was gekauft und verkauft werden kann: Häuser, Grundstücke, Firmen etc. Es gilt aber nach dem besagten Grundsatzurteil des BFH nicht unbedingt für Aktien. Die können, so jedenfalls entschied es im Jahr 1999 der Erste Senat des Bundesfinanzhofes, unter bestimmten Umständen gleichzeitig mehrere Eigentümer haben. Frage: Aber das geht doch eigentlich gar nicht. Palmer: Es ging aufgrund dieses verrückten BFH-Urteils jahrelang eben doch. Und das hatte für den Staat fatale Folgen. Die Cum-Ex-Akteure hatten es ja bekanntlich auf eine bestimmte Steuer abgesehen… Frage: … die Kapitalertragssteuer, die dem Aktionär bei der Ausschüttung der Dividende abgezogen wird? Palmer: Genau: diese Gewinnsteuer beträgt in der Regel 25 Prozent, und geht bei der Ausschüttung der Dividende automatisch an das Finanzamt. Unter bestimmten Umständen kann man diese Kapitalertragssteuer zurückbekommen. Zum Beispiel, wenn man im Ausland wohnt. Dann gilt die Bescheinigung, dass man Eigentümer einer Aktie oder eines Aktienpaketes war, bereits als Nachweis, dass die Kapitalertragssteuer einbehalten worden ist. Solange eine Aktie nur einen Eigentümer hat, ist die Sache klar. Wenn die Dividende 100 Euro beträgt, gehen 25 Euro an den deutschen Fiskus. Punkt. Was aber passiert, wenn der in Frankreich lebende Aktionär A seine Aktie kurz vor dem Dividendenstichtag dem britischen Aktienhändler B verkauft, aber erst drei oder vier Tage später liefert oder sie zurückkauft? Wem gehört die Aktie in der Zwischenzeit? Frage: Da sie noch nicht bezahlt und auch nicht geliefert wurde, müsste sie weiter dem ursprünglichen Eigentümer A gehören… Palmer: …ja, nach der Logik des Bürgerlichen Gesetzbuches ist das tatsächlich so. A bleibt weiter Eigentümer. Aber nach der Logik des Bundesfinanzhofes ist auch B schon mit dem Abschluss des Kaufvertrags Eigentümer geworden. Und da beiden der Eigentümer-Status bescheinigt worden ist, können beide auch die Kapitalertragssteuer zurückverlangen, obwohl nur einer, nämlich A, sie bezahlt hat. Der Staat nimmt also 25 Euro ein, muss aber 50 erstatten. Und wenn dazwischen noch die Händler C, D, und E als „Eigentümer“ eingeschaltet werden, erhöht sich diese Summe natürlich. Frage: Aber wenn es doch mehrere Eigentümer gibt, dann müssten doch auch alle die Kapitalertragssteuer zahlen. Palmer: Ja, wenn man konsequent nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch vorgegangen wäre, und jeden zwischenzeitlichen Eigentümer zur Zahlung der Gewinnsteuer verpflichtet hätte, dann wäre das in sich stimmig gewesen. Aber dann hätte sich die Sache für die Betrüger nicht rentiert. Deshalb halten sie sich nur beim Bezahlen der Steuerschuld an das Bürgerliche Gesetzbuch. Beim Vergüten aber berufen sie sich auf das Urteil des Bundesfinanzhofs. Es zahlt also immer nur einer, aber viele kassieren. Auch deshalb sage ich: Der ganze Cum-Ex-Schlamassel wäre ohne dieses verhängnisvolle Urteil und die gesamte banken- und finanzbranchenfreundliche Rechtsprechung des obersten deutschen Finanzgerichts nicht möglich gewesen. Frage: Und diesen Irrsinn hat niemand bemerkt? Palmer: Oh doch, welche Folgen das BFH-Urteil hatte, wurde sehr schnell bemerkt. Nur leider handelte es sich um ein höchstrichterliches Urteil und das konnte man nicht einfach ignorieren. Zumal der Vorsitzende Richter des Ersten Senats seine Entscheidung bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2016 vehement gegen Kritik verteidigte. Auch er sprach immer von einer angeblichen Lücke, die der Gesetzgeber offengelassen habe und war nicht bereit, auch nur einen Millimeter davon abzurücken. Als er später einmal gefragt wurde, warum er die Sache nicht klargestellt habe, erklärte er sich für nicht zuständig. Er habe nicht wissen können, dass sein Richterspruch von Akteuren der Finanzbranche für ihre Zwecke „missbraucht“ werden könne, schließlich sei der Bundesfinanzhof „kein Wahrsager“. Frage: Und damit hat er den Steueranwalt Hanno Berger, der sich jahrelang auf das BFH-Urteil verlassen konnte, im Regen stehen lassen? Palmer: Ja, so kann man das sagen. So sind die Herren mit dem weißen Kragen eben, wenn sie selbst in Schwierigkeiten zu geraten drohen, hauen sie sich gegenseitig in die Pfanne. Das unterscheidet sie von der sizilianischen Mafia, die in Notzeiten immer zusammenhält. Bei Cum-Ex konnte die Finanzbranche lange auf den Richter zählen. Als der 2016 pensioniert wurde, trat er – nun auch offiziell – in die Dienste der Finanzindustrie, die jahrzehntelang von seinem Urteil profitiert hatte. Er wurde ein hochdotierter Berater einer angesehenen Steuer- und Wirtschaftsberater-Kanzlei. Frage: Wenn man heute von Cum-Ex spricht, fällt sofort der Name Olaf Scholz. Welche Rolle spielt der Bundeskanzler in dem Roman? Palmer: Eine kleine, aber typische Nebenrolle. Er hat sich ohne Not in eine Gedächtnislücke geflüchtet, aus der er nicht mehr herauskommt. Wenn er gleich zugegeben hätte, dass er im Jahr 2016 mit dem Chef der Hamburger Warburg Bank gesprochen hat, wäre er heute aus dem Schneider. Dass er sich drei Jahre später daran nicht mehr erinnern könne, hat ihm ohnehin niemand geglaubt. Frage: Warum wäre er heute aus dem Schneider? Palmer: Aus zwei Gründen: Erstens ist es völlig normal, dass sich der Erste Bürgermeister von Hamburg kümmern muss, wenn eine große Traditionsbank seiner Stadt behauptet, sie müsse dichtmachen, wenn sie eine so hohe Summe nachzahlen müsse – damals ging es um etwa 50 Millionen Euro. Schließlich stehen dann immer zig Arbeitsplätze auf dem Spiel und das kann einem verantwortlichen Politiker nicht egal sein. Zweitens war die Rechtslage im Jahr 2016, was heute oft vergessen wird, aufgrund des verrückten BFH-Urteils eben keineswegs klar. Bis dahin waren alle Versuche der Steuerbehörden, Cum-Ex-Geschäfte als kriminellen Betrug zu werten, am Veto des obersten deutschen Finanzgerichts gescheitert. Die Warburg-Bank hätte also, wenn sie vor den Bundesfinanzhof gezogen wäre, durchaus Erfolg haben können. Deshalb wäre es für Hamburg riskant gewesen, sich auf einen Prozess einzulassen. Olaf Scholz hat damals dem Bankchef geraten, seine Argumente dem zuständigen Senator der Finanzen, dem heutigen Bürgermeister Tschentscher vorzutragen. Das war angesichts der unklaren Rechtslage damals richtig und nachvollziehbar. Frage: Aber drei Jahre später, als man Scholz zum ersten Mal nach seinen Kontakten zur Warburg-Bank fragte, nachdem man die Tagebücher des Herrn Olearius gefunden hatte, war die Rechtslage doch klar? Palmer: Richtig, im Jahr 2019 stand fest, dass Cum-Ex eine Straftat und nicht aufgrund einer Gesetzeslücke entstanden war. Das wusste auch Olaf Scholz. Aber warum er plötzlich behauptet hat, er könne sich an seine guten Ratschläge vom Jahr 2016 nicht mehr erinnern, ist mir schleierhaft. Er hätte ohne Not erklären können, dass und warum er als Erster Bürgermeister mit dem Banker Olearius reden musste, nachdem der mit Schließung der Bank gedroht hatte. Wer Scholz kennt, weiß, was für ein exzellentes Gedächtnis er hat. Ich glaube deshalb, dass es richtig ist, was ich in meinem Vorwort geschrieben habe: „Aus Angst, verstrickt und verantwortlich gemacht zu werden, hat er (Scholz) sich in eine Gedächtnislücke geflüchtet, aus der er nicht mehr herauskommt. Man kennt das. Den Kanzler Helmut Kohl zum Beispiel, der in der Flick-Affäre die Unwahrheit gesagt hatte, schützte seinerzeit nur ein von seinem Generalsekretär Heiner Geissler nachträglich behaupteter Gedächtnisverlust (‚Blackout‘) vor dem Kadi oder dem Rücktritt.“ Frage: Wie kommt es, dass die verhängnisvolle Rolle des Bundesfinanzhofes bisher in den Medien nicht thematisiert worden ist? Palmer: Vielleicht liegt es daran, dass die Judikative – im Unterschied zu Politik (Legislative) und Ministerialbürokratie (Exekutive) – hierzulande immer noch in hohem Ansehen steht. Man kann sich nicht vorstellen, dass ein gut bezahlter oberster Richter einseitig zugunsten der Finanzindustrie urteilt und sich dies nach seiner Pensionierung durch einen lukrativen Beraterjob auch noch bezahlen lässt. Zum Glück hat sich das Landgericht Bonn von der höchstrichterlichen Weisheit des BFH nicht einschüchtern lassen und den Raubzug der Millionäre als das bezeichnet, was er von Anfang an war: Organisierte Kriminalität auf allerhöchstem Niveau. Palmer, Hartmut: Abkassiert. Die tödliche Gier der Cum-Ex-Zocker. Gmeiner-Verlag.
Messkirch. 2023. 407 Seiten. 18 Euro. ISBN 978-3-8392-0449-8 Hartmut Palmer: Geb. in Templin, aufgewachsen in Bonn. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Köln und Bonn, seit 1965 gelegentliche, später feste Mitarbeit in der Lokalredaktion der Bonner Rundschau. Ab 1968 Lokal-Redakteur von 1970- 1975 politischer Korrespondent beim Kölner Stadt-Anzeiger (Parlamentsredaktion). 1975 bis 1983 politischer Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Bonn. Von März 1983 bis Dezember 2006 Korrespondent, Reporter und Autor des SPIEGEL in Bonn, Ost-Berlin und Berlin. Seit Januar 2007 freiberuflicher Journalist. Von 2010 bis 2015 Politischer Chefkorrespondent von Cicero. Seit 2015 freiberuflicher Autor mit Wohnsitz in Bonn.
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