Deutschland, so ist überall zu hören, ist wieder dabei, sich zum kranken Mann Europas zu entwickeln. Schaut man auf die Wachstumsprognosen der Wirtschaft, so ist diese Befürchtung nicht ganz von der Hand zu weisen: Deutschland dümpelt. Doch wie uns ein Blick in die jüngste Geschichte zeigt, ist bei solch einer von Wirtschaftskreisen befeuerten Angst-Diskussion Vorsicht geboten. Es droht – mal wieder – ein neoliberaler Coup.
Irgendwie kommt einem das ganze Szenario nämlich bekannt vor.
So wurde schon Ende der 90er Jahre unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder vor allem aus Wirtschaftskreisen das Schreckgespenst des „kranken Mannes“ (Frauen spielten damals noch weniger eine Rolle als heute) so lange an die Wand gemalt, bis den verunsicherten Bürgern als „Rettung“ teils knallharte Arbeitsmarkt-Reformen präsentiert wurden. Die angeblich zwingend erforderlichen „Reformen“ der rot-grünen (!) Regierung gipfelten im legendären Hartz-IV-Coup. Damals war die Arbeitslosigkeit hoch – und man meinte, die Menschen gerade am unteren Ende der Gesellschaft vor allem mit Härte in den Arbeitsmarkt zwingen oder sie dort halten zu müssen. Die Folge: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über Jahrzehnte im Job waren, fürchteten sich vor Arbeitslosigkeit – weil sie dann fast jeden anderen Job annehmen mussten. Fast gleichgültig zu welchen Bedingungen und zu welchem Lohn. Die Macht der Arbeitgeber wuchs, ebenso der Druck auf die Beschäftigten. Viele der Betroffenen fühlten sich ausgerechnet von „ihrer Partei“, der SPD, verraten. Die Neoliberalen bejubelten Hartz, die SPD aber hat sich von dem Tabubruch bis heute nicht erholt.
Die Folgen der neoliberalen Reformen waren teils verheerend: Zwar sank die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren deutlich – doch zugleich wuchs die Zahl der Billigjobs dramatisch an. Immer mehr Menschen konnten und können von ihren Niedriglöhnen nicht leben, auch der (zu niedrige) Mindestlohn schafft hier nur teilweise Abhilfe. Viele Familien leben trotz zweier berufstätiger Eltern am Rande des Existenzminimums, die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland wird immer größer und ist inzwischen teils obszön.
In diesen Tagen haben wir nun einen neuen neoliberalen Angriff auf unser Sozialsystem erlebt. Endlich hat die Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen die grassierende Armut von Millionen Kindern in Deutschland zum Thema gemacht. Sie hat sich sogar durchaus mutig ihrem FDP-Kollegen und Finanzminister Christian Lindner in den Weg gestellt – und wurde umgehend von ihrer Partei und dem SPD-Kanzler zurückgepfiffen. Machterhalt galt mal wieder als oberste Maxime. Und wieder triumphieren die Neoliberalen. Statt der von Paus geforderten zwölf Milliarden Euro gibt‘s nun nur 2,4 Milliarden mehr – und Lindner kann sein Triumphgefühl angesichts dieser Demütigung des grünen Koalitionspartners nur mühsam verbergen. Und wieder spielt mit Olaf Scholz ein SPD-Kanzler dieses asoziale Spiel mit.
Wie perfide die FDP-Politik ist, sieht man an deren Verachtung gegenüber den betroffenen Armen. Wenn mehr Geld in die armen Familien flösse, so sei es doch sehr zweifelhaft, ob das denn wirklich zum Wohle der Kinder eingesetzt werde, so Lindner. Da sei es doch viel besser, dieses Geld in Kitas und Schulen zu stecken, auf dass die Bildungschancen der unteren Schichten wüchsen. Zudem seien vor allem Migranten dafür verantwortlich, dass die Zahl der armen Kinder nach wie vor so hoch sei, argumentierte der FDP-Chef weiter.
Welch eine Heuchelei, welch ein Zynismus!
Nehmen wir die Argument mal auseinander:
1. Gerade die FDP, die immer wieder fordert, die Privaten könnten besser mit Geld umgehen als der Staat und die deshalb permanent Steuersenkungen fordert, argumentiert hier genau anders herum: Gibt man armen Menschen mehr Geld für ihre Kinder, so können diese damit gar nicht umgehen. Während Porschefahrer Lindner jeden 100-Euro-Schein mehr sicherlich gut anlegt, traut er den armen Eltern nicht zu, sich um das Wohl ihres Nachwuchses zu kümmern. Welch eine Arroganz eines Gutverdienenden.
2. Natürlich ist es richtig, mehr Geld in Kitas und Schulen zu stecken, in Bildung allgemein. Doch wer sagt denn, dass das ein Widerspruch ist. Richtig wäre es, den Eltern mehr Geld zu geben UND mehr Geld in Bildung zu stecken. Das gegeneinander auszuspielen, ist schwer erträglich. Allein: Das Aufmöbeln des Bildungssystems bedürfte, selbst wenn man es ernsthaft anstrebte, vieler vieler Jahre und ungeheurer Anstrengungen, bis es Erfolge zeitigte. Doch gerade von Seiten der FDP war bislang nichts zu hören, wenn es um neue große Investitionen in ein sozial gerechtes Bildungssystem geht. Ein Blick in die maroden Schulen der sozial abgehängten Stadtteile reicht, um die Größe dieser Aufgabe zu erkennen. Es ist keinesfalls bösartig, die Lindner-Worte als wohlfeiles Geschwätz zu bezeichnen. Die FDP denkt allein an die Klientel der Besserverdienenden. Und die hat noch allemal ein größeres Interesse am Ausbau des Elitegymnasiums in ihrem vornehmen Stadtteil als an den Problemschulen in den ärmeren Quartieren.
3. Lindners Argument, vor allem die Migranten seien Schuld an der Kinderarmut, richtet sich selbst. Es könnte genau so von der AfD stammen. Würde Lindner das einer ukrainischen Frau ins Gesicht sagen, die sich und ihre Kinder vor Putins Krieg bei uns in Sicherheit gebracht hat? Doch Scham scheint bei Neoliberalen ebenso unterentwickelt zu sein wie Empathie.
Um auf den „kranken Mann“ zurückzukommen: Mit dem neoliberalen Kurs der FDP wird man die Probleme Deutschlands jedenfalls nicht bekämpfen können. Der Fachkräftemangel wird sich immer stärker zum größten Problem des Landes auswachsen. Dagegen hilft langfristig nur: Bildung, Bildung, Bildung. Für die hier Geborenen wie für Einwanderer. Um das zu erreichen, müssen zunächst Millionen Kinder und ihre Familien mit einer Kraftanstrengung aus der Armut geholt werden. Dazu braucht es den politischen Willen. Doch der fehlt – nicht nur bei den Liberalen.
Das Beispiel der Kindergrundsicherung ist nur eines von vielen, die die fatalen Folgen einer FDP-Regierungsbeteiligung aufzeigen. Ob im Verkehrssektor, bei der Klima- und Umweltpolitik – überfall setzt sich der kleinste Koalitionspartner rücksichtslos durch. Die Partei, die bei Wahlen ständig um ihr Überleben bangen muss, nutzt ihr Erpressungspotenzial als Mehrheitsbeschafferin. Indes gibt es wenig Grund für Mitleid mit Grünen und SPD. Sie wussten, auf was sie sich mit Lindner einlassen. Während sich die Grünen zur Ablenkung mit Verve in Debatten übers Gendern und übers neue Namensrecht stürzen, wird man bei SPD-Kanzler Scholz das Gefühl nicht los, Lindners Linie komme ihm zur Disziplinierung seiner eigenen Partei durchaus recht. Denn Lindner liegt anscheinend gar nicht so weit entfernt vom Scholz-Kurs.
Die kleine und von ihrer Grundausrichtung asoziale FDP wird in Deutschland zunächst weiter entscheidend mitbestimmen. Für Menschen, die sich von einer SPD-geführten Regierung etwas anderes erhofft hatten, eine mehr als bittere Enttäuschung. Eine mit Ansage.
Bildquelle: Wikipedia, Dirk Vorderstraße, CC BY 3.0