Das Wort „Zeitenwende“ wäre an dieser Stelle tatsächlich angebracht – soll aber hier nicht verwendet werden, weil es in den vergangenen Monaten so inflationär genutzt wurde wie einst das Wort „alternativlos“ unter Kanzlerin Merkel.
Und doch birgt die Aiwanger-Affäre um das antisemitische Flugblatt einen politischen Sprengstoff, der weit über die bisherige Bedeutung dieses Rechtsauslegers aus den Alpen hinausgeht: Die „Methode Trump“ ist nun endgültig in Deutschland angekommen – und die Folgen sind noch unabsehbar.
Das zeigt sich bei diesem Skandal wie unter einem Brennglas. Es ist nicht einmal der Inhalt des unsäglichen Pamphlets. Es ist auch nicht der als „Jugendsünde“ verharmloste Kulturbruch des jungen „Hubsi“. Es ist der feige, leugnende Umgang des älter gewordenen Aiwanger mit seiner Geschichte, der in einer halbherzigen „Entschuldigung“ mündete. Es ist, was dann folgte, und was den Umgang mit Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland auf eine völlig neue Stufe stellt.
Denn die Aiwanger-Fans erwarten offenbar nicht eine ehrlich gemeinte, aus tiefstem Herzen und aus fester demokratischer Überzeugung vorgetragene „Entschuldigung“ des Hubert Aiwanger – wenn er denn zu einer solchen überhaupt willens und fähig wäre. Die Anhänger bewundern vielmehr den unverfroren und eiskalt vorgetragenen Gegenschlag des Chefs der Freien Wähler. Wenn Aiwanger sich als Opfer des links-versifften Establishments inszeniert und von „Kampagne“ schwadroniert, von dunklen Mächten und bösartigen Medien, die ihn zerstören , ja „verbrennen“ wollen, dann jubeln ihm die Anhänger nicht nur in den Bierzelten zu. Hubert Aiwanger ist zum Popstar eines rechten Kulturkampfes geworden. „Die da oben. Die da in Berlin. Die da in den Medien.“ Das löst „Hubsi, Hubsi“-Jubelstürme aus.
Dass sich Aiwanger nicht einmal schämt, diese perfide Methode des Kulturkampfes beim Thema Antisemitismus einzusetzen, lässt einen frösteln. Es scheint keine Grenzen mehr zu geben.
Was aber noch weit mehr Angst macht als dieser Tabubruch eines notorisch Rechten, ist die Reaktion vieler Menschen aus der angeblichen Mitte der Gesellschaft, jener Menschen, die Aiwanger so gerne als „normale Bürger“ für sich vereinnahmt. Die Umfragewerte der Freien Wähler und ihres Chefs steigen seit Bekanntwerden der Affäre noch, die Pose des Märtyrers zahlt sich für Aiwanger aus. Unglaublich!
Diese Erfolge Aiwangers zeigen schon Wirkung: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CSU traut sich nicht, seinen Vize in den Senkel zu stellen, weil er fürchtet, viele seiner eigenen Wähler könnten zum richtig Radikalen überlaufen. Und natürlich kann auch CDU-Chef Friedrich Merz der Versuchung nicht widerstehen. „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“, rief er auf dem bayerischen Volksfest – und badete im Jubel der trunkenen Menschen. Bewusst spaltet der Chef einer sich christlich nennenden Volkspartei das Land, um davon zu profitieren.
Das alles ist Donald Trump in Reinkultur. Seit Jahren schauten wir Deutschen ungläubig in Richtung USA und erlebten, wie ein ganz offensichtlich verbrecherischer Politiker, Möchte-Gern-Wahlfälscher und Anti-Demokrat in dem Land wütete – und ihm viele Menschen dennoch oder gerade deshalb zujubelten. Noch bis vor kurzem hielt man das für „typisch Amerika“, etwas, was hier bei uns ja nie passieren könnte. Doch längst hat der rechte Kulturkampf Deutschland erreicht – unbemerkt für viele Politiker und linksliberale Menschen, die ja auch in ihren Blasen leben. Der Kampf gegen jede gesellschaftliche Veränderung hat inzwischen fast militante Züge angenommen. Man brüllt gegen Klimaschutz, ätzt gegen Homosexuelle und queere Menschen, gegen Flüchtlinge und gegen Vegetarier. Völlig egal. Hauptsache: „Alles nicht normal!“.
Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein können Politiker der Versuchung nicht widerstehen, in diesem Lager Stimmen zu fischen. Ein Merz und auch ein Söder heizen den Kulturkampf an – in der trügerischen Hoffnung, der rechtsextremen AfD Stimmen abzujagen. Sie stecken das Land in Brand, um davon zu profitieren.
Doch das ist keine Entwicklung, die man allein der Politik, „denen da oben“, in die Schuhe schieben kann. Diese Demagogie kann nur verfangen, weil viel zu viele „ganz normale“ Menschen ihr folgen.
Nach einem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von der SPD im Jahr 2000 den „Aufstand der Anständigen“ gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus gefordert. Das scheint heute fast undenkbar. Wo bleibt der Aufschrei der Anständigen in der Affäre Aiwanger?
Nein, was wir zurzeit erleben, ist der Aufstand der Unanständigen. Und das sind viele, viel zu viele.